Kapitel 9: Der Hohe Paß

 

 

 

„Zum Ausgraben der Räder, wenn sie im Matsch stecken bleiben, wenn das, was sich da im Westen zusammenbraut als Regen herunterkommt!“

 

Die Worte das alten Hobbits sollten prophetischen Charakter annehmen. Bereits am Morgen des nächsten Tages setzte der Regen ein. Der Staub wurde zum Morast und die Weiterfahrt zur Kraftprobe. Herbstliche Gewitterstürme bliesen den Reisenden mit wachsendem Zorn entgegen. Immer stärker wurde das Gefühl, gegen eine unsichtbare Wand anzurennen, und die Ochsengespanne kamen wenn überhaupt nur noch langsam voran. Die eingetauschten Spaten und Hacken machten ihren überhöhten Preis wieder wett, als die schweren Holzräder sich ein um das andere Mal in der Mischung aus Schlamm und Geröll festfuhren.

 

Im Heulen des Sturmes wurde es beinahe unmöglich sich zu verständigen, und so sahen sich die kleinen Leute gezwungen ihre gebrüllten Anweisungen beim Herausstemmen der Räder mit weitausladenden Gesten zu untermalen, was die Angelegenheit ungeheuer in die Länge zog, weil irgendwann jeder mit seinen Armen in der Luft herumwirbelte und keiner mehr arbeitete.

 

Dennoch war die Stimmung im Treck außerordentlich heiter. Selbst Taleras’ Eröffnung, daß ihre Vorräte als Viehfutter dienen sollten sobald sie das Grasland hinter sich gelassen hatten, konnte dem ungeheuren Enthusiasmus des Völkchens nichts anhaben. Nicht einmal als das Gebirge näherrückte, verstummte die gute Laute im Zug.

 

Hatte die Bergkette im Sonnenlicht so freundlich aus der Ferne gelockt, so wirkte sie nun bei dem trüben Wetter düster und bedrohlich. Immer gewaltiger erhob sich das Massiv und streckte seine kahlen, glatten Wände weit in die niedrig hängenden düsteren Wolkenschwaden hinein, die einen Blick auf die Gipfel verwehrten.

 

Der Regen hatte die schweren Wagenplanen niedergedrückt und aufgefüllt wie ein leeres Flußbett. Als Fredoc den triefenden Stoff beiseite hielt um erst seinen Kopf dann sich selbst durch die Öffnung zu schieben, entleerte sich rauschend ein Teil des Wassers über den einsteigenden Hobbit. Er brach in eine bildreiche Schimpftirade aus, zog den Verschlag so schnell wie möglich hinter sich zu und schüttelte sich prustend.

 

„Bitte um Entschuldigung!“ murmelte er verlegen als ihm bewußt wurde, daß er einen leichten Nieselregen durch das Innere des Fuhrwerks geschickt hatte. Er hob zur Verdeutlichung bedauernd die Hand, da seine Worte ungehört im Poltern des Karrens und Donnern des Gewitters verhallt waren.

 

Das junge Mädchen winkte müde ab und trocknete sich mit einer fahrigen Handbewegung Stirn und Wangen.

 

„Wie geht es ihm?“ brüllte Fredoc, um den Lärm zu übertönen.

 

„Unverändert“, schrie Rosilot zurück. Sie hob die kleine Flasche in Höhe der bedenklich schaukelnden und unruhig flackernden Windlaterne und ließ mit einem unzufriedenen Laut die Hand wieder sinken, als diese nicht genug Licht abgab, das trübe Behältnis zu durchleuchten. Prüfend schüttelte sie es. Noch halbvoll.

 

Sie seufzte kraftlos und widmete ihre Aufmerksamkeit erneut ihrem bewußtlosen Patienten, der blaß und hochfiebrig auf den sorgfältig gerichteten Decken lag. Der dunkle Vollbart bildete einen scharfen Kontrast zu seiner bleichen Haut.

 

Fredoc hockte sich an die andere Seite des Freundes und starrte auf das wächserne Gesicht. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Von Zeit zu Zeit wischte Rosilot sie mit einem feuchten Tuch fort und verharrte ansonsten in vollkommener Reglosigkeit. Über ihnen senkte sich die Plane unter dem Gewicht des Wassers herab und Fredoc erhob sich, um sie mit beiden Händen nach oben zu drücken. Ein kurzes Rauschen und Gluckern waren zu hören, dann ein zorniger Ausruf.

 

„Ähm... T’schuldigung!“

 

„Fredoc Gerstenkorn! Entleere deine Plane wohin du willst, aber gefälligst nicht über meinen Kopf! Das ist doch unerhört! Als ob es hier draußen nicht schon naß genug wäre! Da mußt du nicht auch noch ein ganzes Faß Wasser über mich ausschütten!“

 

Lobelia Haferstroh... Die Deutlichkeit, mit der Fredoc jedes einzelne Wort im Inneren des Wagens verstehen konnte, sprach für ihr enormes Stimmorgan. Der junge Mann zog den Kopf immer tiefer zwischen seine Schultern je länger der Wutausbruch anhielt und hoffte, daß Lobelia nicht hereinsteigen würde, um ihre Worte auch noch schlagkräftig zu unterstützen.

 

Das Gezeter hielt eine Weile an und ging dann allmählich, als der größte Ärger verraucht war, im Sturmesbrausen unter.

 

Inzwischen senkte sich die Plane erneut auf die drei im Fuhrwerk herab. Fredoc beäugte sie kritisch, hütete sich aber wohl, diesmal seine Hände nach ihr auszustrecken. Dafür ertönte vom hinteren Wagen das mittlerweile vertraute Rauschen und wurde ebenso von ärgerlichen Ausrufen beantwortet. Dabei machte es eigentlich keinen Unterschied mehr. Naß war schließlich naß. Aber dennoch sträubte sich etwas im Inneren eines jeden aufrechten Halblings gegen diese Extradusche.

 

„Hilfst du mir?“

 

Fredoc wurde aus seiner Beobachtung gerissen. Behutsam hob er auf Rosilots Zeichen Orgonas’ Arm ein kleines Stück an, damit das Mädchen den Verband besser abwickeln konnte. Die Verletzung war nur noch ein dünner Schnitt, von dem sich der Schorf schon zu lösen begann. Rosilot wusch die Stelle ab, mehr um den Schweiß und die Salbenreste zu entfernen, weniger um die Wunde auszuwaschen, die dessen eigentlich nicht mehr bedurfte. Trotzdem strich sie eine neue Lage Kräuterpaste auf und fixierte ein Stück sauberes Linnen mit einem frischen Stoffstreifen. Im Fieberschlaf stöhnte Orgonas auf und seine Augenlider zitterten, ohne daß er zu Bewußtsein kam.

 

„Schhht... ganz ruhig, Orgo!“ Während seiner Krankheit hatte sie sich die Kurzform seines Namens angeeignet und auch ein paar nette Koseformen erdacht. Fredoc schmunzelte wehmütig und blinzelte eine Träne weg.

 

„Hmpf!“ Die tiefersinkende Plane berührte seinen Kopf und ohne nachzudenken schob er sie mit der Hand nach oben.

 

„Fredoc Gerstenkorn! Ich sagte doch du sollst das Wasser sonstwohin entleeren...“, erhob sich sogleich erneut die keifende Stimme der ältlichen Frau, nur um im nächsten Moment von einem begeisterten Ausruf unterbrochen zu werden.

 

„Lobelia, du bist großartig!“ Wie ein Wirbelwind, der in Konkurrenz mit dem herrschenden Sturm zu treten gedachte, stürzte der kleine Mann hinaus und kam mit beiden Füßen gleichzeitig und bis zu den Knöcheln im Matsch zu stehen. Aufgeregt sah er sich um und strahlte die exzentrische Hobbitfrau an, die erbost zu dem bärtigen Mann aufsah und sich von seiner größeren und breiteren Statur so gar nicht einschüchtern ließ. Noch während sie tief einatmete um zu einem ausgesuchten Donnerwetter anzuheben, drückte er der verdutzten Frau einen schallenden Kuß auf die Stirn und sauste davon.

 

Verblüfft und ein wenig enttäuscht ob des verpaßten Streites schüttelte Lobelia den Kopf. „Ich sag’s ja, der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf!“ Sie wedelte mit einer Hand bezeichnend vor ihren Augen herum. „Aber wen wundert’s, wenn er ständig mit diesem jungen Gerstenbräu zusammensteckt! Zu meiner Zeit...“ Sie nahm ihren Gehstock auf, den sie wie ein Kind in den verschränkten Armen gehalten hatte, zog die wärmende Decke enger um ihre Schultern und kämpfte sich, halblaut vor sich hin sinnierend, tapfer Sturm und Regen entgegen.

 

Bald darauf versuchte Fredoc heftig gestikulierend dem Dorfoberhaupt etwas zu erklären. Taleras hielt den Kopf nachdenklich zu einer Seite geneigt und folgte skeptisch den leidenschaftlichen Ausführungen. Erst ganz allmählich klärten sich seine zusammengekniffenen Züge. Er grunzte zustimmend und fuhr sich über das triefend nasse Gesicht; ein kleiner See sammelte sich in seiner Handfläche und lief in einem fingerdicken Rinnsal den Ärmel entlang bis zum Ellenbogen, wo er sich mit dem niederströmenden Regen vereinte.

 

Taleras winkte zwei andere Männer herbei und nun wurde Fredocs Plan mit lautem Geschrei, unter den erschwerenden Umständen des herrschenden Gewitters, aber mit großem Eifer in die Tat umgesetzt.

 

Im Grunde war die Konstruktion, die Fredoc sich erdacht hatte, eine ganz simple. Sonst wäre sie auch kaum auf soviel Zuspruch gestoßen. Hobbits waren einfache Leute. Alles was zu kompliziert war, war ihnen ein Greuel.

 

Um das unkontrollierte Herausschwappen der Fluten beim Anheben der vollgelaufenen Wagenplanen zu verhindern und gleichzeitig ihre Fässer aufzufüllen, verschafften sie dem Wasser am hinteren Ende der Decken einen Ablauf, indem sie sie an dieser Stelle ein wenig tiefer eindrückten und die Ränder von unten mit Latten abstützten, so daß ein kleiner Kanal gebildet wurde. Dahinter befestigten sie jeweils ein leeres Faß. Wenn nun einer der Insassen die sich herunterbiegende Decke anhob, konnte das Regenwasser ganz bequem aufgefangen werden.

 

Zwar stellte sich recht bald heraus, daß die Behältnisse keineswegs ausreichend waren, diese Unmengen zu erfassen, doch auch dies brachte die Leutchen nicht in Verlegenheit. Es bedurfte nur der geringsten Anstiftung und die Kinder fanden sich zu einem übermütigen Spiel zusammen: Einer der Knirpse huschte immer dann unter ein Faß, wenn es randvoll gelaufen war und in der kurzen Zeit bevor ein neuer Wasserschwall durch den Kanal geschossen kam, zog er den Pfropfen am Boden heraus. Wer nicht flink und geschickt genug war, den fest schließenden Korken rechtzeitig zu ziehen, über den ergoß sich ein kreisförmiger Sturzbach, was natürlich auch einige Male vorkam und von besonders lautem Gelächter der Kameraden belohnt wurde.

 

Der gutmütige Fredoc lief von Wagen zu Wagen und stopfte die Pfropfen dann wieder in die ausgelaufenen Fässer. Zur Zeit herrschte im Wagentreck nur wenig Bedürfnis nach Trinkwasser und so wurden sie so lange immer wieder geleert, bis die prallgefüllten Wolken sich endlich ausgeregnet hatten.

 

Zunächst jedoch war ein Ende des Unwetters nicht in Sicht. Nach drei weiteren Tagen wurde der Weg immer felsiger. Die Wagen, die zuvor wahllos nebeneinander gefahren waren, bildeten nun eine lange Reihe, da die befahrbare Spur immer schmaler wurde. Kaum hatten sie den Sumpf hinter sich gelassen und freuten sich des festen Untergrundes, brach ein Wagenrad samt Achse, und sie mußten einen weiteren Karren zurücklassen. Und noch immer prasselte der Regen auf sie herab.

 

~*~

 

Die Nächte waren naß, kalt und ungemütlich. Mit dem langanhaltenden Regen waren die Temperaturen rapide gesunken und niemand erinnerte sich mehr wirklich daran, wie sehr die Spätsommersonne ihnen noch vor zwei Wochen den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte.

 

Die Halblinge hatten längst ihre dicken Wintersachen hervorgeholt. Das Vieh war unruhig und drängte sich während der Nächte dicht zusammen, um die Körperwärme zu teilen. Am Tage waren die Tiere kaum noch zu bändigen. Rastlos strebten sie voran, immer in der Hoffnung das Ende der Reise und einen Hort der Zuflucht zu finden. Sie ließen sich kaum noch führen und nur der enge, von rauhen Felswänden eingesäumte Pfad verhinderte, daß sie kopflos auseinander rannten und vom Weg abkamen.

 

Fredoc verbrachte mehr Zeit an der Seite seines kranken Freundes. Er und Rosilot sprachen sich gegenseitig Mut und Trost zu. Menegilda hatte ihn bereits aufgegeben. Zumindest schienen dies ihre Blicke zu sagen, mit denen sie die beiden jungen Leute bedachte, wenn sie einmal hereinsah und ohne ein Wort das Wageninnere wieder verließ.

 

„Gibst du mir die Salbe?“

 

Fredoc drehte das eckige Behältnis eine Weile unschlüssig in seinen Händen und reichte es zögerlich an Rosilot weiter. „Die Wunde ist verheilt...“ Er ließ den Satz unkommentiert im Raum stehen.

 

„Ich weiß...“ Ihren Worten zum Trotz entfernte sie den Deckel und trug eine besonders dicke Schicht der grünlichen Paste auf den Oberarm ihres Patienten auf. Dabei mied sie bewußt Fredocs Blick, verschloß dann das Kästchen wieder und legte es beiseite. Als sie den Verband geschickt verknotet hatte, hob sich zitternd ihre Brust und ein verzweifelter Seufzer kam über ihre Lippen. „Es ist alles, was ich tun kann“, flüsterte sie in dem Bemühen, das Beben ihrer Stimme zu verbergen.

 

Sanft, beinahe scheu, legte Fredoc seine Hand auf ihre und drückte sie leicht. Gerade wollte er etwas erwidern, als Menegilda zur Öffnung hereinblickte.

 

„Wir könnten euch hier draußen gebrauchen!“ verkündete sie bestimmt und winkte gebieterisch mit der freien Hand. „Auf, auf, jetzt muß jeder mit anpacken!“

 

Rosilot schob bereits trotzig die Unterlippe vor, doch Fredoc verstärkte den Druck seiner Hand. „Komm!“ forderte er sie auf, half ihr auf die Füße und von dem langsam fahrenden Karren herab.

 

„Fahrt die Wagen nicht zu dicht heran!“ tönte Taleras’ sachliche Stimme über den Platz. „Ihr da vorne, haltet das Vieh auf! Hier herüber, dort stehen sie uns nur im Weg!“

 

Fredoc und Rosilot blinzelten in das grelle Licht. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Dicke Wolken hingen am Himmel, und die Strahlen der tiefstehenden Sonne drangen vorwitzig durch den schmalen Spalt zwischen zwei hochragenden Gipfeln.

 

„Wir werden heute noch einen Teil der Steine beseitigen“, organisierte das Dorfoberhaupt weiter und erst langsam vermochten die beiden Neuankömmlinge sich zu orientieren.

 

Sie waren am Nebelgebirge angelangt. Gigantisch erhob es sich vor ihren Augen. Düster, grau und gnadenlos majestätisch blickte es auf die Winzlinge herab, die sich zu seinen Füßen versammelt hatten und es in ihrem Wahnwitz mit plumpen, hölzernen Karren, primitiven Werkzeugen und vollkommener Unkenntnis der ihnen drohenden Gefahren bezwingen wollten.

 

Fredoc schluckte unbehaglich. Die Paßstraße stieg sogleich enorm steil bergan. An den schmaleren Stellen war sie kaum breiter als eine Wagenachse und sie war ganz offensichtlich nicht dazu gedacht, auf vier Rädern überquert zu werden. Genau am Aufstiegspunkt versperrte ein mannshoher Felsbrocken den Weg und was der Thain so respektlos >Steine< genannt hatte, zog sich in Abständen von etwa 10 Metern und in nur geringfügig kleinerer Ausführung den gesamten Pfad entlang, soweit das Auge reichte.

 

„Rosi komm her und hilf mir mit dem Nachtmahl!“ erklang Lobelias knatternde Stimme von der Seite, und schon bald war das Mädchen in den mittlerweile gut koordinierten Wirkungskreis aus einem halben duzend Köchinnen und doppelt so vielen Handlangern eingebunden. Die leitende Stellung, die ihr übertragen wurde und die damit verbundene Verantwortung und Einteilung ihrer Gruppe, ließen ihr keine Zeit für Grübeleien und Traurigkeit.

 

Fredoc sah ihr schmollend hinterher. „Müßt ihr das arme Ding jetzt so mit Arbeit überschütten?“ zankte er.

 

„Es tut ihr vielleicht ganz gut, auf andere Gedanken zu kommen.“

 

Er fuhr herum und sah sich Albadoc gegenüber, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen musterte.

 

„Dir würde es auch gut tun, mein Junge. Du siehst ein wenig übernächtigt aus. Körperliche Arbeit hat noch niemandem geschadet, und der Lohn dafür ist ein tiefer Schlaf und ein ruhiges Gewissen.“ Er bohrte seinen Zeigefinger bei den Worten schmerzhaft in Fredocs Brust. „Worauf wartest du also? Da hinten wird deine Hilfe benötigt.“

 

„Seit wann bist du so versessen auf körperliche Arbeit?“ Fredoc schürzte widerstrebend die Lippen, ließ sich aber dennoch von dem Alten in Richtung der schlaffördenden Aufgabe schieben.

 

„Immer, mein Junge, immer. Immer dann, wenn ich selbst nicht mit anpacken muß.“ Er kicherte leise und ließ von Fredoc ab, um den Arm gebieterisch nach vorne auszustrecken. „Der Stein muß weg“, sagte er in einem Tonfall als ob es gelte, ein herumliegendes Spielzeug zu verräumen.

 

Fredoc seufzte, erkannte aber zu seiner Erleichterung, daß er nicht der einzige kräftige Kerl war, der den Brocken mit unverhohlener Hochachtung und ohne Tatendrang begaffte. Noch bestand vielleicht die Möglichkeit, daß jemand einen zündenden Gedanken hatte, wie man diese Schwerarbeit umgehen konnte. Ein Blick in die stumpfsinnigen Gesichter machte diese Hoffnung jedoch zunichte.

 

Unbehaglich sah er sich um. Die achtzehn verbliebenen Ochsenkarren standen in einer langen Reihe das Tal entlang. Jener Gebirgsausläufer, den sie nicht hatten überqueren können, und der seither ihr ständiger Begleiter gewesen war, strebte vom Rand der befahrbaren Spur beinahe lotrecht in eine Höhe, die der des Nebelgebirges entsprach. Auch im Süden wurde der Pfad von einem Felsenarm begrenzt, der allmählicher anstieg und nicht so weit hinauf reichte. Sie waren in dieser Schlucht eingeschlossen, die den Blick nach Osten in einer Biegung gleich nach dem hintersten Fuhrwerk abschnitt. Um diese trotteten soeben die letzten Kühe und Ziegen und gesellten sich ihren Artgenossen zu. Die noch von diesigen Wolken verhangene Sonne hüllte das Tal in ein blasses, graues Licht.

 

Zwischen den Wagen drängte sich das Vieh auf engstem Raum und vereinzelt quetschten sich einige Halblinge an ihnen vorbei, um nach vorne aufzuschließen, wohin sich auch die kraftstrotzenden Bullen schoben, unbeeindruckt in ihrem gleichmäßigen Trott.

 

Noch immer tönte Taleras’ Stimme über den Platz. Ungefähr zehn Männer bildeten auf sein Geheiß eine Kette über den Weg, an der die Tiere aufgehalten wurden, was genau so lange gut ging, bis die Bullen einfach durch sie hindurch stampften. Das Gezeter und Geschrei, das daraufhin folgte, waren einfach unbeschreiblich. Die Kette wurde gesprengt, die übrigen Tiere brachen ebenfalls nach vorne durch und ehe man sich versah löste sich die gut organisierte Gesellschaft in pures Chaos auf. Wenigstens befanden sich die Kochstellen in einer geräumigen Felsnische ein Stück seitlich des allgemeinen Tumults und wurden somit von dem umhertrampelnden Vieh verschont.

 

Fredoc stand untätig an seinem Platz und sein Verstand erfaßte das Schauspiel nur am Rande. Als das freche Ziegenböcklein auf ihn zusprang und meckernd Schutz hinter seinem massigen Körper suchte, erwachte er aus seinem Tagtraum, ruckte hoch und blickte um sich. Anstatt nun die Hände ob des Desasters zu ringen, schlug er sie freudig aufeinander. Albadoc, der sich gemütlich auf einem Felsbrocken niedergelassen hatte und die kurzweilige Vorstellung mit beinahe kindlicher Begeisterung verfolgte, wandte seine Aufmerksamkeit dem jungen Hobbit zu.

 

„Hast du das gesehen?“ Fredoc hüpfte hingerissen auf und ab.

 

Einer der aufgebrachten Bullen glaubte in dem schweren Felsblock, der den Aufstieg versperrte, einen Feind erkannt zu haben. Mit tief gesenktem Kopf rannte er gegen ihn an und stieß die harten, gebogenen Hörner krachend in seine Seite. Der mächtige Block hob sich knirschend einen Fingerbreit auf der attackierten Seite und fiel mit dumpfem Schlag zurück in sein angestammtes Bett. Ein zweiter Zusammenstoß löste bereits die Hälfte der Basis von ihrem Grund. Gespannt erwarteten die beiden Männer den dritten Anlauf. Dieser blieb aber leider aus. Gelangweilt beschnüffelte der Bulle seinen Feind, befand, daß er ihn besiegt haben mußte, da er sich nicht mehr regte, drehte sich erhobenen Hauptes herum und blickte hochmütig und siegesgewiß zu der Schar seiner Rivalen.

 

Enttäuscht setzte Fredoc sich hoch auf den Felsensims neben den Greis und gemeinsam betrachteten sie ihre baumelnden Füße.

 

~*~

 

„Du kannst keinen Bullen in ein Joch spannen! Das würde er niemals dulden!“

 

„Wer spricht denn von Bullen? Unsere Ochsen sind genügsam und ebenso stark, auch wenn sie nicht so sehr damit protzen. Das solltest du eigentlich wissen, junger Mann.“ Schelmisch zwinkerte der Alte ihm zu. „Es wundert mich, daß wir nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen sind, wo es doch stets von Vorteil ist, andere für sich arbeiten zu lassen.“

 

Fredoc fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch den Bart. Es dauerte eine Weile, bis die Botschaft zu ihm durchgedrungen war. Endlich nickte er verstehend, seine Äuglein begannen zu glänzen und die Mundwinkel fanden erstaunlich schnell den Weg zu seinen Ohren. Das Nicken wurde intensiver und plötzlich war die Lethargie wie fortgeblasen.

 

Mit einem Satz hüpfte er von dem Felsensims herunter und sauste über den Platz, laut den Namen des Thains rufend. Dieser hatte es endlich geschafft, Ruhe in den aufgewühlten Haufen zu bringen und gönnte sich soeben ein wenig Erholung und ein aromatisches Pfeifchen, als Fredoc über einen Geröllhaufen angestolpert kam.

 

„Wir können die Ochsen die Felsbrocken wegziehen lassen“, platzte er heraus, noch ehe er ganz heran war, und machte eine vage Handbewegung nach hinten. „Alles was wir tun müssen ist, das Geschirr der Karren um die Steine schnallen. Die Tiere sind an das Joch gewöhnt und werden keine Schwierigkeiten machen, wenn sie statt eines Wagens oder eines Pfluges etwas ziehen sollen, von dem sie nicht wirklich wissen, was es ist und wozu es dient.“ Er hiel überlegend inne. „Wahrscheinlich wissen sie das ohnehin nie“, gestand er verlegen und als er sah, daß Taleras von dem Gedanken angetan war, fügte er wahrheitsgemäß hinzu: „Die Idee stammt von Albadoc.“

 

„Aber der Anstoß kam von dir, mein Junge!“

 

„Wohl eher von dem Bullen.“ Fredoc grinste den Alten, der ihm langsamer gefolgt war zufrieden an.

 

„Also dann, laßt uns die Ochsen einspannen!“ beendete Taleras den freundschaftlichen Wettstreit und erhob sich, um seine Anweisungen zu geben, ohne dabei seine Pfeife wegzulegen.

 

Mit diesem Ziel vor Augen kam wieder Leben in die zögerliche Schar. Für den großen Brocken am Paßeingang wurden zwei Ochsen und viel gutes Zureden benötigt, doch am Ende wich er der rohen Gewalt.

 

Die Felsblöcke am Hang waren zwar kleiner, aber wegen der starken Neigung durften sie nicht einfach bergabwärts gezogen werden. Einmal aus ihrer Lage gelöst und in Bewegung gekommen, wären sie sonst über das Zugtier und seinen Führer hinweggerollt und als Steinschlag auf das Tal niedergegangen. Also wurden sie seitlich oder gar den Berg hinauf gezogen, bis eine breitere Stelle erlaubte, sie dort zur Seite zu schieben.

 

Trotz der muskulösen Ochsen mußten die Halblinge selbst kräftig mit anpacken, und einmal mehr zeigte es sich, daß sie Arbeit und Mühen nicht scheuten, wenn sie erst damit begonnen hatten. Mit unbeugsamem Tatendrang schufteten sie, bis die Sonne unterging und selbst die letzten Lichtschimmer der Dämmerung nutzten sie noch aus. Beinahe schien es, als wollten sie an diesem Tag gar kein Ende finden. Das arbeitsame Bild wurde jedoch augenblicklich zerstört, als Menegilda mit lauter Stimme zum Essen rief.

 

Albadoc, der ungeachtet seines hohen Alters und der eingestanden Abneigung gegen körperliche Arbeit, energisch zugepackt hatte, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Noch immer war der Aufstieg des Passes nicht von allen hinderlichen Steinen gesäubert. Nicht einmal so weit, wie man vom Talgrund hinaufsehen konnte.

 

„Das wird uns einige Tage in Verzug bringen. Was meinst du?“ wandte er sich an Taleras. „Ist vielleicht besser wir lassen die Wagen hier unten, bis die Steigung freigeräumt ist. Die Weiterfahrt käme sonst immer wieder ins Stocken.“

 

„Und wir müßten jedes Mal das Vieh davon abhalten weiterzustürmen“, stimmte Taleras zu und klopfte sich einen Klumpen Lehm von der Hose. „Doch jetzt laß uns erst einmal sehen, was unsere Frauen uns Schmackhaftes gekocht haben. Der Berg läuft uns nicht weg.“

 

„Wie schön, ich dachte schon ich müßte mir deshalb Sorgen machen“, grummelte Albadoc sarkastisch und schnüffelte neugierig. „Hm... du hast recht, es riecht wirklich außerordentlich einladend!“

 

~*~

 

Als die Dunkelheit sich über das Lager legte, wurde sie von lodernden Wachtfeuern am Ein- und Ausgang des Tales erhellt. Verwundert bemerkte Fredoc, daß sie sich an beiden Standorten länglich wie ein Zaun über den Zugang legten und ein duzend Männer damit beschäftig waren, sie zu nähren. Er hob seine Pfeife zum Mund und grübelte darüber nach, wozu dies dienen sollte und versuchte gleichzeitig herauszufinden, wann er das letzte Mal nach Einbruch der Nacht im Freien gewesen war. Es dauerte nicht lange, da wurde ihm zumindest die erste Frage beantwortet.

 

Das Vieh bemerkte es zuerst. Ein ängstliches Schnauben ging durch die Reihen und schutzsuchend drängte es zusammen. Kreischend stob der dicke Kater an Fredoc vorbei, diesmal ohne die gewohnte Hundemeute auf den Fersen, die sich längst irgendwo ein sicheres Plätzchen gesucht hatte. Von irgendwo her erklangen panisches Gackern und die beruhigende Stimme Lobelias. Irritiert schüttelte Fredoc den Kopf und lauschte hinaus in die Finsternis.

 

Die Felswände warfen sonst jeden Laut als Echo zurück, doch dieser hier war zu leise dazu, zu kurz und noch zu entfernt. Nie zuvor in seinem Leben hatte Fredoc ihn gehört. Dennoch erkannte er ihn sofort, als der Wind die zerrissenen Fetzen an sein Ohr trug. Die folgende Stille zerrte mit ihrer Ungewißheit an den Nerven und Fredoc erwischte sich dabei, wie er den Atem anhielt.

 

Als er schon glaubte sich geirrt zu haben, erklang wieder der langgezogene, klagende Ton und nun stimmte das ganze Rudel mit ein. Wölfe! Alarmiert fuhr er herum und rannte beinahe gegen Taleras, der lautlos hinter ihn getreten war.

 

„Sie folgen uns schon seit zwei Tagen.“ Wie ein vernünftiger Hobbit in einer solchen Situation so ruhig sein konnte, war Fredoc ein Rätsel. „Es wundert mich, daß es dir erst jetzt auffällt. Das heißt... nein“, korrigierte er sich selbst, „eigentlich nicht.“

 

Gespenstisch klang das Geheul das Tal entlang und einige Halblinge redeten besänftigend auf das Vieh ein. Die Anspannung war deutlich zu spüren, doch wenigstens blieb der drohende Durchbruch der Herde aus.

 

„Heute sind sie näher. Der Schutz der Felsen gibt ihnen Sicherheit“, erklärte Taleras im selben sachlichen Ton. „Aber sie sind noch nicht so hungrig, daß sie sich an einen Überfall wagen würden.“

 

„Und wann glaubst du, werden sie hungrig genug dazu sein?“ Fredoc schauderte es. Mit beiden Händen griff er nach der Krempe seines Hutes und zog ihn fester herunter.

 

„Wer kann das wissen?“ Taleras zuckte die Schultern. „Eine zeitlang dachten wir daran, ihnen etwas Fleisch hinzuwerfen, damit sie uns in Ruhe lassen. Doch wer weiß, ob sie dann nicht erst richtig auf den Geschmack kommen.“

 

„Außerdem haben wir nun wirklich nicht genug davon, um ein paar heruntergekommene Wölfe damit zu füttern!“ polterte es hinter ihnen und beider Blicke schwenkten herum zu dem Sprecher, der mit trotzig verschränkten Armen und unwillig aufeinandergepreßten Lippen dort stand.

 

„Nun, ich denke nicht, daß wir die Situation so leicht nehmen sollten“, erwiderte Taleras ernst und erstmalig lag Besorgnis in seiner Stimme.

 

„Wer sagt, daß ich das tue?“ winkte Boldegrin beleidigt ab. „Mir paßt bloß der Gedanke nicht, diese Biester dafür zu belohnen, daß sie uns ans Leben wollen.“

 

„Das kann ich gut verstehen“, murmelte Fredoc und betrachtete erneut die riesigen Wachtfeuer. „Wo habt ihr all das Brennholz her?“

 

„Gesammelt.“ Taleras zuckte müßig die Schultern, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ich glaube im Umkreis von zwei Meilen wächst auch nicht mehr ein einziger Grashalm.“

 

Fredoc erschauderte. „Sagtest du nicht, daß wir einige Tage hier verweilen werden?“

 

Das Dorfoberhaupt nickte stumm und Boldegrin brach in derbes Schimpfen aus.

 

„Na großartig! Wirklich großartig!“

 

~*~

 

„Es ist erstaunlich wie lange so ein Ochsenkarren brennt.“

 

„Mhm. Eine ganze Nacht.“ Eine kurze Pause entstand. „Die Berge werden sie nicht davon abhalten uns zu folgen.“

 

„Wir haben immer noch sechzehn Karren.“

 

Taleras warf dem Alten einen empörten Blick zu. „Das ist nicht dein Ernst!“

 

„Doch, ist es. Lieber die Karren als wir.“

 

„Kannst du etwas auf der Karte erkennen?“ wandte Sederic sich übertrieben laut an den jungen Fredoc, der tief über das Dokument gebeugt geflissentlich die unangenehme Unterhaltung ignorierte.

 

„Das sieht irgendwie überall gleich aus... abgesehen davon, daß der Pfad auf der einen Seite hinaufsteigt und auf der anderen wieder herunter.“

 

„Vielleicht kannst du etwas erkennen, wenn du’s anders herum hältst“, riet Gambold mit leicht dümmlichem Gesichtsausdruck.

 

„Unsinn!“ bellte Boldegrin. „Wieso sollte er die Karte umdrehen. Dann marschieren wir doch in die falsche Richtung!“

 

„Ich dachte auch nur...!“ Beschämt senkte Gambold den Kopf und starrte auf das kunstvolle Werk, das vor ihnen ausgebreitet lag.

 

„Sagt mal, was sucht ihr vier da eigentlich?“ wurde Taleras nun aufmerksam.

 

„Einen Wald.“

 

„Ah, verstehe.“

 

„Ich mag Karrenholz-Feuer.“

 

„Albadoc!“ Fünf kreischende Stimmen und ebenso viele empörte Augenbrauenpaare fuhren in die Höhe.

 

„Ist ja schon gut, schon gut!“ Kichernd rieb der Alte sich die Hände. „Diese jungen Leute haben etwas dünne Nerven, wie mir scheint.“

 

Kann sein es lag an der bedrohlichen Nähe der Wölfe, daß die Säuberungsarbeiten so schnell voranschritten. Jedenfalls konnten bereits am darauffolgenden Tag die ersten Ochsenkarren den Berg hinauf geschafft werden, was eine langwierige und schweißtreibende, aber auch nicht ganz ungefährliche Angelegenheit war.

 

In Abständen, die der Länge der vorhandenen Taue entsprachen, hatten die Halblinge sogenannte Zwischenstationen eingerichtet. Dort befand sich jeweils ein solider Felsbrocken, der als Winde diente. Das Seil wurde fest an die Vorderachse des zu verladenen Karrens geknotet, um den Steinblock gelegt und dort an dem Geschirr zweier Ochsen verschnürt. Diese zogen nun sich bergabwärts bewegend den Wagen um die Winde herum nach oben und unterstützten auf diese Weise die Zugtiere am Fuhrwerk.

 

Kam nun der Wagen an der Zwischenstation an, so mußte zur nächsten Winde gewechselt werden. Dazu befestigten die Halblinge ein neues Seil an der Achse bevor die ersten Hilfsochsen entlastet wurden. Neben den Tieren unterstützten eine große Anzahl stämmiger Männer den gefährlich steil hängenden Karren und trotz einiger unschöner Zwischenfälle und obwohl kaum einer der Helfer ohne zumindest ein paar schmerzende Schnitte und Prellungen davon kam, verlief die Aktion ohne größere Unglücksfälle.

 

Das Ziel dieser ersten Steigung war ein fast ebenmäßiges kleines Plateau, auf dem es zwar keine Trümmer, dafür aber glattgeschliffenen Felsboden gab, auf dem die Füße der Tiere und das Holz der Karrenräder nur schwer Halt fanden, so daß die Halblinge die abgestellten Wagen zunächst einmal mit Keilen absichern mußten, bis nach zwei weiteren Tagen endlich der letzte heraufgebracht und daraufhin das Vieh ebenfalls herangetrieben wurde.

 

Zur Verwunderung aller waren die Wölfe plötzlich abgezogen. Taleras war so weit gegangen, einige Späher ins Tal zurück zu schicken, doch außer einigen Fellbüscheln und übelriechenden Ausscheidungen fanden sie keine Spuren.

 

 

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