Fredoc
schlief unruhig. Was sehr uncharakteristisch für ihn war. Weder die Sorge um
den Gesundheitszustand seines Freundes, noch das lautstarke Gewitter der
letzten Tage, hatten ihn erfolgreich in seinem Schlummer stören können. Auch in
dieser Nacht reichte die nachhaltig einsetzende Kälte nicht aus, ihn völlig zu
wecken. Brummend drehte er sich auf die andere Seite und zog die Decke noch
höher über seine Ohren. Keine wirklich gute Lösung wie sich sogleich
herausstellte, denn dadurch wurden seine Füße entblößt. Noch intensiver
grummelnd rieb der Hobbit sie im Halbschlaf gegeneinander und zog, als alles
nichts half, die Beine dicht an den Körper heran, beförderte die kalten Enden
so wieder in den wärmenden Schutz der wollenen Decke. Doch auch jetzt wollte
ein erholsamer Schlaf sich nicht einstellen. Unbarmherzig fuhr der Frost durch
die schützende Hülle und ließ den ganzen kleinen Kerl bibbern. Immernoch
genügte es nicht, ihn erwachen zu lassen und so zittere er von unklaren Träumen
geplagt in sich hinein, bis die Sonne aufging.
Bei ihren
ersten Lichtstrahlen kam er endlich zu sich, gähnte geräuschvoll und schob die
Arme unter der Decke hervor um sich zu räkeln, doch steckte er sie ob der
Eiseskälte blitzschnell zurück in die verhältnismäßig warme Bettstatt.
Plötzlich munter setzte er sich auf, blickte sich um und glaubte erst gar
nicht, was er da sah. Erst nach einigem Blinzeln und als er sich ausgiebig den
Schlaf aus den Augen gerieben hatte, war er überzeugt, nicht einem Traumbild zu
erliegen. Er schüttelte seine dunklen Locken aus, kämpfte sich unter der
steifen Decke hervor und bestaunte die dünne weiße Schneeschicht, die die
Felsen ringsum, die Berggipfel über ihnen, ebenso wie die Wagen und den
Lagerplatz, bedeckte.
Von
denen, die unter freiem Himmel übernachtet hatten, hatte es niemand so lange im
Schlaf ausgehalten wie der bärtige, junge Mann. Bestrebt, sich ein wenig Wärme
zu verschaffen, liefen alle geschäftig im Lager umher, spannten bereits die
Ochsen ein, räumten hier ein Frachtstück auf und dort wieder ab oder stampften
nur mit den Füßen auf die Erde, um das Blut in Fluß zu halten.
Boldegrin
hatte eine andere Möglichkeit gefunden, sich anzuwärmen und frischte gerade
seinen Wortschatz an derben Beschimpfungen auf, die er probeweise an der zähen
Lobelia ausließ. Die zickige Dame blieb ihm ihrerseits keine Beleidigung
schuldig. Taleras redete auf ein paar Männer ein, die sich kurz darauf auf den
Weg machten, die Gegend zu erkunden. Menegilda hantierte bereits mit einem
schweren, eisernen Topf herum, und Rosilot diskutierte hitzig mit Ilberic, weil
sie es auf dessen besonders warme Decke abgesehen hatte. Nur das Vieh stand
völlig unbeeindruckt kreuz und quer zwischen den Felsen und schnupperte
höchstens einmal neugierig an der weißen Pracht.
Seit
sechs Tagen nun währte ihre Reise über das Gebirge. Nach dem ersten steilen Paß
stieg das Gelände weite Wegstrecken hindurch gemächlicher an, doch immer wieder
mußten sie ihre Seile hervorholen, um einen kleineren Abschnitt zu überwinden.
Es war nur gut, daß der Frost sie nicht schon früher überrascht hatte, als sie
sich fast einen kompletten Tag lang über das glatte und rutschige Plateau
gekämpft hatten. Bei der Überfahrt verloren sie einen Ochsenkarren, mit dem sie
sich zu weit an die Schlucht heranwagten. Die Räder rutschten ab und nichts und
niemand konnte das Fuhrwerk aufhalten. Zwar waren in diesem keine alten Leute
untergebracht und der Fahrer hatte sich mit einem gewagten Sprung auf das
Plateau gerettet, doch die Lebensmittel sowie die beiden Zugtiere waren mitsamt
dem Gefährt die Klippen hinabgestürzt.
Hier war
der steinige Pfad teilweise so breit, daß die Fuhrwerke ohne Schwierigkeiten zu
zweit nebeneinander herfahren konnten, dann so eng, daß die Radnaben an beiden
Seiten anstießen und drohten, stecken zu bleiben. Dann versperrten wieder
Felsbrocken den Weg, die es galt beiseite zu schaffen.
Noch hatten
sie den höchsten Gipfel lange nicht erreicht, der bedrohlich über ihren Köpfen
hing und gar nicht näher rücken wollte. Immer wenn sie dachten, nun müßten sie
ihn bald erreicht haben, schob sich ein weiteres Tal oder eine Felsenflucht
zwischen sie und die Ungewißheit. Es war als würde eine Luftspiegelung sie an
der Nase herumführen, und manchmal schien es, als entfernten sie sich immer
weiter von ihrem Ziel. Nur die mit unumstößlichem Gleichmut Tag um Tag in ihrem
Rücken auf- und vor ihren Augen niedergehende Sonne ließ sie noch daran
glauben, daß sie nicht von ihrer Richtung abgewichen waren.
Fredoc
rieb die Hände aneinander und blies kräftig hinein. Feiner weißer Nebel stieg
vor seinem Gesicht auf und nahm ihm für kurze Zeit die Sicht auf die verbliebenen
13 Ochsenkarren. Unwillkürlich wanderte sein Blick von diesen westwärts und er
fragte sich, wie viele von ihnen wohl auf der anderen Seite des Nebelgebirges
ankommen würden. Den letzten hatten sie verloren, als das Seil bei einem ihrer
steilen Aufstiege gerissen war und das herabsausende Fuhrwerk an den harten
Steinen zerschellte wie eine reife Tomate. Dabei war auch sein Lenker zu Tode
gekommen und es hatte lange gedauert, bis die entsetzten Leutchen sich ein
wenig beruhigt hatten und noch viel länger, bis sich jemand aus der
verängstigten Schar dazu bereit erklärt hatte, den nächsten Wagen
hinaufzuführen.
Nach
einer heftigen Diskussion, bei der sogar das Wort >Umkehr< gefallen war,
war es ausgerechnet die widerspenstige Lobelia gewesen, die mit ihren harschen
Worten allen neuen Mut zugesprochen und sich selbst auf den Bock des Karren
gesetzt hatte. Fredoc hatte herzinnigst gebetet, daß sie die Fahrt überstehen
möge. Nicht nur, weil er sie trotz ihrer Schrullen gut leiden mochte, sondern
auch, weil er nicht wußte, wie es sonst weitergehen sollte. Thain Taleras hatte
ähnlich empfunden und die gute Frau bei ihrer Ankunft spontan in die Arme
geschlossen. Lobelia hingegen tat die Angelegenheit mit einer wegwerfenden
Geste und einer geringschätzigen Bemerkung ab.
Von nun
an wurde jedes Tau peinlich genau auf Abschürfungen untersucht, bevor es zum
Einsatz kam und es hatte seither keine weitere Tragödie gegeben.
Fredoc
verfolgte mit den Augen die beiden Kundschafter, die der Thain an diesem Morgen
losgesandt hatte. Sie zogen mit ihren Füßen dunkle Linien in den frisch
gefallenen Schnee. Seit dem Zwischenfall mit den Wölfen hatten sie die Order,
sich nicht außer Sichtweite zu begeben. Eine Sicherheitsvorkehrung, die jedoch
dazu führte, daß niemand wußte, wie der Pfad weiterverlaufen würde und welche
Strapazen ihnen noch bevorstanden.
Stolz war
Rosilot mit Ilberics Decke in dem Fuhrwerk verschwunden, das den armen Orgonas
beherbergte. Menegilda folgte ihr mit einer Schüssel stark verdünntem Brei, wie
sie ihn, seit er nicht mehr richtig zu sich kam und somit keine feste Nahrung
mehr aufnehmen konnte, dem Kranken einflößten. Entgegen aller Hoffnung hielt
sich Orgonas’ Zustand konstant, zwar konstant schlecht, aber die teure Medizin
aus der Menschenstadt hatte zumindest eine weitere Ausbreitung des Giftes
verhindert. Unglücklicherweise war dieses Mittel am Vorabend ausgegangen und
Fredoc hatte es noch nicht über sich gebracht, die beiden Frauen davon in
Kenntnis zu setzen. Jeden Moment würde Rosilots blasses Gesichtchen am
Wagenverschlag erscheinen und sie würde nach dem Fläschchen rufen, das er ihr
unter einem Vorwand abgeschwatzt hatte. Resigniert wandte er sich ab, um sich
im Lager nützlich zu machen.
„Fred!“
Der Angerufene zuckte zusammen, was den Versuch sich taub zu stellen
vereitelte. Er hörte wie jemand vom Wagen sprang und auf ihn zugelaufen kam.
„Fred, wo hast du gestern die Flasche mit der Medizin hingetan?“
„Guten
Morgen, Rosi!“ Fredoc strahlte sie übertrieben gut gelaunt an und zupfte an der
Hutkrempe.
„Morgen,
Fred“, kam die ungeduldige Antwort, „du hast sie doch, nicht wahr? Ich hab
schon den ganzen Karren danach abgesucht, aber sie ist nicht da.“
„Oh,
Rosi, ich hab übrigens herausgefunden, wie Orgo von den Kröten erfahren hat.
Weißt du, ich dachte erst, er hätte irgend welche außergewöhnlichen Fähigkeiten
entwickelt, was natürlich eine Torheit ist oder es hätte etwas damit zu tun-“
„Fred?“
„-naja,
es war ja eigentlich vorhersehbar, daß da nichts Ungewöhnliches im Gange war
aber-“
„Fred!“
„-schließlich
konnte man ja nicht wissen und deshalb hab ich nachgeforscht um – Autsch!“
Fredoc
biß die Zähne zusammen und hüpfte ungeschickt auf dem linken Fuß, weil der
andere unliebsame Bekanntschaft mit Rosilots forderndem Auftreten gemacht
hatte.
„Aber
Rosi, warum trittst du mich denn?“ jammerte er kläglich und suchte mit der Hand
nach einer Stütze.
„Die
Flasche, Fred! Weißt du wo sie ist?“ drängte das Mädchen, dem so gar nicht der
Sinn danach stand, sich die Geschichte seiner langwierigen und ungeheuer
ausgeklügelten Nachforschungen anzuhören. Sie hatte auf ihre direkte Frage von
den beiden Lausebengeln erfahren, daß Orgonas ihnen bei der Ausarbeitung dieses
hinterhältigen Racheaktes geholfen hatte. Manchmal waren Männer eben auch nur
Kinder...
„Tja,
weißt du“, wand sich der junge Mann, der einsah, daß er sie nicht länger mit
Reden hinhalten konnte. Behutsam stellte er den geschundenen Fuß wieder auf die
Erde und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. Sein Blick zuckte unruhig über
das Lager und suchte einen Ausweg aus dieser heiklen Lage. „Ich hab sie zu Hams
Sachen gesteckt“, was nicht gelogen war. Die Flasche war tatsächlich dort. „Ich
bringe sie dir sogleich!“
„Aber
beeil dich“, nickte Rosilot endlich befriedigt und ging zurück zu ihrem
Kranken.
„Pfui,
Fredoc! Was bist du doch für ein feiger Hund!“ verachtete dieser sich selbst
und während seine Augen dem Mädchen folgten wußte er auch, weshalb er es nicht
fertig gebracht hatte, ihr die Wahrheit zu gestehen. Sie sah so gebrechlich
aus, so wund an Leib und Seele. Fredoc senkte den Kopf und seufzte tief.
Beinahe vergaß er über ihren Ängsten seine eigenen.
Von
Norden fegte eisiger Wind heran und wirbelte den lockeren Schnee durcheinander,
von den Wagen herunter und quer durch das Lager. Fredoc klappte den Kragen
seiner Jacke hoch und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Es war ihm, als wären
alle Geräusche um ihn herum verstummt.
Leise
knirschte es unter seinen Füßen, als er ziellos und mit hängenden Schultern
zwischen den vertrauten Gestalten hindurch schlurfte. Die Geschäftigkeit der
Leute seines Volkes war mit einem Mal aus seinem Bewußtsein verbannt. Der
Gedanke an das Frühstück nicht länger präsent. Ein trüber Schleier legte sich
über seine Augen, als er in sich hinein versank. Dabei murmelte er unverständliches
Zeug in seinen Bart. Erst als er davor stand merkte er, daß ihn seine Füße
unversehens zu seiner Lagerstatt geführt hatten. Hier lag neben seiner Decke
und mit einer dünnen Schicht aus Staub und Schnee bedeckt der herrliche Sattel
des Ponys, der ihm in den letzten Tagen als Kopfkissen gedient hatte. In den
geräumigen Taschen steckte die verhängnisvolle - weil leere - Medizinflasche.
Fredoc
beugte sich herab und löste die geflochtenen Lederriemen. Er zog die Phiole
halb heraus und verharrte in Unschlüssigkeit darüber, was er nun tun sollte.
Schlußendlich schob er das Gefäß wieder zurück an seinen Platz und richtete
sich noch nicht ganz überzeugt wieder auf.
Seine
Augen wanderten suchend umher, verweilten kurz bei Taleras und blieben dann an
Albadoc haften. Der Greis, der sonst darauf bestand, es den Jungen noch immer
gleich tun zu können, nutzte sein Alter geschickt aus, sich vor unliebsamen
Arbeiten zu drücken; wie dem Abbruch des Lagers und dem Verstauen der Ladung.
So saß er auch jetzt gemütlich in seine Schlafdecke gewickelt auf einer Kiste
und kaute zufrieden auf einem Stück Dörrfleisch herum.
„Albadoc?“
Fredoc schlich zaudernd näher. Zwei große, helle Augen blickten ihn fragend an.
„Setz
dich, mein Junge“, forderte der Alte ihn auf und rückte ein Stück zur Seite.
Fredoc
ließ sich umständlich nieder und schob den Hut in den Nacken.
„Du hast
ein Problem?“
„So ist
es. Ich hatte gehofft, du könntest mir einen Rat geben.“ Ohne Umschweife erklärte
er ihm, worum es ging und sah ihn als er geendet hatte kummervoll an. „Was soll
ich tun?“
„Was du
tun sollst?“ Albadoc schluckte das letzte Stück Fleisch hinunter und zuckte mit
den Achseln. „Du kannst ihr die Wahrheit sagen.“
Fredoc
stöhnte.
„Oder du
kannst die Flasche mit Wasser füllen.“
„Ich
kann... WAS?“ Ungläubig starrte er den Sprecher an. Der zuckte nur abermals die
Schultern und stocherte mit dem Fingernagel nach einem Fleischrest zwischen
seinen Zähnen.
„Ist
vielleicht barmherziger, als ihr die letzte Hoffnung zu nehmen.“
„Aber es
wäre eine glatte Lüge“, empörte sich der junge Mann.
„Nun, du
hast immer noch die andere Möglichkeit.“ Allmählich waren die
Aufbruchvorbereitungen erledigt. Albadoc erhob sich. „Die Entscheidung kann ich
dir nicht abnehmen.“ Er klopfte dem anderen mitfühlend auf die Schulter, um
seinen Worten die Härte zu nehmen. „Ich beneide dich nicht darum.“
Indessen
hatte Fredoc nicht viel Zeit, einen Entschluß zu fassen. Kaum hatte der Alte
sich entfernt, tauchte der kleine Dodinas mit Rosilots Weisung auf, sofort die
Medizin herbeizubringen. Heimlich und mit den besten Vorsätzen, ihr später am
Tag reinen Wein einzuschenken, ließ Fredoc ein paar Tropfen Wasser in die
Flasche gleiten, bevor er sie dem Jungen reichte. Unbehaglich verfolgte er wie
dieser dem Mädchen das Behältnis zum Wagen brachte und seinen Schwindel damit
festigte. Er hob bereits den Fuß, um das Unrecht rückgängig zu machen, doch da
quälte ihn sein schlechtes Gewissen schon zu sehr, daß er es ohne äußerste
Überwindung zuwege gebracht hätte. Später, vertröstete er sich und hoffte, daß
ihm bis dahin etwas Vernünftiges einfallen würde.
Es war
ein Tag wie viele zuvor. Gezeichnet von Mühen und Strapazen unterschiedlichster
Art. Die Fuhrwerke wurden leichter und einfacher zu lenken, je weiter die
Vorräte aufgebraucht wurden. Die Tiere wurden unruhiger je länger die Fahrt
andauerte. Die kleinen Leute waren erschöpft und ausgezehrt. Nichts war
geblieben von dem einst so munteren Wesen ihrer Fahrt, nur verbissener
Überlebenskampf und der zähe Wille durchzuhalten. Und dennoch. Gerade in ihrer
üblen Lage bewiesen die Halblinge immer wieder aufs Neue ihren optimistischen
Lebensmut. In den Pausen zwischen den kräftezehrenden Märschen errichteten die
Frauen noch mit der selben liebevollen Häuslichkeit das Lager und während die
Männer das Vieh fütterten, tollten die Kinder lärmend und jauchzend herum.
Am späten
Nachmittag kehrten die beiden Kundschafter mit sichtlichen Zeichen der
Aufregung zurück. Gerade sandte die Sonne ihre letzten kühlen Strahlen über das
Gebirge.
„Wir
haben Spuren im Schnee entdeckt“, berichtete einer aufgelöst, „Spuren von
Wölfen.“
Der
andere nickte nicht minder besorgt. „Wir fanden außerdem Orkspuren! Es muß eine
ganze Horde sein.“
Ängstliche
Schreie breiteten sich sofort wie ein Lauffeuer über das gesamte Lager aus. Die
Frauen scharten angstvoll ihre Kinder um sich, die Männer nahmen ihre Bögen vom
Rücken und spannten die Sehnen.
„Also deshalb
sind sie abgezogen. Sie haben ihre Verbündeten auf den Plan gerufen“, erkannte
Taleras grimmig. „Wo habt ihr die Spuren entdeckt?“
„Sie
ziehen sich von Süd nach Nord über den Pfad und scheinen von dort weiter nach
Osten zu verlaufen. Wir hätten uns weiter entfernen müssen, um dies mit
Gewißheit sagen zu können und das hattest du uns verboten...“ Es klang nach
einer Mischung aus Reue und Erleichterung.
„Sie
haben uns also aller Wahrscheinlichkeit nach umzingelt.“ Der Thain drehte sich
einmal schnell im Kreis. Seine Gedanken rasten. In diesem Gelände hatten sie so
gut wie gar keinen Schutz gegen irgendwelche Angreifer. Wenn auch die Fuhrwerke
hier nur einen eng begrenzten Fahrraum hatten, so gaben doch die kleineren
Felstrümmer zu ihren Seiten keine ausreichende Deckung. Einzig der tiefe
Abgrund, der sich ungefähr fünfzig Meter neben ihnen erstreckte und die gesamte
Länge der Südseite einnahm, konnte vielleicht von Nutzen sein.
Andererseits
war dieses Gelände ebenso gut oder schlecht wie jedes andere. Heute Mittag
waren sie durch eine enge Schlucht gefahren und Taleras wog die Vor- und
Nachteile der beiden Landschaften gegeneinander ab. Nein, dort säßen sie wie
Mäuse in einer Falle. Die steilen Wände würden zwar die Wölfe, nicht jedoch die
Kobolde abhalten, die mit grauenerregender Sicherheit daran herunterklettern
konnten, wie er wohl wußte. Ein schauerliches Heulen belehrte ihn außerdem, daß
ihnen keine Zeit bleiben würde, sich dorthin zurückzuziehen.
„Fahrt
die Wagen in einem Halbkreis an den Abgrund heran. Seht zu, daß ihr sie
irgendwie durch die Felstrümmer hindurchlenkt“, befahl er deshalb. „Macht
schnell! Fahrt sie dicht aneinander und bringt Kisten und Säcke heraus.
Verteilt diese darunter und zwischen den Achsen, damit ihr euch dahinter verschanzen
könnt. Das Vieh treibt herüber, hier dicht an die Schlucht heran, von wo kein
Feind kommen kann.“
Die
Anweisungen wurden in Windeseile in die Tat umgesetzt. Leider war das Ergebnis
nicht so wie Taleras es sich vorgestellt hatte. Da alles Vieh innerhalb der
Wagenburg untergebracht werden und den Leuten außerdem genügend
Bewegungsfreiheit bleiben sollte, waren am Ende noch viel zu viele Lücken
vorhanden. Außerdem wurde das Vieh so dicht an den Abgrund gedrängt, daß einige
Tiere hinunterzustürzen drohten. Doch dem konnte nicht abgeholfen werden.
Besser als sie freiwillig dem Feind zu überlassen, war es allemal.
Noch
bevor sie irgend etwas zum Schutz der nicht Wehrfähigen unternehmen konnten,
ertönte das scheußliche Kriegsgeschrei der Orks des Nebelgebirges. Mit dem
letzten Aufflackern der Abendsonne strömten sie wie eine Sturmflut von drei
Seiten heran.
Einige
ritten auf besonders großen Wölfen und alle schwenken sie ihre bizarren Waffen
und Knüppel und fletschten die Zähne ebenso blutlüstern wie die vierbeinigen
Bestien. Trotz der Überrumpelung gelang es den kleinen Leuten, den ersten
Angriff zurückzuschlagen. Ihre kurzen, gefiederten Pfeile bohrten sich in die
vorderste Reihe der Feinde und trafen todbringend ihr Ziel. Der Sturm geriet
ins Stocken und wütendes Gebrüll zeigte den Eingeschlossenen an, daß die Orks
geglaubt hatten, leichtes Spiel mit dieser Beute zu haben.
Die
entstandene Pause nutze Taleras, die Kinder weiter nach hinten zu bringen,
während die Alten und Frauen sich entschieden dagegen wehrten, beiseite
geschoben zu werden. Sie bewaffneten sich mit Äxten und Schaufeln und schauten
so grimmig drein, daß einem bei ihrem bloßen Anblick bange werden konnte.
Noch
immer befanden sich Orgonas, Halderic und Merimas auf ihren Ochsenkarren, doch
letztere bemühten sich trotz ihrer Verletzungen, die inzwischen recht gut
verheilten, selbständig herab und mischten sich unter die Kämpfenden, als just
der nächste Ansturm heranbrauste. Sie standen noch recht wackelig auf ihren
Beinen und hatten kaum große Chancen, diesen Kampf zu überleben. Dennoch
wollten sie nicht müßig herumstehen.
Die
zweite Attacke wurde härter geführt und richtete eine fürchterliche Verheerung
in den Reihen der Hobbits an, als die schartigen Wurfbeile sich in ihre Glieder
und Leiber bohrten. Irgendwoher hatten die Orks Feuer besorgt und sie schossen
nun ihre brennenden Pfeile ab. Zwar wurden fast alle von der Luftströmung
wieder gelöscht, doch einer der Pfeile kam brennend herüber und fuhr
ausgerechnet in den einzigen dürren Busch, den es im ganzen Umkreis gab und der
unmittelbar vor den Augen eines ohnehin aufgebrachten Bullen stand. Der Bulle
brüllte und schlug um sich, das Vieh geriet in Panik und brach aus. Als es über
den hintersten Ochsenkarren hinweg brauste, wurden zwar viele der Orks und
Wölfe niedergetrampelt, doch auch einige Hobbits tödlich von den Hufen der
rasenden Rinder getroffen.
Beim
dritten Angriff brachen die Feinde durch.
~~~*~*~*~~~
Durch die
großen Fenster seines Arbeitszimmers fielen helle Sonnenstrahlen und ließen
eine leichte Spur feinen Staubes auf den unzähligen Büchern und Schriftrollen,
die in deckenhohen Wandregalen standen oder lagen, erkennen. Auf dem Ast einer
Stechpalme, der über den Balkon ragte, sangen zwei Vögel ihr fröhliches Lied.
Die Luft war erfüllt von aromatischen Gewürzen und dem lieblichen Duft bunter
Herbstblumen, die in einen wundervollen Strauß gebunden auf dem Tisch in der
Mitte des Raumes standen. Doch der Herrscher Bruchtals schien keinen Sinn für
all die Schönheit zu haben. Er saß an dem großen, kunstvoll verzierten
Schreibtisch und hielt ein auseinandergerolltes Pergament in den Händen, das er
mit mißbilligend in die Höhe gezogener Augenbraue betrachtete.
„Was bringt
dich so aus der Fassung, mein Fürst?“ Der Eintretende nahm mit breitem Grinsen
ihm gegenüber Platz. Der ironische Tonfall seiner Worte zeigte an, daß er sehr
gut über den Kummer des dunkelhaarigen Elben Bescheid wußte.
„Wann
hast du es erfahren und wie?“
„Ich bin
dein Freund. Es ist meine Aufgabe zu wissen, was dir Unmut bereitet, auch wenn
ich dich nicht immer davor bewahren kann“, erklärte Glorfindel ausweichend und
beobachtete amüsiert wie Elrond mit sichtlichen Zeichen des Ärgers den
silbrigen Kandelaber an die äußerste Ecke seines Schreibtisches verbannte.
„Aber ich
verstehe nicht, was dich an dieser großartigen Zwergenarbeit so erbost“, goß er
bewußt noch etwas Öl ins Feuer. „Es ist ein Zeichen der Wertschätzung, das dein
lieber Schwiegervater dir zur Jährung eures Hochzeitstages überreicht.“
Elrond
schnaufte ungehalten. „Celeborn konnte ihn noch nie leiden *.“
„Dafür
mochte Galadriel ihn umso lieber.“ Glorfindel lehnte sich genüßlich gegen die
hohe Rückenstütze. „Es fragt sich nun, wen von euch beiden er mit dieser Geste
treffen wollte.“ Der blonde Fürst ließ eine Haarsträne durch seine Finger
gleiten und konzentrierte sich darauf, wie der Sonne Strahlen sie in flüssiges
Gold verwandelten.
Mit
leicht schief gelegtem Kopf verfolgte Elrond eine Weile diese Zurschaustellung
blasierter Gelassenheit. Dann überflog er zum wiederholten Male die feinen,
aber markant geschwungenen Tengwar. „Ich vermute, du hast bereits deine eigene
Theorie zu dieser Streitfrage.“
„Die
hätte ich, wenn es eine wäre.“ Glorfindel schaute auf und lächelte
unergründlich. „Doch beruhige dich, mein Freund. Wahrscheinlich ist er einfach
froh, das Ding los zu sein. Du weißt, daß er ein gerader Charakter ist, der
selten oder nie seine Zuflucht in rätselhaften Andeutungen sucht.“
Der
dunkelhaarige Elbenfürst nickte zustimmend und legte nun endlich das Pergament
zur Seite.
„Ist
Taurfaron schon mit seinen Kriegern aus dem Nebelgebirge zurückgekehrt?“
~~~*~*~*~~~
Lobelia Haferstroh
stand mit wild zerzaustem Haar auf einem umgedrehten Wasserfaß und teilte
heftige Hiebe in alle Richtungen aus. Die Orkschädel krachten unter dem harten
Holz und auch die empfindlichen Schnauzen der räudigen Wölfe hatten bereits
schmerzhafte Bekanntschaft mit dem vielseitigen Gehstock gemacht. Die ältliche
Frau schnaufte wie ein rostiger Wasserkessel und unterstützte ihre Schläge mit
Verwünschungen, die den guten Boldegrin vor Neid hätten erblassen lassen.
Trotz
seines hohen Alters schwang der weißhaarige Albadoc kraftvoll eine schwere
zweischneidige Axt. Mit dem Geschick eines Mannes, der sein Leben lang mit
Werkzeugen aller Art zu tun hatte, beförderte er bei jedem Schlag einen der
dunklen Gestalten ins Jenseits und arbeitete dabei mit solch schweigsamem
Grimm, daß es schien, der Geist eines Urahnen sei wieder auferstanden und halte
nun blutige Ernte für das Leid, das seinen Nachkommen angetan wurde.
Auf der
hinteren Rampe des Ochsenkarrens standen Menegilda und Rosilot Seite an Seite
und zogen die ergatterten Schaufeln jedem Lümmel um die Ohren, der versuchte,
an dem Gefährt hinaufzuklettern. Am anderen Ende, einen Fuß auf das Sitzbrett
gestemmt, den anderen im Innern des Wagens, schoß Fredoc seine Pfeile ab. Seine
Haltung sagte deutlicher als Worte: „Wenn ihr zu meinem Freund wollt, müßt ihr
erst an mir vorbei!“ und niemand kam auf die Idee über den zwar kleinen, aber
treffsicheren Mann zu lachen.
Boldegrin
Weidenbinder war noch nie ein guter Schütze gewesen. Nicht zu stolz, seine
Schwäche einzugestehen, hatte er seinen Bogen einem fähigeren Mann überlassen
und sich statt dessen mit einem großen Fleischmesser bewaffnet. Es dauerte
nicht lange, da waren seine Kleidung, Gesicht und Haare mit dem Blut der Gegner
bespritzt, die sich tot zu seinen Füßen türmten und ihm allmählich die
Bewegungsfreiheit nahmen. Nach anfänglichem Widerstreben kletterte er auf die
verunstalteten Körper, um sich wieder Luft zu verschaffen.
Im
düsteren Licht der Dämmerung tanzte die buschige Feder am Amtshut des Thains hell
und leuchtend wie ein Elmsfeuer über den Kampfplatz. Taleras Winterkorn hatte
längst seinen letzten Pfeil verschossen und schlug mit dem stabilen Bogen zu.
Dabei bemühte er sich, die Leute seines Volkes zu verteidigen wo er konnte,
worüber er oft seine eigene Sicherheit aus den Augen verlor. Ein langer
blutiger Schnitt lief über seine Stirn, und ein tiefer Stich im rechten Oberarm
hatte ihn seine Waffe in die linke Hand wechseln lassen, mit der er nicht
weniger kräftig ausholte. Neben ihm kämpfte todesmutig der alte, fette Kater.
Seine scharfen Krallen bohrten sich in das Gesicht des Orkhäuptlings und mit
kaltblütiger Präzision kratzte er ihm die Augen aus, während einer der großen
Hunde ihm den Rücken frei hielt.
Noch ein
letztes Mal sammelten die Feinde ihre Kräfte, um den vernichtenden Anschlag zu
führen. Fest und zu allem entschlossen erwarteten die Überlebenden sie. Nichts
als das sich weiter ausbreitende Feuer, das sich begierig von Wagen zu Wagen
fraß, erhellte den Platz. Nichts als sein Knistern, das tiefe Atemholen der
Erschöpften und das Stöhnen der Verwundeten waren zu hören. Die Situation war
verzweifelt. Diesmal würde es keinen Morgen geben, der mit seinem Licht die
Kobolde vertrieb. Diesmal würde der gefleckte Hahn nicht das Ende des Kampfes
verkünden.
Grausame
Entschlossenheit malte sich auf den Zügen der sonst so friedfertigen Halblinge,
als ihr Verderben laut und bestialisch kreischend heranstürmte. Nur etwa die
Hälfte von ihnen stand noch auf den Beinen und es sah so aus, als sollten auch
diese die Nacht nicht überdauern.
Von drei
widerlichen Wölfen bedrängt gelang es Lobelia nicht länger, deren spitze Zähne
von sich fernzuhalten. Eine der Bestien biß sich in ihrem Unterschenkel fest,
eine zweite in ihrem Arm, den sie abwehrend vor den Kopf gehalten hatte. Mit
der linken Hand schwang sie kühl berechnend ihren Gehstock und brach dem
dritten Angreifer mit einem gekonnten Schlag das Genick. Plötzlich durchzuckte
sie ein heftiger Schmerz, der ihren Körper erbeben ließ. An sich herunterblickend,
erkannte sie den rostigen Griff eines Messers, das aus ihrer Leibesmitte
hervorstak. Zitternd sank sie zu Boden. Der geifernde Atem eines Wolfes war das
letzte, was sie von diesem Leben wahrnahm. So wurde ihr wenigstens der grausame
Anblick erspart, als zwei der zottigen Biester den Käfig ihrer Lieblinge
sprengten und ihre Hühner zerrissen.
„NEIN!“
Boldegrin stürzte herbei, doch er konnte nur noch die tote Hand der alten
Freundin ergreifen. Dann bereitete auch ihm die schartige Klinge eines Kobolds
ein rasches Ende.
Mit
letzter Kraft hielt Fredoc sich auf den Beinen. Ein vergifteter Orkpfeil ragte
aus seinem Oberschenkel und allmählich gaben die Knie der Erschöpfung nach.
Neblige Dunstfäden verschleierten seinen Blick, und der Knüppel in seiner
erhobenen Hand sank kraftlos auf den Gegner herab. Der grinste mit brutaler
Genugtuung und holte mit dem Schwert aus, um sein leichtes Opfer zu erlegen.
Die Schneide schwebte einige Augenblicke über dem Kopf des bärtigen Mannes,
dann öffnete sich die Faust, und die Waffe fiel klirrend zu Boden. Fredoc riß
ungläubig die Augen auf. Aus der Brust des Orks ragte die Spitze eines langen,
weißen Pfeiles. Das Biest klappte nach hinten und auch Fredoc sank benommen auf
den Boden des Karrens. Dann wurde es schwarz um ihn.
~~~*~*~*~~~
Wie aufs
Stichwort trat der Diener ein und meldete einen Boten des Hauptmannes. Elrond
senkte auffordernd den Kopf, erhob sich und trat an das Fenster, während der Gemeldete
fast augenblicklich in der Türöffnung erschien. Sein Waffenrock war beschmutzt
und zeigte eindeutige Zeichen eines Kampfes. Sein Pferd hatte er vor dem großen
Tor abgestellt. Es beschnupperte soeben prüfend die Obstschale auf dem breiten
Sims und stibitzte sich wählerisch einen der süßen, roten Äpfel.
Der Herr
Bruchtals beobachtete sinnend das Tier und ließ den Elbenkrieger bewußt eine
Weile warten. Was er zu sagen hatte, hatte keine Eile. Daß Taurfaron einen
Boten sandte, konnte nur zweierlei bedeuten. Entweder war der Kampf noch im
Gange und die Krieger benötigten Verstärkung - in diesem Fall wäre der Bote
lange und scharf geritten, denn die Sonne stand im Zenit und die dunklen
Kreaturen wagten es nicht, zu dieser Tageszeit aus ihren Schlupfwinkeln zu
kommen. Das Pferd dort unten im Hof aber, wies keinerlei Zeichen der
Erschöpfung auf. Sein Atem ging ruhig und sein Fell glänzte nicht vom Schweiß.
Also
konnte er davon ausgehen, daß die Elben in der letzten Nacht in ein Handgemenge
verwickelt waren und Taurfaron Verletzte bei sich hatte, mit denen er nicht so
schnell voran kam. Darum hatte er einen Boten geschickt, der ihre Ankunft
melden sollte, damit die Krankenlager vorbereitet werden konnten.
Eine fast
lächerlich simple Schlußfolgerung.
„Wie
viele sind es?“ erkundigte sich Elrond, ohne sich umzuwenden.
„Mein
Fürst?“ Der Bote war verunsichert und Elrond verzog den Mund zu einem kaum
merklichen Lächeln. Es bereitete ihm heimlich Vergnügen, wenn es ihm glückte,
die jüngeren und unerfahrenen Elben zu verblüffen.
Als er
sich bedächtig umdrehte - die Hände im Rücken gefaltet - gewahrte er das
süffisante Grinsen seines blonden Freundes und sogleich wich die Heiterkeit in
seinem Antlitz einer arrogant in die Höhe zuckenden Augenbraue. Natürlich, einem
Fürsten wie Glorfindel konnte er in dieser Hinsicht nichts vormachen.
Er wandte
sich an den Boten und wiederholte freundlich seine Frage: „Wie viele Verletzte
bringt er und welcher Art sind ihre Verwundungen?“
„Nur
zwei, mein Fürst, doch sind es keine Angehörigen unseres Volkes.“
Damit
hatte Elrond nicht gerechnet. „Waldläufer?“
„Nein,
aber es sind Menschen... glaube ich. Wir kamen dazu, als eine Horde Wölfe und
Orks ihren Wagentreck überfiel. Es gab viele Tote und noch mehr Verwundete.
Doch sind die Überlebenden meist nicht so schwer verletzt, daß sie unserer
Hilfe bedürfen. Nur zwei von Ihnen erlitten Vergiftungen.“
„Orkpfeile“,
nickte Elrond verstehend und suchte in Gedanken bereits seine Kräuter und
Salben zusammen.
„Einer wurde
von einem vergifteten Orkpfeil getroffen, ja, der andere bereits vor längerer
Zeit von einer Düsterwald-Spinne gebissen.“
Elrond
war an seinen Schreibtisch getreten und öffnete die oberste Schublade. Er
blickte nicht auf, als er fragte: „Wie lange ist das her?“
„Vier
Wochen, mein Fürst.“
* siehe
“Hamfast Gerstenbräu”