Kapitel 10: Orks und Wölfe

 

 

 

Fredoc schlief unruhig. Was sehr uncharakteristisch für ihn war. Weder die Sorge um den Gesundheitszustand seines Freundes, noch das lautstarke Gewitter der letzten Tage, hatten ihn erfolgreich in seinem Schlummer stören können. Auch in dieser Nacht reichte die nachhaltig einsetzende Kälte nicht aus, ihn völlig zu wecken. Brummend drehte er sich auf die andere Seite und zog die Decke noch höher über seine Ohren. Keine wirklich gute Lösung wie sich sogleich herausstellte, denn dadurch wurden seine Füße entblößt. Noch intensiver grummelnd rieb der Hobbit sie im Halbschlaf gegeneinander und zog, als alles nichts half, die Beine dicht an den Körper heran, beförderte die kalten Enden so wieder in den wärmenden Schutz der wollenen Decke. Doch auch jetzt wollte ein erholsamer Schlaf sich nicht einstellen. Unbarmherzig fuhr der Frost durch die schützende Hülle und ließ den ganzen kleinen Kerl bibbern. Immernoch genügte es nicht, ihn erwachen zu lassen und so zittere er von unklaren Träumen geplagt in sich hinein, bis die Sonne aufging.

 

Bei ihren ersten Lichtstrahlen kam er endlich zu sich, gähnte geräuschvoll und schob die Arme unter der Decke hervor um sich zu räkeln, doch steckte er sie ob der Eiseskälte blitzschnell zurück in die verhältnismäßig warme Bettstatt. Plötzlich munter setzte er sich auf, blickte sich um und glaubte erst gar nicht, was er da sah. Erst nach einigem Blinzeln und als er sich ausgiebig den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, war er überzeugt, nicht einem Traumbild zu erliegen. Er schüttelte seine dunklen Locken aus, kämpfte sich unter der steifen Decke hervor und bestaunte die dünne weiße Schneeschicht, die die Felsen ringsum, die Berggipfel über ihnen, ebenso wie die Wagen und den Lagerplatz, bedeckte.

 

Von denen, die unter freiem Himmel übernachtet hatten, hatte es niemand so lange im Schlaf ausgehalten wie der bärtige, junge Mann. Bestrebt, sich ein wenig Wärme zu verschaffen, liefen alle geschäftig im Lager umher, spannten bereits die Ochsen ein, räumten hier ein Frachtstück auf und dort wieder ab oder stampften nur mit den Füßen auf die Erde, um das Blut in Fluß zu halten.

 

Boldegrin hatte eine andere Möglichkeit gefunden, sich anzuwärmen und frischte gerade seinen Wortschatz an derben Beschimpfungen auf, die er probeweise an der zähen Lobelia ausließ. Die zickige Dame blieb ihm ihrerseits keine Beleidigung schuldig. Taleras redete auf ein paar Männer ein, die sich kurz darauf auf den Weg machten, die Gegend zu erkunden. Menegilda hantierte bereits mit einem schweren, eisernen Topf herum, und Rosilot diskutierte hitzig mit Ilberic, weil sie es auf dessen besonders warme Decke abgesehen hatte. Nur das Vieh stand völlig unbeeindruckt kreuz und quer zwischen den Felsen und schnupperte höchstens einmal neugierig an der weißen Pracht.

 

Seit sechs Tagen nun währte ihre Reise über das Gebirge. Nach dem ersten steilen Paß stieg das Gelände weite Wegstrecken hindurch gemächlicher an, doch immer wieder mußten sie ihre Seile hervorholen, um einen kleineren Abschnitt zu überwinden. Es war nur gut, daß der Frost sie nicht schon früher überrascht hatte, als sie sich fast einen kompletten Tag lang über das glatte und rutschige Plateau gekämpft hatten. Bei der Überfahrt verloren sie einen Ochsenkarren, mit dem sie sich zu weit an die Schlucht heranwagten. Die Räder rutschten ab und nichts und niemand konnte das Fuhrwerk aufhalten. Zwar waren in diesem keine alten Leute untergebracht und der Fahrer hatte sich mit einem gewagten Sprung auf das Plateau gerettet, doch die Lebensmittel sowie die beiden Zugtiere waren mitsamt dem Gefährt die Klippen hinabgestürzt.

 

Hier war der steinige Pfad teilweise so breit, daß die Fuhrwerke ohne Schwierigkeiten zu zweit nebeneinander herfahren konnten, dann so eng, daß die Radnaben an beiden Seiten anstießen und drohten, stecken zu bleiben. Dann versperrten wieder Felsbrocken den Weg, die es galt beiseite zu schaffen.

 

Noch hatten sie den höchsten Gipfel lange nicht erreicht, der bedrohlich über ihren Köpfen hing und gar nicht näher rücken wollte. Immer wenn sie dachten, nun müßten sie ihn bald erreicht haben, schob sich ein weiteres Tal oder eine Felsenflucht zwischen sie und die Ungewißheit. Es war als würde eine Luftspiegelung sie an der Nase herumführen, und manchmal schien es, als entfernten sie sich immer weiter von ihrem Ziel. Nur die mit unumstößlichem Gleichmut Tag um Tag in ihrem Rücken auf- und vor ihren Augen niedergehende Sonne ließ sie noch daran glauben, daß sie nicht von ihrer Richtung abgewichen waren.

 

Fredoc rieb die Hände aneinander und blies kräftig hinein. Feiner weißer Nebel stieg vor seinem Gesicht auf und nahm ihm für kurze Zeit die Sicht auf die verbliebenen 13 Ochsenkarren. Unwillkürlich wanderte sein Blick von diesen westwärts und er fragte sich, wie viele von ihnen wohl auf der anderen Seite des Nebelgebirges ankommen würden. Den letzten hatten sie verloren, als das Seil bei einem ihrer steilen Aufstiege gerissen war und das herabsausende Fuhrwerk an den harten Steinen zerschellte wie eine reife Tomate. Dabei war auch sein Lenker zu Tode gekommen und es hatte lange gedauert, bis die entsetzten Leutchen sich ein wenig beruhigt hatten und noch viel länger, bis sich jemand aus der verängstigten Schar dazu bereit erklärt hatte, den nächsten Wagen hinaufzuführen.

 

Nach einer heftigen Diskussion, bei der sogar das Wort >Umkehr< gefallen war, war es ausgerechnet die widerspenstige Lobelia gewesen, die mit ihren harschen Worten allen neuen Mut zugesprochen und sich selbst auf den Bock des Karren gesetzt hatte. Fredoc hatte herzinnigst gebetet, daß sie die Fahrt überstehen möge. Nicht nur, weil er sie trotz ihrer Schrullen gut leiden mochte, sondern auch, weil er nicht wußte, wie es sonst weitergehen sollte. Thain Taleras hatte ähnlich empfunden und die gute Frau bei ihrer Ankunft spontan in die Arme geschlossen. Lobelia hingegen tat die Angelegenheit mit einer wegwerfenden Geste und einer geringschätzigen Bemerkung ab.

 

Von nun an wurde jedes Tau peinlich genau auf Abschürfungen untersucht, bevor es zum Einsatz kam und es hatte seither keine weitere Tragödie gegeben.

 

Fredoc verfolgte mit den Augen die beiden Kundschafter, die der Thain an diesem Morgen losgesandt hatte. Sie zogen mit ihren Füßen dunkle Linien in den frisch gefallenen Schnee. Seit dem Zwischenfall mit den Wölfen hatten sie die Order, sich nicht außer Sichtweite zu begeben. Eine Sicherheitsvorkehrung, die jedoch dazu führte, daß niemand wußte, wie der Pfad weiterverlaufen würde und welche Strapazen ihnen noch bevorstanden.

 

Stolz war Rosilot mit Ilberics Decke in dem Fuhrwerk verschwunden, das den armen Orgonas beherbergte. Menegilda folgte ihr mit einer Schüssel stark verdünntem Brei, wie sie ihn, seit er nicht mehr richtig zu sich kam und somit keine feste Nahrung mehr aufnehmen konnte, dem Kranken einflößten. Entgegen aller Hoffnung hielt sich Orgonas’ Zustand konstant, zwar konstant schlecht, aber die teure Medizin aus der Menschenstadt hatte zumindest eine weitere Ausbreitung des Giftes verhindert. Unglücklicherweise war dieses Mittel am Vorabend ausgegangen und Fredoc hatte es noch nicht über sich gebracht, die beiden Frauen davon in Kenntnis zu setzen. Jeden Moment würde Rosilots blasses Gesichtchen am Wagenverschlag erscheinen und sie würde nach dem Fläschchen rufen, das er ihr unter einem Vorwand abgeschwatzt hatte. Resigniert wandte er sich ab, um sich im Lager nützlich zu machen.

 

„Fred!“ Der Angerufene zuckte zusammen, was den Versuch sich taub zu stellen vereitelte. Er hörte wie jemand vom Wagen sprang und auf ihn zugelaufen kam. „Fred, wo hast du gestern die Flasche mit der Medizin hingetan?“

 

„Guten Morgen, Rosi!“ Fredoc strahlte sie übertrieben gut gelaunt an und zupfte an der Hutkrempe.

 

„Morgen, Fred“, kam die ungeduldige Antwort, „du hast sie doch, nicht wahr? Ich hab schon den ganzen Karren danach abgesucht, aber sie ist nicht da.“

 

„Oh, Rosi, ich hab übrigens herausgefunden, wie Orgo von den Kröten erfahren hat. Weißt du, ich dachte erst, er hätte irgend welche außergewöhnlichen Fähigkeiten entwickelt, was natürlich eine Torheit ist oder es hätte etwas damit zu tun-“

 

„Fred?“

 

„-naja, es war ja eigentlich vorhersehbar, daß da nichts Ungewöhnliches im Gange war aber-“

 

„Fred!“

 

„-schließlich konnte man ja nicht wissen und deshalb hab ich nachgeforscht um – Autsch!“

 

Fredoc biß die Zähne zusammen und hüpfte ungeschickt auf dem linken Fuß, weil der andere unliebsame Bekanntschaft mit Rosilots forderndem Auftreten gemacht hatte.

 

„Aber Rosi, warum trittst du mich denn?“ jammerte er kläglich und suchte mit der Hand nach einer Stütze.

 

„Die Flasche, Fred! Weißt du wo sie ist?“ drängte das Mädchen, dem so gar nicht der Sinn danach stand, sich die Geschichte seiner langwierigen und ungeheuer ausgeklügelten Nachforschungen anzuhören. Sie hatte auf ihre direkte Frage von den beiden Lausebengeln erfahren, daß Orgonas ihnen bei der Ausarbeitung dieses hinterhältigen Racheaktes geholfen hatte. Manchmal waren Männer eben auch nur Kinder...

 

„Tja, weißt du“, wand sich der junge Mann, der einsah, daß er sie nicht länger mit Reden hinhalten konnte. Behutsam stellte er den geschundenen Fuß wieder auf die Erde und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. Sein Blick zuckte unruhig über das Lager und suchte einen Ausweg aus dieser heiklen Lage. „Ich hab sie zu Hams Sachen gesteckt“, was nicht gelogen war. Die Flasche war tatsächlich dort. „Ich bringe sie dir sogleich!“

 

„Aber beeil dich“, nickte Rosilot endlich befriedigt und ging zurück zu ihrem Kranken.

 

„Pfui, Fredoc! Was bist du doch für ein feiger Hund!“ verachtete dieser sich selbst und während seine Augen dem Mädchen folgten wußte er auch, weshalb er es nicht fertig gebracht hatte, ihr die Wahrheit zu gestehen. Sie sah so gebrechlich aus, so wund an Leib und Seele. Fredoc senkte den Kopf und seufzte tief. Beinahe vergaß er über ihren Ängsten seine eigenen.

 

Von Norden fegte eisiger Wind heran und wirbelte den lockeren Schnee durcheinander, von den Wagen herunter und quer durch das Lager. Fredoc klappte den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Es war ihm, als wären alle Geräusche um ihn herum verstummt.

 

Leise knirschte es unter seinen Füßen, als er ziellos und mit hängenden Schultern zwischen den vertrauten Gestalten hindurch schlurfte. Die Geschäftigkeit der Leute seines Volkes war mit einem Mal aus seinem Bewußtsein verbannt. Der Gedanke an das Frühstück nicht länger präsent. Ein trüber Schleier legte sich über seine Augen, als er in sich hinein versank. Dabei murmelte er unverständliches Zeug in seinen Bart. Erst als er davor stand merkte er, daß ihn seine Füße unversehens zu seiner Lagerstatt geführt hatten. Hier lag neben seiner Decke und mit einer dünnen Schicht aus Staub und Schnee bedeckt der herrliche Sattel des Ponys, der ihm in den letzten Tagen als Kopfkissen gedient hatte. In den geräumigen Taschen steckte die verhängnisvolle - weil leere - Medizinflasche.

 

Fredoc beugte sich herab und löste die geflochtenen Lederriemen. Er zog die Phiole halb heraus und verharrte in Unschlüssigkeit darüber, was er nun tun sollte. Schlußendlich schob er das Gefäß wieder zurück an seinen Platz und richtete sich noch nicht ganz überzeugt wieder auf.

 

Seine Augen wanderten suchend umher, verweilten kurz bei Taleras und blieben dann an Albadoc haften. Der Greis, der sonst darauf bestand, es den Jungen noch immer gleich tun zu können, nutzte sein Alter geschickt aus, sich vor unliebsamen Arbeiten zu drücken; wie dem Abbruch des Lagers und dem Verstauen der Ladung. So saß er auch jetzt gemütlich in seine Schlafdecke gewickelt auf einer Kiste und kaute zufrieden auf einem Stück Dörrfleisch herum.

 

„Albadoc?“ Fredoc schlich zaudernd näher. Zwei große, helle Augen blickten ihn fragend an.

 

„Setz dich, mein Junge“, forderte der Alte ihn auf und rückte ein Stück zur Seite.

 

Fredoc ließ sich umständlich nieder und schob den Hut in den Nacken.

 

„Du hast ein Problem?“

 

„So ist es. Ich hatte gehofft, du könntest mir einen Rat geben.“ Ohne Umschweife erklärte er ihm, worum es ging und sah ihn als er geendet hatte kummervoll an. „Was soll ich tun?“

 

„Was du tun sollst?“ Albadoc schluckte das letzte Stück Fleisch hinunter und zuckte mit den Achseln. „Du kannst ihr die Wahrheit sagen.“

 

Fredoc stöhnte.

 

„Oder du kannst die Flasche mit Wasser füllen.“

 

„Ich kann... WAS?“ Ungläubig starrte er den Sprecher an. Der zuckte nur abermals die Schultern und stocherte mit dem Fingernagel nach einem Fleischrest zwischen seinen Zähnen.

 

„Ist vielleicht barmherziger, als ihr die letzte Hoffnung zu nehmen.“

 

„Aber es wäre eine glatte Lüge“, empörte sich der junge Mann.

 

„Nun, du hast immer noch die andere Möglichkeit.“ Allmählich waren die Aufbruchvorbereitungen erledigt. Albadoc erhob sich. „Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen.“ Er klopfte dem anderen mitfühlend auf die Schulter, um seinen Worten die Härte zu nehmen. „Ich beneide dich nicht darum.“

 

Indessen hatte Fredoc nicht viel Zeit, einen Entschluß zu fassen. Kaum hatte der Alte sich entfernt, tauchte der kleine Dodinas mit Rosilots Weisung auf, sofort die Medizin herbeizubringen. Heimlich und mit den besten Vorsätzen, ihr später am Tag reinen Wein einzuschenken, ließ Fredoc ein paar Tropfen Wasser in die Flasche gleiten, bevor er sie dem Jungen reichte. Unbehaglich verfolgte er wie dieser dem Mädchen das Behältnis zum Wagen brachte und seinen Schwindel damit festigte. Er hob bereits den Fuß, um das Unrecht rückgängig zu machen, doch da quälte ihn sein schlechtes Gewissen schon zu sehr, daß er es ohne äußerste Überwindung zuwege gebracht hätte. Später, vertröstete er sich und hoffte, daß ihm bis dahin etwas Vernünftiges einfallen würde.

 

Es war ein Tag wie viele zuvor. Gezeichnet von Mühen und Strapazen unterschiedlichster Art. Die Fuhrwerke wurden leichter und einfacher zu lenken, je weiter die Vorräte aufgebraucht wurden. Die Tiere wurden unruhiger je länger die Fahrt andauerte. Die kleinen Leute waren erschöpft und ausgezehrt. Nichts war geblieben von dem einst so munteren Wesen ihrer Fahrt, nur verbissener Überlebenskampf und der zähe Wille durchzuhalten. Und dennoch. Gerade in ihrer üblen Lage bewiesen die Halblinge immer wieder aufs Neue ihren optimistischen Lebensmut. In den Pausen zwischen den kräftezehrenden Märschen errichteten die Frauen noch mit der selben liebevollen Häuslichkeit das Lager und während die Männer das Vieh fütterten, tollten die Kinder lärmend und jauchzend herum.

 

Am späten Nachmittag kehrten die beiden Kundschafter mit sichtlichen Zeichen der Aufregung zurück. Gerade sandte die Sonne ihre letzten kühlen Strahlen über das Gebirge.

 

„Wir haben Spuren im Schnee entdeckt“, berichtete einer aufgelöst, „Spuren von Wölfen.“

 

Der andere nickte nicht minder besorgt. „Wir fanden außerdem Orkspuren! Es muß eine ganze Horde sein.“

 

Ängstliche Schreie breiteten sich sofort wie ein Lauffeuer über das gesamte Lager aus. Die Frauen scharten angstvoll ihre Kinder um sich, die Männer nahmen ihre Bögen vom Rücken und spannten die Sehnen.

 

„Also deshalb sind sie abgezogen. Sie haben ihre Verbündeten auf den Plan gerufen“, erkannte Taleras grimmig. „Wo habt ihr die Spuren entdeckt?“

 

„Sie ziehen sich von Süd nach Nord über den Pfad und scheinen von dort weiter nach Osten zu verlaufen. Wir hätten uns weiter entfernen müssen, um dies mit Gewißheit sagen zu können und das hattest du uns verboten...“ Es klang nach einer Mischung aus Reue und Erleichterung.

 

„Sie haben uns also aller Wahrscheinlichkeit nach umzingelt.“ Der Thain drehte sich einmal schnell im Kreis. Seine Gedanken rasten. In diesem Gelände hatten sie so gut wie gar keinen Schutz gegen irgendwelche Angreifer. Wenn auch die Fuhrwerke hier nur einen eng begrenzten Fahrraum hatten, so gaben doch die kleineren Felstrümmer zu ihren Seiten keine ausreichende Deckung. Einzig der tiefe Abgrund, der sich ungefähr fünfzig Meter neben ihnen erstreckte und die gesamte Länge der Südseite einnahm, konnte vielleicht von Nutzen sein.

 

Andererseits war dieses Gelände ebenso gut oder schlecht wie jedes andere. Heute Mittag waren sie durch eine enge Schlucht gefahren und Taleras wog die Vor- und Nachteile der beiden Landschaften gegeneinander ab. Nein, dort säßen sie wie Mäuse in einer Falle. Die steilen Wände würden zwar die Wölfe, nicht jedoch die Kobolde abhalten, die mit grauenerregender Sicherheit daran herunterklettern konnten, wie er wohl wußte. Ein schauerliches Heulen belehrte ihn außerdem, daß ihnen keine Zeit bleiben würde, sich dorthin zurückzuziehen.

 

„Fahrt die Wagen in einem Halbkreis an den Abgrund heran. Seht zu, daß ihr sie irgendwie durch die Felstrümmer hindurchlenkt“, befahl er deshalb. „Macht schnell! Fahrt sie dicht aneinander und bringt Kisten und Säcke heraus. Verteilt diese darunter und zwischen den Achsen, damit ihr euch dahinter verschanzen könnt. Das Vieh treibt herüber, hier dicht an die Schlucht heran, von wo kein Feind kommen kann.“

 

Die Anweisungen wurden in Windeseile in die Tat umgesetzt. Leider war das Ergebnis nicht so wie Taleras es sich vorgestellt hatte. Da alles Vieh innerhalb der Wagenburg untergebracht werden und den Leuten außerdem genügend Bewegungsfreiheit bleiben sollte, waren am Ende noch viel zu viele Lücken vorhanden. Außerdem wurde das Vieh so dicht an den Abgrund gedrängt, daß einige Tiere hinunterzustürzen drohten. Doch dem konnte nicht abgeholfen werden. Besser als sie freiwillig dem Feind zu überlassen, war es allemal.

 

Noch bevor sie irgend etwas zum Schutz der nicht Wehrfähigen unternehmen konnten, ertönte das scheußliche Kriegsgeschrei der Orks des Nebelgebirges. Mit dem letzten Aufflackern der Abendsonne strömten sie wie eine Sturmflut von drei Seiten heran.

 

Einige ritten auf besonders großen Wölfen und alle schwenken sie ihre bizarren Waffen und Knüppel und fletschten die Zähne ebenso blutlüstern wie die vierbeinigen Bestien. Trotz der Überrumpelung gelang es den kleinen Leuten, den ersten Angriff zurückzuschlagen. Ihre kurzen, gefiederten Pfeile bohrten sich in die vorderste Reihe der Feinde und trafen todbringend ihr Ziel. Der Sturm geriet ins Stocken und wütendes Gebrüll zeigte den Eingeschlossenen an, daß die Orks geglaubt hatten, leichtes Spiel mit dieser Beute zu haben.

 

Die entstandene Pause nutze Taleras, die Kinder weiter nach hinten zu bringen, während die Alten und Frauen sich entschieden dagegen wehrten, beiseite geschoben zu werden. Sie bewaffneten sich mit Äxten und Schaufeln und schauten so grimmig drein, daß einem bei ihrem bloßen Anblick bange werden konnte.

 

Noch immer befanden sich Orgonas, Halderic und Merimas auf ihren Ochsenkarren, doch letztere bemühten sich trotz ihrer Verletzungen, die inzwischen recht gut verheilten, selbständig herab und mischten sich unter die Kämpfenden, als just der nächste Ansturm heranbrauste. Sie standen noch recht wackelig auf ihren Beinen und hatten kaum große Chancen, diesen Kampf zu überleben. Dennoch wollten sie nicht müßig herumstehen.

 

Die zweite Attacke wurde härter geführt und richtete eine fürchterliche Verheerung in den Reihen der Hobbits an, als die schartigen Wurfbeile sich in ihre Glieder und Leiber bohrten. Irgendwoher hatten die Orks Feuer besorgt und sie schossen nun ihre brennenden Pfeile ab. Zwar wurden fast alle von der Luftströmung wieder gelöscht, doch einer der Pfeile kam brennend herüber und fuhr ausgerechnet in den einzigen dürren Busch, den es im ganzen Umkreis gab und der unmittelbar vor den Augen eines ohnehin aufgebrachten Bullen stand. Der Bulle brüllte und schlug um sich, das Vieh geriet in Panik und brach aus. Als es über den hintersten Ochsenkarren hinweg brauste, wurden zwar viele der Orks und Wölfe niedergetrampelt, doch auch einige Hobbits tödlich von den Hufen der rasenden Rinder getroffen.

 

Beim dritten Angriff brachen die Feinde durch.

 

 

 

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Durch die großen Fenster seines Arbeitszimmers fielen helle Sonnenstrahlen und ließen eine leichte Spur feinen Staubes auf den unzähligen Büchern und Schriftrollen, die in deckenhohen Wandregalen standen oder lagen, erkennen. Auf dem Ast einer Stechpalme, der über den Balkon ragte, sangen zwei Vögel ihr fröhliches Lied. Die Luft war erfüllt von aromatischen Gewürzen und dem lieblichen Duft bunter Herbstblumen, die in einen wundervollen Strauß gebunden auf dem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Doch der Herrscher Bruchtals schien keinen Sinn für all die Schönheit zu haben. Er saß an dem großen, kunstvoll verzierten Schreibtisch und hielt ein auseinandergerolltes Pergament in den Händen, das er mit mißbilligend in die Höhe gezogener Augenbraue betrachtete.

 

„Was bringt dich so aus der Fassung, mein Fürst?“ Der Eintretende nahm mit breitem Grinsen ihm gegenüber Platz. Der ironische Tonfall seiner Worte zeigte an, daß er sehr gut über den Kummer des dunkelhaarigen Elben Bescheid wußte.

 

„Wann hast du es erfahren und wie?“

 

„Ich bin dein Freund. Es ist meine Aufgabe zu wissen, was dir Unmut bereitet, auch wenn ich dich nicht immer davor bewahren kann“, erklärte Glorfindel ausweichend und beobachtete amüsiert wie Elrond mit sichtlichen Zeichen des Ärgers den silbrigen Kandelaber an die äußerste Ecke seines Schreibtisches verbannte.

 

„Aber ich verstehe nicht, was dich an dieser großartigen Zwergenarbeit so erbost“, goß er bewußt noch etwas Öl ins Feuer. „Es ist ein Zeichen der Wertschätzung, das dein lieber Schwiegervater dir zur Jährung eures Hochzeitstages überreicht.“

 

Elrond schnaufte ungehalten. „Celeborn konnte ihn noch nie leiden *.“

 

„Dafür mochte Galadriel ihn umso lieber.“ Glorfindel lehnte sich genüßlich gegen die hohe Rückenstütze. „Es fragt sich nun, wen von euch beiden er mit dieser Geste treffen wollte.“ Der blonde Fürst ließ eine Haarsträne durch seine Finger gleiten und konzentrierte sich darauf, wie der Sonne Strahlen sie in flüssiges Gold verwandelten.

 

Mit leicht schief gelegtem Kopf verfolgte Elrond eine Weile diese Zurschaustellung blasierter Gelassenheit. Dann überflog er zum wiederholten Male die feinen, aber markant geschwungenen Tengwar. „Ich vermute, du hast bereits deine eigene Theorie zu dieser Streitfrage.“

 

„Die hätte ich, wenn es eine wäre.“ Glorfindel schaute auf und lächelte unergründlich. „Doch beruhige dich, mein Freund. Wahrscheinlich ist er einfach froh, das Ding los zu sein. Du weißt, daß er ein gerader Charakter ist, der selten oder nie seine Zuflucht in rätselhaften Andeutungen sucht.“

 

Der dunkelhaarige Elbenfürst nickte zustimmend und legte nun endlich das Pergament zur Seite.

 

„Ist Taurfaron schon mit seinen Kriegern aus dem Nebelgebirge zurückgekehrt?“

 

 

 

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Lobelia Haferstroh stand mit wild zerzaustem Haar auf einem umgedrehten Wasserfaß und teilte heftige Hiebe in alle Richtungen aus. Die Orkschädel krachten unter dem harten Holz und auch die empfindlichen Schnauzen der räudigen Wölfe hatten bereits schmerzhafte Bekanntschaft mit dem vielseitigen Gehstock gemacht. Die ältliche Frau schnaufte wie ein rostiger Wasserkessel und unterstützte ihre Schläge mit Verwünschungen, die den guten Boldegrin vor Neid hätten erblassen lassen.

 

Trotz seines hohen Alters schwang der weißhaarige Albadoc kraftvoll eine schwere zweischneidige Axt. Mit dem Geschick eines Mannes, der sein Leben lang mit Werkzeugen aller Art zu tun hatte, beförderte er bei jedem Schlag einen der dunklen Gestalten ins Jenseits und arbeitete dabei mit solch schweigsamem Grimm, daß es schien, der Geist eines Urahnen sei wieder auferstanden und halte nun blutige Ernte für das Leid, das seinen Nachkommen angetan wurde.

 

Auf der hinteren Rampe des Ochsenkarrens standen Menegilda und Rosilot Seite an Seite und zogen die ergatterten Schaufeln jedem Lümmel um die Ohren, der versuchte, an dem Gefährt hinaufzuklettern. Am anderen Ende, einen Fuß auf das Sitzbrett gestemmt, den anderen im Innern des Wagens, schoß Fredoc seine Pfeile ab. Seine Haltung sagte deutlicher als Worte: „Wenn ihr zu meinem Freund wollt, müßt ihr erst an mir vorbei!“ und niemand kam auf die Idee über den zwar kleinen, aber treffsicheren Mann zu lachen.

 

Boldegrin Weidenbinder war noch nie ein guter Schütze gewesen. Nicht zu stolz, seine Schwäche einzugestehen, hatte er seinen Bogen einem fähigeren Mann überlassen und sich statt dessen mit einem großen Fleischmesser bewaffnet. Es dauerte nicht lange, da waren seine Kleidung, Gesicht und Haare mit dem Blut der Gegner bespritzt, die sich tot zu seinen Füßen türmten und ihm allmählich die Bewegungsfreiheit nahmen. Nach anfänglichem Widerstreben kletterte er auf die verunstalteten Körper, um sich wieder Luft zu verschaffen.

 

Im düsteren Licht der Dämmerung tanzte die buschige Feder am Amtshut des Thains hell und leuchtend wie ein Elmsfeuer über den Kampfplatz. Taleras Winterkorn hatte längst seinen letzten Pfeil verschossen und schlug mit dem stabilen Bogen zu. Dabei bemühte er sich, die Leute seines Volkes zu verteidigen wo er konnte, worüber er oft seine eigene Sicherheit aus den Augen verlor. Ein langer blutiger Schnitt lief über seine Stirn, und ein tiefer Stich im rechten Oberarm hatte ihn seine Waffe in die linke Hand wechseln lassen, mit der er nicht weniger kräftig ausholte. Neben ihm kämpfte todesmutig der alte, fette Kater. Seine scharfen Krallen bohrten sich in das Gesicht des Orkhäuptlings und mit kaltblütiger Präzision kratzte er ihm die Augen aus, während einer der großen Hunde ihm den Rücken frei hielt.

 

Noch ein letztes Mal sammelten die Feinde ihre Kräfte, um den vernichtenden Anschlag zu führen. Fest und zu allem entschlossen erwarteten die Überlebenden sie. Nichts als das sich weiter ausbreitende Feuer, das sich begierig von Wagen zu Wagen fraß, erhellte den Platz. Nichts als sein Knistern, das tiefe Atemholen der Erschöpften und das Stöhnen der Verwundeten waren zu hören. Die Situation war verzweifelt. Diesmal würde es keinen Morgen geben, der mit seinem Licht die Kobolde vertrieb. Diesmal würde der gefleckte Hahn nicht das Ende des Kampfes verkünden.

 

Grausame Entschlossenheit malte sich auf den Zügen der sonst so friedfertigen Halblinge, als ihr Verderben laut und bestialisch kreischend heranstürmte. Nur etwa die Hälfte von ihnen stand noch auf den Beinen und es sah so aus, als sollten auch diese die Nacht nicht überdauern.

 

Von drei widerlichen Wölfen bedrängt gelang es Lobelia nicht länger, deren spitze Zähne von sich fernzuhalten. Eine der Bestien biß sich in ihrem Unterschenkel fest, eine zweite in ihrem Arm, den sie abwehrend vor den Kopf gehalten hatte. Mit der linken Hand schwang sie kühl berechnend ihren Gehstock und brach dem dritten Angreifer mit einem gekonnten Schlag das Genick. Plötzlich durchzuckte sie ein heftiger Schmerz, der ihren Körper erbeben ließ. An sich herunterblickend, erkannte sie den rostigen Griff eines Messers, das aus ihrer Leibesmitte hervorstak. Zitternd sank sie zu Boden. Der geifernde Atem eines Wolfes war das letzte, was sie von diesem Leben wahrnahm. So wurde ihr wenigstens der grausame Anblick erspart, als zwei der zottigen Biester den Käfig ihrer Lieblinge sprengten und ihre Hühner zerrissen.

 

„NEIN!“ Boldegrin stürzte herbei, doch er konnte nur noch die tote Hand der alten Freundin ergreifen. Dann bereitete auch ihm die schartige Klinge eines Kobolds ein rasches Ende.

 

Mit letzter Kraft hielt Fredoc sich auf den Beinen. Ein vergifteter Orkpfeil ragte aus seinem Oberschenkel und allmählich gaben die Knie der Erschöpfung nach. Neblige Dunstfäden verschleierten seinen Blick, und der Knüppel in seiner erhobenen Hand sank kraftlos auf den Gegner herab. Der grinste mit brutaler Genugtuung und holte mit dem Schwert aus, um sein leichtes Opfer zu erlegen. Die Schneide schwebte einige Augenblicke über dem Kopf des bärtigen Mannes, dann öffnete sich die Faust, und die Waffe fiel klirrend zu Boden. Fredoc riß ungläubig die Augen auf. Aus der Brust des Orks ragte die Spitze eines langen, weißen Pfeiles. Das Biest klappte nach hinten und auch Fredoc sank benommen auf den Boden des Karrens. Dann wurde es schwarz um ihn.

 

 

 

~~~*~*~*~~~

 

 

 

Wie aufs Stichwort trat der Diener ein und meldete einen Boten des Hauptmannes. Elrond senkte auffordernd den Kopf, erhob sich und trat an das Fenster, während der Gemeldete fast augenblicklich in der Türöffnung erschien. Sein Waffenrock war beschmutzt und zeigte eindeutige Zeichen eines Kampfes. Sein Pferd hatte er vor dem großen Tor abgestellt. Es beschnupperte soeben prüfend die Obstschale auf dem breiten Sims und stibitzte sich wählerisch einen der süßen, roten Äpfel.

 

Der Herr Bruchtals beobachtete sinnend das Tier und ließ den Elbenkrieger bewußt eine Weile warten. Was er zu sagen hatte, hatte keine Eile. Daß Taurfaron einen Boten sandte, konnte nur zweierlei bedeuten. Entweder war der Kampf noch im Gange und die Krieger benötigten Verstärkung - in diesem Fall wäre der Bote lange und scharf geritten, denn die Sonne stand im Zenit und die dunklen Kreaturen wagten es nicht, zu dieser Tageszeit aus ihren Schlupfwinkeln zu kommen. Das Pferd dort unten im Hof aber, wies keinerlei Zeichen der Erschöpfung auf. Sein Atem ging ruhig und sein Fell glänzte nicht vom Schweiß.

 

Also konnte er davon ausgehen, daß die Elben in der letzten Nacht in ein Handgemenge verwickelt waren und Taurfaron Verletzte bei sich hatte, mit denen er nicht so schnell voran kam. Darum hatte er einen Boten geschickt, der ihre Ankunft melden sollte, damit die Krankenlager vorbereitet werden konnten.

 

Eine fast lächerlich simple Schlußfolgerung.

 

„Wie viele sind es?“ erkundigte sich Elrond, ohne sich umzuwenden.

 

„Mein Fürst?“ Der Bote war verunsichert und Elrond verzog den Mund zu einem kaum merklichen Lächeln. Es bereitete ihm heimlich Vergnügen, wenn es ihm glückte, die jüngeren und unerfahrenen Elben zu verblüffen.

 

Als er sich bedächtig umdrehte - die Hände im Rücken gefaltet - gewahrte er das süffisante Grinsen seines blonden Freundes und sogleich wich die Heiterkeit in seinem Antlitz einer arrogant in die Höhe zuckenden Augenbraue. Natürlich, einem Fürsten wie Glorfindel konnte er in dieser Hinsicht nichts vormachen.

 

Er wandte sich an den Boten und wiederholte freundlich seine Frage: „Wie viele Verletzte bringt er und welcher Art sind ihre Verwundungen?“

 

„Nur zwei, mein Fürst, doch sind es keine Angehörigen unseres Volkes.“

 

Damit hatte Elrond nicht gerechnet. „Waldläufer?“

 

„Nein, aber es sind Menschen... glaube ich. Wir kamen dazu, als eine Horde Wölfe und Orks ihren Wagentreck überfiel. Es gab viele Tote und noch mehr Verwundete. Doch sind die Überlebenden meist nicht so schwer verletzt, daß sie unserer Hilfe bedürfen. Nur zwei von Ihnen erlitten Vergiftungen.“

 

„Orkpfeile“, nickte Elrond verstehend und suchte in Gedanken bereits seine Kräuter und Salben zusammen.

 

„Einer wurde von einem vergifteten Orkpfeil getroffen, ja, der andere bereits vor längerer Zeit von einer Düsterwald-Spinne gebissen.“

 

Elrond war an seinen Schreibtisch getreten und öffnete die oberste Schublade. Er blickte nicht auf, als er fragte: „Wie lange ist das her?“

 

„Vier Wochen, mein Fürst.“

 

 

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* siehe “Hamfast Gerstenbräu”