Kapitel 8: Im Schatten des Nebelgebirges

 

 

 

Fredoc und Ilberic saßen seit einer geraumen Weile unbeweglich auf den Rücken ihrer Ponys, auf einer kleinen Anhöhe unweit des Lagers, und fixierten angestrengt einen Punkt in der Ferne, der sich ihnen langsam näherte. Das kleine Volk hatte gerade begonnen sein provisorisches Heim abzuschlagen. Die Laute der Betriebsamkeit drangen gedämpft zu den beiden Spähern herüber, die sich dadurch nicht im geringsten in ihrer hochinteressanten Beobachtung stören ließen. Sie sprachen lange Zeit kein Wort. Dafür arbeitete es hinter ihren Stirnen so angestrengt, daß man beinahe erwartete, jeden Moment kleine Rauchwolken von ihren Köpfen aufsteigen zu sehen.

 

„Rehe“, vermutete Ilberic endlich, als der Punkt sich beinahe verdoppelt hatte.

 

„Zu groß.“

 

„Ein Rudel Rehe.“

 

„Ich meinte: zu hoch.“

 

„Hirsche?“

 

„Ilberic!“ Obwohl es vorwurfsvoll klang, mußte Fredoc innerlich grinsen. Er konnte regelrecht hören, wie Orgonas ihn schalkhaft zurechtgewiesen und gefragt hätte, ob er auch an etwas anderes als ans Essen denken könnte.

 

Er ließ die Augen über die wahrhaft enorm gerundete Gestalt seines Begleiters wandern, der selbst für Hobbitverhältnisse als ausgesprochen gefräßig galt, und verzog die Mundwinkel in Richtung Ohren. Sein Freund war in solchen Dingen stets sehr direkt. Er selbst empfand zu großen Respekt vor dem Älteren, um seine Gedanken laut auszusprechen.

 

Statt dessen bemühte er sich um die nötige Ernsthaftigkeit, die ihm als Endzwanziger einem Erwachsenen gegenüber zustand und erklärte ruhig, bemüht seinen Ton nicht schulmeisterlich klingen zu lassen: „Die würden kaum so seelenruhig auf uns zukommen. Meinst du nicht?“

 

Ilberic brummte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, nickte dann aber zustimmend. Der andere stellte sich in den Steigbügeln auf, so gut dies bei seinem eigenen nicht geringen Körperumfang möglich war. Ham verdrehte unwillig die Ohren bei diesem akrobatischen Akt, ließ die Prozedur aber ansonsten ruhig über sich ergehen und spreizte nur die Vorderbeine ein wenig, um einen festeren Stand zu bekommen.

 

„Sieht mir eher nach einem Fuhrwerk aus.“

 

„Jaja, schön. Das kannst du jetzt gut behaupten. Bei der kantigen Form, die sich inzwischen abzeichnet...“

 

>...hättest du sicher auf einen Kastenkuchen getippt.< Fredoc konnte die freche Bemerkung eben noch herunterschlucken und biß sich schwermütig auf die Lippen. Orgonas’ Worte. Zweifellos. Er mußte sich zwingen, nicht zurück zum Lager zu sehen. Auch so konnte er Rosilots vorwurfsvollen Blick regelrecht in seinem Rücken spüren. >Dein bester Freund ist krank, er stirbt vielleicht...< und er hatte nichts besseres zu tun, als Taleras förmlich auf den Knien anzuflehen, wieder vorausreiten zu dürfen.

 

Nachdrücklich kniff er die Augen zusammen und drückte Daumen und Zeigefinger hart gegen die Tränensäcke, rechts und links der Nasenwurzel.

 

Menegilda hatte es sicher gut gemeint, aber ihre Kräuter zeigten nicht die geringste Wirkung. Nichts zeigte eine Wirkung. Sein Zustand war nicht schlechter geworden, hatte sich aber auch nicht gebessert.

 

In den wenigen wachen Momenten zwischen den von Albträumen zerrütteten Fieberschüben hatten ihm Rosilot und ihre Mutter abwechselnd die heiße Kräutersud und Fleischbrühe eingeflößt. Dabei war es schon als Erfolg zu verzeichnen, wenn er wenigstens einen Teil davon bei sich behalten hatte. Alle zwei Stunden wechselte das Mädchen den Verband, wusch seinen verschwitzten Körper, reinigte Augen, Mund und Nase von den gelblichen, schleimigen Absonderungen.

 

Letzte Nacht hatte er sie gewaltsam von ihm fortzerren und ihr ein paar Stunden Schlaf aufdrängen müssen. Die tadelnden Worte der Mutter waren zuvor ungehört an dem Mädchen, das inzwischen einem Nervenbündel glich, abgeprallt wie Wasser an einem Felsen. Die beiden Frauen rieben sich für seinen Freund auf. Und was hatte er für ihn getan? Nichts. Doch was hätte er auch tun können? Er fühlte sich furchtbar hilflos. Fredoc ballte die Hände zu Fäusten, daß das Weiß der Fingerknöchel hervortrat.

 

„Es ist tatsächlich ein Fuhrwerk.“ Ilberics Worte riefen ihn in die Gegenwart zurück. Er schreckte auf und brauchte einige Sekunden, die Nebelschwaden vor seinem inneren Auge zu verscheuchen und sich zu orientieren.

 

„Ein einzelnes Fuhrwerk. Wo es wohl herkommt und wem es gehört?“ Verwunderung sprach aus den Worten des Mannes, der die Geistesabwesenheit seines Begleiters gar nicht bemerkt hatte.

 

Fredoc antwortete nicht, sondern betrachtete nun seinerseits den Ankömmling. Es war ein recht großes Fuhrwerk. Nicht vergleichbar mit den schmalspurigen Karren, mit denen sie unterwegs waren, sondern beinahe doppelt so breit, soweit er das auf die Entfernung einschätzen konnte. Es besaß drei Achsen, einen kastenförmigen Bretteraufbau und wurde von sechs Maultieren gezogen, die je zu zweien nebeneinander und in drei Reihen hintereinander gingen.

 

Beinahe schockiert riß er die Augen auf. Gespanne aus vier Tieren hatte er bereits bei den Zwergen kennengelernt. Er war erst sehr wißbegierig gewesen, hatte jedoch bald das Interesse verloren, als der stämmige Sohn Aules ihm die komplizierte Handhabung der Zügel erklärte.

 

Sechs Tiere! Ilberic schien sich mit ähnlichen Überlegungen zu befassen. Ausgesprochen dämlich dreinblickend verfielen beide Hobbits in einen tranceähnlichen Zustand.

 

Als sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatten, konnten sie bereits das Rumpeln der Räder vernehmen und den bunten Anstrich des Kastenwagens erkennen, die einzelnen Verziehrungen jedoch noch nicht unterscheiden.

 

„Vielleicht sollten wir ihm entgegenreiten, bevor er über den Hügel kommt“, überlegte Fredoc, doch Ilberic schüttelte entschieden den Kopf.

 

„Er hält unmittelbar auf das Lager zu und wir haben kein Argument, das ihn bewegen könnte, seine Richtung zu ändern.“ Mißtrauisch beäugte er den dürren Menschen, der hoch auf dem Bock saß und sich nicht anmerken ließ, ob er seinerseits die beiden Reiter schon erblickt hatte. „Zumindest fällt mir keines ein“, korrigierte er sich.

 

„Dann laß uns zurückreiten!“ Fredoc zog Ham herum und trieb das Pony eilig hinunter ins Lager. Ilberic kam nur kurz nach ihm bei Taleras an, da hatte der Jüngere bereits aufgeregt begonnen, Bericht zu erstatten.

 

~*~

 

Kaum hatte er die Kuppe der letzten Erhebung erreicht und war der aufgeregten Schar ansichtig geworden, blitzten die raubvogelartigen Augen des Menschen auf. Rasselnd zog er die Luft ein, als wittere er bereits ein lohnendes Geschäft. In Gedanken rieb er sich die Hände. Bemüht, seinem verschlagenen Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu verleihen, blickte er lächelnd und nickend auf die Leutchen herab und hielt sein Fuhrwerk inmitten der Neugierigen an.

 

„Oh! Oho! Hallo! Willkommen meine kleinen Freunde! Willkommen! Tretet heran! Nur keine Scheu! Keiner hat so gute Ware wie der alte Dagnir! Hier findet ihr Töpfe, Decken, Nadel, Garn und vieles mehr! Alles, was man auf einer weiten Reise gebrauchen kann und was einem das harte Leben ein wenig angenehmer macht!“ pries er mit knatternder Stimme seine Ware an, wand die Zügel um einen Knauf und kletterte ungelenk mit seinen langen, dünnen Gliedern von dem hohen Kasten.

 

Ein paar geübte Handgriffe genügten, um die oberen seitlichen und hinteren Wände des Karrens hochzuklappen und sie mit je zwei kunstvoll gedrechselten Stempeln abzustützen, so daß sie eine Art Wandelgang auf drei Seiten des Gefährtes bildeten. Die unteren Wände senkte er herab. Sie waren mit Quersprossen versehen und ermöglichten es, bequem auf die Plattform hinaufzusteigen.

 

Dieses Fuhrwerk war ein ganz allerliebster Anblick. Jedes einzelne Brett war glatt gehobelt und lackiert und sorgfältig verarbeitet. Die hölzernen Räder waren mit eisernen Spangen eingefaßt, die selbst nach der Fahrt durch die staubige Landschaft sauber blitzten. Das Geschirr der wohlgenährten Maultiere war aus feinstem Leder, mit bunt glitzernden Metallplättchen verziert.

 

Das Innere des Wagens war ebenso adrett. Der Händler hatte nicht zuviel versprochen. Ordentlich gestapelt waren auf kleinstem Raum eine Unmenge an nützlichen Dingen versammelt, und man mußte sich schon sehr anstrengen wenn man einen Gegenstand suchen wollte, den es hier nicht gab. Alles war von einnehmend guter handwerklicher Qualität. Es dauerte auch keine drei Sekunden, bis sämtliche Hobbitfrauen und –mädchen mit lauten Geplapper den fahrenden Laden umlagerten.

 

Doch nicht nur für die weiblichen Wesen bot dieses Stückchen Zivilisation in der Wildnis eine willkommene Möglichkeit ihre Ausrüstung aufzubessern. „Wir sollten ein Seil eintauschen“, murmelte Taleras gerade halblaut vor sich hin und tippte sich mit dem Zeigefinger überlegend an die Lippen.

 

„Und eine Schaufel.“

 

„Und Lobelias Hühner“, knurrte Boldegrin, dem der ganze Wirbel um das Federvieh inzwischen gewaltig auf die Nerven ging.

 

„Eine Schaufel?“ Taleras ignorierte großzügig das unerhörte Vorhaben des Griesgrams und betrachtete Albadoc streng. „Dafür ist es wohl noch ein wenig zu früh“, fügte er düster hinzu.

 

Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen zwischen den Männern, dann dämmerte es dem Alten.

 

„Für die Karren! Oder besser gesagt für die Räder! Zum Ausgraben der Räder, wenn sie im Matsch stecken bleiben, wenn das, was sich da im Westen zusammenbraut als Regen herunterkommt!“ schimpfte er empört ob der Dreistigkeit, daß man ihm solch eine Gefühllosigkeit zugetraut hatte. Im selben Moment zerplatzte die Anspannung wie eine Seifenblase.

 

„Ein paar Hacken wären auch nicht schlecht“, sponn der Thain sogleich eifrig die Überlegung weiter, betrachtete eingehend das Bild, das sich vor seinen inneren Augen entwickelte und durchforstete es nach möglichen fehlenden Utensilien.

 

„Und ich sage, bezahlt ihn mit dem Flattervieh!“ brummte Boldegrin und stampfte in Richtung des Drahtgestells von dannen, um seine frevelhafte Absicht in die Tat umzusetzen. Bald darauf übertönte eine scheltende, schnarrende Stimme seinen tiefen, fordernden Baß.

 

Albadoc blickte Taleras um Aufmerksamkeit heischend an und zuckte nur die Achseln, als dieser in Gedanken versunken nicht darauf reagierte. Die beiden würden sich schon nicht die Köpfe einschlagen. Schließlich hatten sie das bisher auch nicht getan. Allerdings entbrannte der Streit dieses Mal doch sehr heftig und auch wenn der Alte nicht verstehen konnte, was die resolute Frau dem böswilligen Attentäter soeben entgegendonnerte, so klang es doch sehr nach einer Morddrohung.

 

„Wozu brauchst du ein Seil?“

 

„Eher einen dicken Strick. Einen recht langen und starken. Orgonas hatte die Idee die Ochsengespanne damit zu unterstützen, wenn wir in die Berge hinauf fahren. Zunächst würden wir auf einem Absatz eine Winde anbringen, den Strick hindurchführen und die Wagen mit hochziehen helfen. Eine Weile hatten wir sogar darüber nachgedacht, jemanden zurück nach Breth zu schicken, um etwas Geeignetes zu holen.“ Taleras warf einen wehleidigen Blick nach Norden. „Das ist jetzt vielleicht nicht mehr nötig.“

 

Albadoc fuhr sich mit der Hand über die Stirn und strich die weißen Locken nach hinten. „Wüßte zu gerne, wie’s dort jetzt aussieht...“

 

~*~

 

„Woher des Weges, Herr Dagnir, und wohin? Ein Mann wie Ihr kommt sicher weit herum. Setzt Euch und erzählt, wenn Eure Zeit dies zuläßt.“ Letzteres war natürlich nur eine Floskel. Freilich hatte der Mann Zeit, denn sein Gefährt wurde immer noch von den begeisterten kleinen Leuten in Beschlag genommen.

 

„Hoffentlich denken sie daran, daß wir das Zeug, das sie anschaffen auch transportieren müssen“, raunte Albadoc mehr amüsiert als besorgt und an niemand bestimmtes gerichtet.

 

Taleras bot dem Menschen großzügig seine Pfeife an, nachdem dieser sich ein wenig widerstrebend in die Runde der Dorfältesten gesetzt hatte. Skeptisch schnüffelte er an dem dargebotenen Rauchwerkzeug, winkte arrogant ab und steckte sich einen dunklen Streifen unappetitlich aussehenden Krautes in den Mund, auf dem er hingebungsvoll herumzukauen begann. Eigentlich hätte man erwartet, der Kaufmann würde sich ebenso blitzblank präsentieren wie sein Fuhrwerk, doch das einzige, das bei ihm äußerlich daran erinnerte, daß er zu diesem oder dieses zu ihm gehörte, war die nicht minder bunte Kleidung. Seine dunklen, fettigen Locken fielen ihm bis auf die Schultern herab und der Bart war stumpf und ungepflegt. Hemd, Hose, Weste und Stiefel waren aus schlechtem, verschiedenartig gefärbten und nachlässig zusammengenähtem Stoff und Leder. Die Tatsache, daß der linke Jackenärmel wohl aufgrund eines Versehens in kräftigerem Rot erstrahlte als der rechte, ließ Taleras während des Gespräches immer wieder irritiert zwischen beiden hin und her blicken.

 

„Ich komme von einer abgelegenen Ortschaft südlich von hier“, gab der Händler ungenau Auskunft. „Jetzt bin ich auf dem Weg zurück zum Anduin.“

 

„Auf der anderen Seite des Großen Gebirges ward Ihr wohl noch nicht?“

 

„Des Nebelgebirges? Wollt ihr dort hinüber?“ Dagnir deutete mit der Hand auf den dunklen Streifen am Horizont und als Taleras bestätigend den Kopf neigte, warf er einen abschätzenden Blick in die Runde. „Ein weiter Weg für so ein kleines Völkchen... Verzeiht, ich wollte euch keineswegs beleidigen.“ Seine Entschuldigung klang aufrichtig, was aber wohl nur dem Umstand zu verdanken war, daß er seine Kunden nicht vor der Zeit vergraulen wollte. Er grinste schief und zusammen mit den engstehenden Augen und der scharfen Hakennase, wirkte sein Gesicht wie die lauernde Fratze eines Aasvogels.

 

„Oh, nicht doch.“ Taleras hob abwehrend die Hände und zwinkerte dem Menschen verschwörerisch zu. „Das ist alles eine Sache der Sichtweise, nicht wahr?“ gab er zweideutig zur Antwort und das war der Moment, als Dagnir sich zu fragen begann, ob diese Leute nur nach außenhin einen solch stupiden Eindruck machten. Doch dann blickte er in die das arglos lächelnde Gesicht des Dorfältesten und schob den Gedanken amüsiert beiseite.

 

Mit schmatzendem Laut spuckte er das zerkaute Kraut nur haarscharf an Albadocs linkem Ohr vorbei, der daraufhin warnend seine ohnehin faltige Stirn runzelte.

 

„Ihr seid nicht auf den Mund gefallen, guter Mann. Auch Eure Leute wirken recht aufgeweckt.“ Der leicht spöttische Blick, mit dem er sich umsah, und den es ihm nicht ganz zu verbergen gelang, strafte seine Worte Lügen.

 

Die Halblinge bemerkten ihn nicht oder ließen sich davon nicht beeindrucken. Genüßlich schmauchten sie weiter ihre Pfeifen und nickten dem Händler unverbindlich lächelnd zu.

 

Ihre Wagen standen bereits fertig beladen bereit und auch wenn sie bei weitem nicht so schmuck waren, wie der fahrende Verkaufsstand, so hatten die Hobbits sie auf ihre Weise ganz nett hergerichtet. Die Planen waren wegen des recht kalten Windes alle zugezogen und so konnte Dagnir trotz der Neugierde, die ihm deutlich ins Gesicht geschrieben stand, keinen Blick in das Innere erhaschen.

 

Die Tiere waren ausgeruht und gepflegt, die Zugochsen warteten geduldig auf die Abfahrt und das übrige Vieh schien geradezu begierig darauf, weiter zu marschieren. Eine Schar Kinder rannte grölend und jauchzend an der Sitzgruppe vorbei; sie interessierte der Mensch nicht im geringsten. Dafür genoß er die ungeteilte Aufmerksamkeit des dicken Katers, der schnurrend um ihn herumstrich, auch um die Hunde auf Abstand zu halten, die aus einiger Entfernung mordlüstern geifernd ihr Lieblingsopfer im Auge behielten. Dagnir drängte ihn achtlos zur Seite und schob sich ein weiteres Stück Kraut zwischen die Zähne.

 

„Hm, ja. Eure Fuhrwerke sind recht schmal“, überlegte er zu seinem eigenen Zeitvertreib. „Möglich, daß ihr sie über den Paß bekommt. Ich selbst benutze diesen Weg selten. Um ehrlich zu sein, hat es mich erst ein einziges Mal über dieses fürchterliche Gebirge verschlagen. Das ist nun schon eine ganze Weile her.“ Er rechnete halbherzig nach, während seine Augen sinnend einem der großen Rauchkringel folgten, die Taleras gewohnt gekonnt über das Lager schickte.

 

„Ungefähr zehn Jahre, wenn ich mich recht erinnere. War mein erstes eigenes Unternehmen. Damals hatte ich ein paar Packtiere dabei, die machen nicht so viele Umstände, wenn man über unwegsames Gelände muß.“ Er schüttelte ungehalten den Kopf. „Lausige Geschäfte, wirklich lausige Geschäfte habe ich dort gemacht. Diese Elben... pah! Tauchen immer dann auf, wenn man sie nicht gebrauchen kann, und fragt man sie nach ihrem Heim, dann werden sie augenblicklich so abweisend, als wäre man ein Schuft!“

 

Er rümpfte pikiert die Nase und schüttelte den Kopf. „Und gekauft haben sie fast gar nichts und das wenige wie es schien auch nur, um weiteren Fragen zu entgehen. Unfreundliches Volk, diese Elben! War das erste und letzte Mal, daß ich mir die Mühe gemacht habe, zu ihnen zu fahren.“ Wie um seine Aussage zu bekräftigen, spuckte er einen satten Strahl grün-bräunliche Brühe aus, diesmal darauf bedacht, seine Geschäftspartner nicht erneut zu verdrießen.

 

Die Halblinge tauschten vielsagende Blicke und nahmen sich die Zeit, einige Male an ihren Pfeifen zu ziehen.

 

„Es gibt wohl nicht viele Menschen dort drüben?“

 

„Habe keine gesehen. Wenn Ihr gehofft hattet, dort Siedlungen zu finden, kann ich Euch leider keine verbindliche Auskunft erteilen.“

 

Keiner der vier hielt es für erforderlich, den Händler zu unterrichten, daß seine Erscheinung ihre fest gefaßte und nicht sehr schmeichelhafte Meinung über das Große Volk bestätigte und gerade die scheinbare Abwesenheit von Menschenstädten so recht nach ihrem Geschmack war. Sie zeigten Dagnir verständnisvolle Gesichter.

 

„Natürlich nicht.“ Taleras klang ungefähr so wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind beruhigt, das nicht recht weiß, ob es etwas Verbotenes angestellt hat und jetzt mit einer Bestrafung rechnen muß. „Aber vielleicht könnt Ihr uns die Beschaffenheit des Weges beschreiben. Ihr sagtet der Pfad wäre sehr schmal?“

 

Erneut kramte der Händler in seinen Erinnerungen. „Ihr habt eine schlechte Jahreszeit für Eure Wanderung gewählt. Ihr müßt Euch eilen, wenn ihr die Gipfel noch vor dem ersten Schneefall überqueren wollt. Und das ist es, was ich Euch rate. Der Winter kommt dieses Jahr recht früh, will mir scheinen. Das liegt an dem heißen Sommer, wißt Ihr. Eigentlich ist das doch seltsam. Ich meine... eigentlich sollte man erwarten, daß die Hitze umso länger zum Abkühlen braucht, je intensiver sie war. Statt dessen gleicht die darauf folgende bizarre Kälte die Temperatur des Jahres irgendwie wieder aus.“

 

Eine Pause entstand, als Dagnir den verbliebenen Rest der gekauten Blätter in hohem Bogen aus seinem Mund beförderte.

 

„Ja, der Pfad ist schmal. Aber das sind Eure Fuhrwerke auch, wie bereits angemerkt. Mit Sicherheit kann ich es natürlich nicht sagen, aber möglich wäre es.“ Mit Kennerblick schätzte er die Karren ab. „Sie sehen recht solide aus und werden einiges aushalten, denke ich. Und das werden sie müssen. Es geht ziemlich steil in die Berge und der Paß wurde nicht für Wagen angelegt... wenn er denn angelegt wurde. An manchen Stellen scheint es fast so, als hätten kundige Hände nachgeholfen. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus diesem und natürlichem Übergang. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, daß es die Arbeit von Zwergenhänden ist. Die machen bekannterweise keine so halben Sachen und hätten wohl eine schöne breite Straße geschaffen.“ Dagnir lachte wiehernd ob dieses – wie er dachte – gelungenen Scherzes, wurde aber schnell wieder ernst als er bemerkte, daß seine Zuhörer ihn verständnislos ansahen.

 

„Nunja, was soll ich viel dazu sagen. Möglich, daß Ihr hin und wieder ein paar Felsbrocken beiseite stemmen müßt – Ich habe übrigens ein paar hervorragende Eisenstangen, die sich außerordentlich gut hierfür eignen –, und Eure Ochsen werden einiges hinauf zu schleppen haben. Aber ihr habt genügend ledige Tiere, denen Ihr einen Teil der Last aufbürden könnt.“

 

„Das war auch unsere Absicht.“ Taleras lehnte sich zufrieden, seine Gedanken bestätigt zu sehen, zurück und strich sich mit einer Hand über den gerundeten, noch mit der Verdauung des Frühstücks beschäftigten Bauch. In allen Einzelheiten führte er nun auf, was sie alles von dem Händler benötigten.

 

~*~

 

„Wo ist dieser Nichtsnutz, wenn man ihn braucht?“ Ärgerlich streckte Menegilda den Kopf unter der angehobenen Plane hervor. „Oh!“

 

„Er hat sich von Taleras die Erlaubnis geholt, mit Ham vorauszureiten“, erklang eine erschreckend tonlose Stimme aus dem Halbdunkel des Karrens.

 

„Sieh nur, Kind, da ist ein Händler angekommen. Ich werde gleich einmal nachsehen, was er anzubieten hat. Bin gleich wieder da!“ Emsig wischte sie die Hände an ihrer Schürze ab und hüpfte wie ein junges Mädchen die zwei Fuß hohe Rampe hinunter. Mit raschen Schritten hielt sie direkt auf die kleine Gruppe um Taleras und den Kaufmann zu, drängte sich zwischen die letzten beiden und gebot mit einer energischen Handbewegung Ruhe und Aufmerksamkeit.

 

„Habt Ihr in Eurem Vorrat eine Medizin gegen Vergiftungen?“ fragte sie rundheraus, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.

 

„Vergiftungen?“

 

„Ja, Vergiftungen!“

 

„Vergiftungen?“ erkundigte sich nun auch Taleras.

 

Menegilda verdrehte die Augen und stemmte die Hände in die Hüfte. „Ja oder nein?“ Sie begann ungeduldig mit dem Fuß zu wippen.

 

„Nun, ja“, dehnte Dagnir vorsichtig. „Ich habe verschiedene höchst wertvolle Tinkturen in Minas Anor erstanden...“

 

„Nun?“ Das Wippen verstärkte sich.

 

„Gegen welche Art Vergiftungen?“

 

„Vergiftungen?“ wunderte Taleras sich noch einmal und zuckte zusammen, als Menegilda wie ein gereizter Stier zu ihm herumfuhr.

 

„Die Krallen oder Waffen dieser Biester müssen mit irgend einem Gift getränkt gewesen sein“, ließ sie sich nun endlich zu einer Erklärung herab. „Anders kann ich mir die Krankheitszeichen nicht erklären. Die Wunde beginnt sich zu schließen, doch das Fieber läßt nicht nach. Dann dieser schleimige Eiter in Augen und Ohren und der weißliche Zungenbelag... Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich behaupten, eine giftige Spinne habe ihn gestochen. Meine Schwägerin hatte als kleines Kind ganz ähnliche Anzeichen, nicht so ausgeprägt natürlich, aber dennoch erstaunlich gleichartig. Sie reagierte überempfindlich auf den Biß einer dieser großen gelbbraunen Achtbeiner. Eine Schwäche, die in ihrer Familie weitervererbt wurde und-“

 

„Spinnen?“

 

Menegilda schnaubte wütend. Mußten denn hier alle ihre Worte wiederholen? „Ja doch!“

 

„Sagt, führte euch euer Weg durch den Düsterwald?“

 

„Wieso fragt Ihr?“ lenkte Albadoc ein, der zu vermuten begann, daß Dagnirs Fragen einen tieferen Sinn hatten.

 

Dieser seufzte resigniert. „Weil es im Düsterwald riesige Exemplare dieser Netzweber gibt wie sonst nirgendwo in den Ennorath. Die Erzählungen schwanken zwischen drei und fünf Fuß. Möglicherweise übertreiben die einen oder aber es gibt verschiedene Arten. Kommt!“ Ruckartig erhob er sich und bedeutete Menegilda mit einer wedelnden Handbewegung, ihn zu begleiten. „Aber die Tinktur ist nicht billig“, fügte er ganz der Geschäftsmann hinzu, bevor er mit langen Schritten seinem Fuhrwerk zustrebte.

 

„Hab ich auch nicht erwartet...“ Menegilda raffte ihre Röcke und trippelte geschwind hinterher.

 

„Nun, also, wie hast du dir das mit dem Vieh gedacht?“ ergriff Albadoc nun wieder locker den Faden ihres Gespräches, das sie vor der Ankunft des Händlers geführt hatten. Seine Augen folgten den beiden Gestalten. Die mollige Hobbitfrau war bald zwischen den Ihren nicht mehr zu unterscheiden, aber der lange, dürre Mensch ragte aus der Menge hervor wie eine Sonnenblume in einem Weizenfeld. „Es braucht Futter, das wir im Gebirge nicht haben werden.“

 

Taleras seufzte leise und führte statt einer Antwort seine Pfeife zum Mund. Müde wanderte sein Blick über die Herde. Ungefähr vierzig Ochsen, fünf Bullen, sechzig Kühe, fünfzig Schafe und ebenso viele Ziegen. An die Unmengen, die all diese Tiere verzehren würden, wenn sie das Grasland hinter sich gelassen hatten, hatte bei ihrem Aufbruch natürlich niemand gedacht.

 

„Wir haben Futter.“ Er klang zuversichtlicher, als er selber war. „Wir haben Getreide, Früchte, Mehl...“

 

„Du willst unsere Vorräte an das Vieh verfüttern?“ Drei Augenpaare sahen ihn zweifelnd an.

 

„Wir werden uns von dem getrockneten Wildfleisch ernähren, das wir in den letzten Tagen bereitet haben, und wenn dies zur Neige geht, einige Tiere schlachten.“ Taleras nickte erfreut über diese simple Lösung. „Wenn alles gut geht, sind wir in zehn Tagen über den Paß. Solange müssen sich alle ein wenig bescheiden.“

 

„Wovon sollen wir leben, wenn wir auf der anderen Seite sind? Unser Vieh allein wird kaum ausreichen, uns über den Winter zu bringen“, wagte Sederic einzuwenden. „Zumindest nicht wenn wir genügend Tiere für eine neue Aufzucht erhalten wollen.“

 

Resigniert hob der Thain die Schultern. „Wovon hätten wir uns ernährt, wären wir zuhause geblieben?“ Er klopfte behutsam die Pfeife an einem glatten Stein aus und schob sie in die Innentasche seiner Jacke.

 

„Von den Viehbeständen und unseren restlichen Lebensmitten, die du nun an das Vieh verfüttern willst.“ Gambold war von der Zweckmäßigkeit dieses Arrangements ganz und gar nicht überzeugt.

 

„Und wie lange denkst du, hätte das gereicht? Im Westen sind wir zwar zunächst der meisten Vorräte ledig, dafür haben wir Wild zum jagen und Flüsse, in denen wir fischen können.“

 

„Du bist dir ziemlich sicher, nicht wahr?“ Unbemerkt war Boldegrin hinzugetreten und hatte mit wachsendem Unbehagen der Unterhaltung gelauscht.

 

Taleras schnaufte ungehalten durch die Nase. „Dessen waren wir uns alle, als wir aufgebrochen sind, nicht wahr?“ äffte er den anderen nach. „Also beschwer dich nicht. Wir waren alle bereit, dieses Risiko einzugehen und niemand kann behaupten, er habe dies nicht gewußt!“

 

~*~

 

„Wie lange ist das jetzt her?“

 

„Vier Tage.“

 

Dagnirs Hand verharrte auf halbem Weg zu einer schweren, mit schmiedeeisernen Spünden versehenen Holztruhe im hintersten Stauraum unter dem Kutschbock.

 

„Vier Tage..“, echote er, griff nach dem Vorlegeschloß und fingerte mit der anderen Hand den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem leisen Knirschen schnappte der Riegel auf.

 

Die Kiste beinhaltete verschiedene Flaschen – große, kleine, schmale, bauchige – gut gepolstert in einem schützenden Bett duftender Hobelspäne. Suchend schwebte seine Hand einen Moment darüber und zückte dann eine der kleineren gläsernen Phiolen, auf deren gelblichem Etikett in eigenartigen Zeichen, die Menegilda nicht lesen konnte, wohl die Beschreibung der Tinktur und ihre Anwendungsgebiete verzeichnet waren.

 

„Hier ist es!“ verkündete der Kaufmann stolz und hielt das Fläschchen hoch gegen das Sonnenlicht, als wolle er dessen Inhalt prüfen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn das Glas war zu trüb, um neben dem Füllstand irgend etwas preis zu geben. Vielleicht war dies jedoch auch das einzige, das ihn interessiert hatte, denn er grunzte freudig.

 

„Und das wirkt?“ Menegilda runzelte die Stirn und musterte skeptisch das unscheinbare Behältnis. Der Mann machte auf sie keinen vertrauenerweckenden Eindruck.

 

„Nun, es gibt verschiedene Arten von Spinnengiften, aber nach den Anzeichen, die Ihr beschrieben habt...“

 

Dagnir hielt der Hobbitfrau das Fläschchen entgegen, zog es jedoch sogleich zurück, als diese ihre Hand danach ausstreckte und beäugte nun seinerseits kritisch ihr biederes Gewand.

 

„Womit wollt Ihr mich bezahlen?“

 

Menegilda zögerte. Was, wenn der Mann ein Schwindler war? Unentschlossen nagte sie an ihrer Unterlippe. Mit sichtlicher Überwindung griff sie dann nach einer Kette, die sie verborgen unter ihrer Bluse getragen hatte und zog einen goldenen Anhänger hervor. Mit zitternden Fingern löste sie ihn und reichte ihn dem Händler. „Das wird wohl reichen, denke ich“, erwiderte sie kühl.

 

Dagnir ergriff das Schmuckstück und pfiff leise durch die Zähne, bevor er seine Verwunderung kontrollieren konnte und seinem Gesicht einen möglichst gleichgültigen Ausdruck gab. „Gut, dafür werde ich Euch die Tinktur überlassen.“

 

„Wie wird es verabreicht?“ Unschlüssig drehte sie das Fläschchen in den Händen und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen in dem Versuch, die Krähenfüße auf dem Zettel zu entziffern.

 

„Ihr müßt es mit Wasser verdünnen.“ Ein flüchtiger Blick auf das Etikett. „Ein Teil dieser kostbaren Tinktur zu neun Teilen Wasser. Alle drei Stunden einen halben Krug bis das Fieber nachläßt.“

 

Menegilda nickte knapp, ließ die Medizin in einer zwischen den weiten Falten ihres Rockes verborgenen Tasche verschwinden und streckte dem Kaufmann die geöffnete Hand unter die Nase.

 

„Ich bekomme noch etwas heraus“, stellte sie trocken fest.

 

Dagnir blickte zwischen den stechenden Augen der vorher so harmlos aussehenden Frau und ihrer leeren Hand hin und her. Er entschied sich, den Ahnungslosen zu spielen und legte den Kopf fragend schief.

 

Eine Weile dauerte das wortlose Kräftemessen, dann schnaufte die Hobbitfrau verärgert aus.

 

„Versucht nicht, mir das Fell von den Zehen zu ziehen *!“ zischte sie ihn an und hielt die Hand noch ein wenig höher.

 

Irritiert senkte Dagnir die Augen und studierte die bloßen aber äußerst behaarten Füße der kleinen Frau.

 

„Und tut nicht so als wüßtet Ihr nicht, wovon ich spreche!“

 

Zögernd ließ der Kaufmann drei Kupfermünzen in ihre Hand gleiten. Die Hobbitfrau betrachtete sie ungerührt. „Und?“ Mit einer ungeduldig flatternden Bewegung der freien Hand bedeutete sie dem Mann, daß sie mit dieser Auszahlung nicht hinreichend zufrieden war.

 

Zwei weitere Münzen fanden sich nach kurzem Zaudern zu den ersten, ernteten aber nicht den gewünschten Erfolg.

 

„Ihr seid ein harter Handelspartner“, stöhnte Dagnir gequält und machte keine Anstalten, noch einmal in seine Tasche zu greifen.

 

„Ach! Papperlapapp! Ich bin überzeugt Ihr werdet trotz allem einen lohnenden Gewinn einstreichen!“

 

Nur sehr widerwillig rückte er dann doch noch zwei weitere Münzen heraus, und Menegilda entschied, daß sie nun in das Geschäft einwilligen konnte. Sie steckte das Geld zu der Phiole und begab sich zum Ausgang.

 

„Ich will für Euch hoffen, daß die Medizin wirkt!“

 

Dagnir kam es nicht in den Sinn, über diese im Hinausgehen gesprochene Drohung zu lachen. Er hatte ihren entschlossenen Blick gesehen und wußte im selben Moment, wie sehr er diese kleinen Leute doch unterschätzt hatte. Erbleichend wischte er sich den perlenden Angstschweiß von der Stirn.

 

 

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* ein Hobbit-Sprichwort, siehe “The Return of the Shadow”, Seite 25