Fredoc und
Ilberic saßen seit einer geraumen Weile unbeweglich auf den Rücken ihrer Ponys,
auf einer kleinen Anhöhe unweit des Lagers, und fixierten angestrengt einen
Punkt in der Ferne, der sich ihnen langsam näherte. Das kleine Volk hatte
gerade begonnen sein provisorisches Heim abzuschlagen. Die Laute der
Betriebsamkeit drangen gedämpft zu den beiden Spähern herüber, die sich dadurch
nicht im geringsten in ihrer hochinteressanten Beobachtung stören ließen. Sie
sprachen lange Zeit kein Wort. Dafür arbeitete es hinter ihren Stirnen so
angestrengt, daß man beinahe erwartete, jeden Moment kleine Rauchwolken von
ihren Köpfen aufsteigen zu sehen.
„Rehe“,
vermutete Ilberic endlich, als der Punkt sich beinahe verdoppelt hatte.
„Zu
groß.“
„Ein
Rudel Rehe.“
„Ich meinte:
zu hoch.“
„Hirsche?“
„Ilberic!“
Obwohl es vorwurfsvoll klang, mußte Fredoc innerlich grinsen. Er konnte
regelrecht hören, wie Orgonas ihn schalkhaft zurechtgewiesen und gefragt hätte,
ob er auch an etwas anderes als ans Essen denken könnte.
Er ließ
die Augen über die wahrhaft enorm gerundete Gestalt seines Begleiters wandern,
der selbst für Hobbitverhältnisse als ausgesprochen gefräßig galt, und verzog
die Mundwinkel in Richtung Ohren. Sein Freund war in solchen Dingen stets sehr
direkt. Er selbst empfand zu großen Respekt vor dem Älteren, um seine Gedanken
laut auszusprechen.
Statt
dessen bemühte er sich um die nötige Ernsthaftigkeit, die ihm als Endzwanziger
einem Erwachsenen gegenüber zustand und erklärte ruhig, bemüht seinen Ton nicht
schulmeisterlich klingen zu lassen: „Die würden kaum so seelenruhig auf uns
zukommen. Meinst du nicht?“
Ilberic
brummte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, nickte dann
aber zustimmend. Der andere stellte sich in den Steigbügeln auf, so gut dies
bei seinem eigenen nicht geringen Körperumfang möglich war. Ham verdrehte
unwillig die Ohren bei diesem akrobatischen Akt, ließ die Prozedur aber
ansonsten ruhig über sich ergehen und spreizte nur die Vorderbeine ein wenig,
um einen festeren Stand zu bekommen.
„Sieht
mir eher nach einem Fuhrwerk aus.“
„Jaja,
schön. Das kannst du jetzt gut behaupten. Bei der kantigen Form, die sich
inzwischen abzeichnet...“
>...hättest
du sicher auf einen Kastenkuchen getippt.< Fredoc konnte die freche
Bemerkung eben noch herunterschlucken und biß sich schwermütig auf die Lippen.
Orgonas’ Worte. Zweifellos. Er mußte sich zwingen, nicht zurück zum Lager zu
sehen. Auch so konnte er Rosilots vorwurfsvollen Blick regelrecht in seinem
Rücken spüren. >Dein bester Freund ist krank, er stirbt vielleicht...<
und er hatte nichts besseres zu tun, als Taleras förmlich auf den Knien
anzuflehen, wieder vorausreiten zu dürfen.
Nachdrücklich
kniff er die Augen zusammen und drückte Daumen und Zeigefinger hart gegen die
Tränensäcke, rechts und links der Nasenwurzel.
Menegilda
hatte es sicher gut gemeint, aber ihre Kräuter zeigten nicht die geringste
Wirkung. Nichts zeigte eine Wirkung. Sein Zustand war nicht schlechter
geworden, hatte sich aber auch nicht gebessert.
In den
wenigen wachen Momenten zwischen den von Albträumen zerrütteten Fieberschüben
hatten ihm Rosilot und ihre Mutter abwechselnd die heiße Kräutersud und
Fleischbrühe eingeflößt. Dabei war es schon als Erfolg zu verzeichnen, wenn er
wenigstens einen Teil davon bei sich behalten hatte. Alle zwei Stunden
wechselte das Mädchen den Verband, wusch seinen verschwitzten Körper, reinigte
Augen, Mund und Nase von den gelblichen, schleimigen Absonderungen.
Letzte Nacht
hatte er sie gewaltsam von ihm fortzerren und ihr ein paar Stunden Schlaf
aufdrängen müssen. Die tadelnden Worte der Mutter waren zuvor ungehört an dem
Mädchen, das inzwischen einem Nervenbündel glich, abgeprallt wie Wasser an
einem Felsen. Die beiden Frauen rieben sich für seinen Freund auf. Und was
hatte er für ihn getan? Nichts. Doch was hätte er auch tun können? Er fühlte
sich furchtbar hilflos. Fredoc ballte die Hände zu Fäusten, daß das Weiß der
Fingerknöchel hervortrat.
„Es ist
tatsächlich ein Fuhrwerk.“ Ilberics Worte riefen ihn in die Gegenwart zurück.
Er schreckte auf und brauchte einige Sekunden, die Nebelschwaden vor seinem
inneren Auge zu verscheuchen und sich zu orientieren.
„Ein
einzelnes Fuhrwerk. Wo es wohl herkommt und wem es gehört?“ Verwunderung sprach
aus den Worten des Mannes, der die Geistesabwesenheit seines Begleiters gar
nicht bemerkt hatte.
Fredoc
antwortete nicht, sondern betrachtete nun seinerseits den Ankömmling. Es war
ein recht großes Fuhrwerk. Nicht vergleichbar mit den schmalspurigen Karren,
mit denen sie unterwegs waren, sondern beinahe doppelt so breit, soweit er das
auf die Entfernung einschätzen konnte. Es besaß drei Achsen, einen
kastenförmigen Bretteraufbau und wurde von sechs Maultieren gezogen, die je zu
zweien nebeneinander und in drei Reihen hintereinander gingen.
Beinahe
schockiert riß er die Augen auf. Gespanne aus vier Tieren hatte er bereits bei
den Zwergen kennengelernt. Er war erst sehr wißbegierig gewesen, hatte jedoch
bald das Interesse verloren, als der stämmige Sohn Aules ihm die komplizierte
Handhabung der Zügel erklärte.
Sechs
Tiere! Ilberic schien sich mit ähnlichen Überlegungen zu befassen.
Ausgesprochen dämlich dreinblickend verfielen beide Hobbits in einen
tranceähnlichen Zustand.
Als sie sich
wieder einigermaßen gefaßt hatten, konnten sie bereits das Rumpeln der Räder
vernehmen und den bunten Anstrich des Kastenwagens erkennen, die einzelnen
Verziehrungen jedoch noch nicht unterscheiden.
„Vielleicht
sollten wir ihm entgegenreiten, bevor er über den Hügel kommt“, überlegte
Fredoc, doch Ilberic schüttelte entschieden den Kopf.
„Er hält
unmittelbar auf das Lager zu und wir haben kein Argument, das ihn bewegen
könnte, seine Richtung zu ändern.“ Mißtrauisch beäugte er den dürren Menschen,
der hoch auf dem Bock saß und sich nicht anmerken ließ, ob er seinerseits die
beiden Reiter schon erblickt hatte. „Zumindest fällt mir keines ein“,
korrigierte er sich.
„Dann laß
uns zurückreiten!“ Fredoc zog Ham herum und trieb das Pony eilig hinunter ins
Lager. Ilberic kam nur kurz nach ihm bei Taleras an, da hatte der Jüngere
bereits aufgeregt begonnen, Bericht zu erstatten.
~*~
Kaum
hatte er die Kuppe der letzten Erhebung erreicht und war der aufgeregten Schar
ansichtig geworden, blitzten die raubvogelartigen Augen des Menschen auf.
Rasselnd zog er die Luft ein, als wittere er bereits ein lohnendes Geschäft. In
Gedanken rieb er sich die Hände. Bemüht, seinem verschlagenen Gesicht einen
freundlichen Ausdruck zu verleihen, blickte er lächelnd und nickend auf die
Leutchen herab und hielt sein Fuhrwerk inmitten der Neugierigen an.
„Oh! Oho! Hallo! Willkommen meine kleinen Freunde!
Willkommen! Tretet heran! Nur keine Scheu! Keiner hat so gute Ware wie der alte
Dagnir! Hier findet ihr Töpfe, Decken, Nadel, Garn und vieles mehr! Alles, was
man auf einer weiten Reise gebrauchen kann und was einem das harte Leben ein
wenig angenehmer macht!“ pries er mit knatternder Stimme seine Ware an, wand
die Zügel um einen Knauf und kletterte ungelenk mit seinen langen, dünnen
Gliedern von dem hohen Kasten.
Ein paar
geübte Handgriffe genügten, um die oberen seitlichen und hinteren Wände des
Karrens hochzuklappen und sie mit je zwei kunstvoll gedrechselten Stempeln abzustützen,
so daß sie eine Art Wandelgang auf drei Seiten des Gefährtes bildeten. Die
unteren Wände senkte er herab. Sie waren mit Quersprossen versehen und
ermöglichten es, bequem auf die Plattform hinaufzusteigen.
Dieses
Fuhrwerk war ein ganz allerliebster Anblick. Jedes einzelne Brett war glatt
gehobelt und lackiert und sorgfältig verarbeitet. Die hölzernen Räder waren mit
eisernen Spangen eingefaßt, die selbst nach der Fahrt durch die staubige
Landschaft sauber blitzten. Das Geschirr der wohlgenährten Maultiere war aus
feinstem Leder, mit bunt glitzernden Metallplättchen verziert.
Das
Innere des Wagens war ebenso adrett. Der Händler hatte nicht zuviel
versprochen. Ordentlich gestapelt waren auf kleinstem Raum eine Unmenge an
nützlichen Dingen versammelt, und man mußte sich schon sehr anstrengen wenn man
einen Gegenstand suchen wollte, den es hier nicht gab. Alles war von einnehmend
guter handwerklicher Qualität. Es dauerte auch keine drei Sekunden, bis
sämtliche Hobbitfrauen und –mädchen mit lauten Geplapper den fahrenden Laden
umlagerten.
Doch
nicht nur für die weiblichen Wesen bot dieses Stückchen Zivilisation in der
Wildnis eine willkommene Möglichkeit ihre Ausrüstung aufzubessern. „Wir sollten
ein Seil eintauschen“, murmelte Taleras gerade halblaut vor sich hin und tippte
sich mit dem Zeigefinger überlegend an die Lippen.
„Und eine
Schaufel.“
„Und
Lobelias Hühner“, knurrte Boldegrin, dem der ganze Wirbel um das Federvieh
inzwischen gewaltig auf die Nerven ging.
„Eine
Schaufel?“ Taleras ignorierte großzügig das unerhörte Vorhaben des Griesgrams
und betrachtete Albadoc streng. „Dafür ist es wohl noch ein wenig zu früh“,
fügte er düster hinzu.
Eine
Weile herrschte bedrücktes Schweigen zwischen den Männern, dann dämmerte es dem
Alten.
„Für die
Karren! Oder besser gesagt für die Räder! Zum Ausgraben der Räder, wenn sie im
Matsch stecken bleiben, wenn das, was sich da im Westen zusammenbraut als Regen
herunterkommt!“ schimpfte er empört ob der Dreistigkeit, daß man ihm solch eine
Gefühllosigkeit zugetraut hatte. Im selben Moment zerplatzte die Anspannung wie
eine Seifenblase.
„Ein paar
Hacken wären auch nicht schlecht“, sponn der Thain sogleich eifrig die
Überlegung weiter, betrachtete eingehend das Bild, das sich vor seinen inneren
Augen entwickelte und durchforstete es nach möglichen fehlenden Utensilien.
„Und ich
sage, bezahlt ihn mit dem Flattervieh!“ brummte Boldegrin und stampfte in
Richtung des Drahtgestells von dannen, um seine frevelhafte Absicht in die Tat
umzusetzen. Bald darauf übertönte eine scheltende, schnarrende Stimme seinen
tiefen, fordernden Baß.
Albadoc
blickte Taleras um Aufmerksamkeit heischend an und zuckte nur die Achseln, als
dieser in Gedanken versunken nicht darauf reagierte. Die beiden würden sich
schon nicht die Köpfe einschlagen. Schließlich hatten sie das bisher auch nicht
getan. Allerdings entbrannte der Streit dieses Mal doch sehr heftig und auch
wenn der Alte nicht verstehen konnte, was die resolute Frau dem böswilligen
Attentäter soeben entgegendonnerte, so klang es doch sehr nach einer
Morddrohung.
„Wozu
brauchst du ein Seil?“
„Eher
einen dicken Strick. Einen recht langen und starken. Orgonas hatte die Idee die
Ochsengespanne damit zu unterstützen, wenn wir in die Berge hinauf fahren.
Zunächst würden wir auf einem Absatz eine Winde anbringen, den Strick
hindurchführen und die Wagen mit hochziehen helfen. Eine Weile hatten wir sogar
darüber nachgedacht, jemanden zurück nach Breth zu schicken, um etwas
Geeignetes zu holen.“ Taleras warf einen wehleidigen Blick nach Norden. „Das
ist jetzt vielleicht nicht mehr nötig.“
Albadoc
fuhr sich mit der Hand über die Stirn und strich die weißen Locken nach hinten.
„Wüßte zu gerne, wie’s dort jetzt aussieht...“
~*~
„Woher des
Weges, Herr Dagnir, und wohin? Ein Mann wie Ihr kommt sicher weit herum. Setzt
Euch und erzählt, wenn Eure Zeit dies zuläßt.“ Letzteres war natürlich nur eine
Floskel. Freilich hatte der Mann Zeit, denn sein Gefährt wurde immer noch von
den begeisterten kleinen Leuten in Beschlag genommen.
„Hoffentlich
denken sie daran, daß wir das Zeug, das sie anschaffen auch transportieren
müssen“, raunte Albadoc mehr amüsiert als besorgt und an niemand bestimmtes
gerichtet.
Taleras
bot dem Menschen großzügig seine Pfeife an, nachdem dieser sich ein wenig
widerstrebend in die Runde der Dorfältesten gesetzt hatte. Skeptisch
schnüffelte er an dem dargebotenen Rauchwerkzeug, winkte arrogant ab und
steckte sich einen dunklen Streifen unappetitlich aussehenden Krautes in den
Mund, auf dem er hingebungsvoll herumzukauen begann. Eigentlich hätte man
erwartet, der Kaufmann würde sich ebenso blitzblank präsentieren wie sein
Fuhrwerk, doch das einzige, das bei ihm äußerlich daran erinnerte, daß er zu
diesem oder dieses zu ihm gehörte, war die nicht minder bunte Kleidung. Seine
dunklen, fettigen Locken fielen ihm bis auf die Schultern herab und der Bart
war stumpf und ungepflegt. Hemd, Hose, Weste und Stiefel waren aus schlechtem,
verschiedenartig gefärbten und nachlässig zusammengenähtem Stoff und Leder. Die
Tatsache, daß der linke Jackenärmel wohl aufgrund eines Versehens in
kräftigerem Rot erstrahlte als der rechte, ließ Taleras während des Gespräches
immer wieder irritiert zwischen beiden hin und her blicken.
„Ich
komme von einer abgelegenen Ortschaft südlich von hier“, gab der Händler
ungenau Auskunft. „Jetzt bin ich auf dem Weg zurück zum Anduin.“
„Auf der
anderen Seite des Großen Gebirges ward Ihr wohl noch nicht?“
„Des
Nebelgebirges? Wollt ihr dort hinüber?“ Dagnir deutete mit der Hand auf den
dunklen Streifen am Horizont und als Taleras bestätigend den Kopf neigte, warf
er einen abschätzenden Blick in die Runde. „Ein weiter Weg für so ein kleines
Völkchen... Verzeiht, ich wollte euch keineswegs beleidigen.“ Seine Entschuldigung
klang aufrichtig, was aber wohl nur dem Umstand zu verdanken war, daß er seine
Kunden nicht vor der Zeit vergraulen wollte. Er grinste schief und zusammen mit
den engstehenden Augen und der scharfen Hakennase, wirkte sein Gesicht wie die
lauernde Fratze eines Aasvogels.
„Oh,
nicht doch.“ Taleras hob abwehrend die Hände und zwinkerte dem Menschen
verschwörerisch zu. „Das ist alles eine Sache der Sichtweise, nicht wahr?“ gab
er zweideutig zur Antwort und das war der Moment, als Dagnir sich zu fragen
begann, ob diese Leute nur nach außenhin einen solch stupiden Eindruck machten.
Doch dann blickte er in die das arglos lächelnde Gesicht des Dorfältesten und
schob den Gedanken amüsiert beiseite.
Mit
schmatzendem Laut spuckte er das zerkaute Kraut nur haarscharf an Albadocs
linkem Ohr vorbei, der daraufhin warnend seine ohnehin faltige Stirn runzelte.
„Ihr seid
nicht auf den Mund gefallen, guter Mann. Auch Eure Leute wirken recht
aufgeweckt.“ Der leicht spöttische Blick, mit dem er sich umsah, und den es ihm
nicht ganz zu verbergen gelang, strafte seine Worte Lügen.
Die
Halblinge bemerkten ihn nicht oder ließen sich davon nicht beeindrucken.
Genüßlich schmauchten sie weiter ihre Pfeifen und nickten dem Händler
unverbindlich lächelnd zu.
Ihre
Wagen standen bereits fertig beladen bereit und auch wenn sie bei weitem nicht
so schmuck waren, wie der fahrende Verkaufsstand, so hatten die Hobbits sie auf
ihre Weise ganz nett hergerichtet. Die Planen waren wegen des recht kalten
Windes alle zugezogen und so konnte Dagnir trotz der Neugierde, die ihm
deutlich ins Gesicht geschrieben stand, keinen Blick in das Innere erhaschen.
Die Tiere
waren ausgeruht und gepflegt, die Zugochsen warteten geduldig auf die Abfahrt und
das übrige Vieh schien geradezu begierig darauf, weiter zu marschieren. Eine
Schar Kinder rannte grölend und jauchzend an der Sitzgruppe vorbei; sie
interessierte der Mensch nicht im geringsten. Dafür genoß er die ungeteilte
Aufmerksamkeit des dicken Katers, der schnurrend um ihn herumstrich, auch um
die Hunde auf Abstand zu halten, die aus einiger Entfernung mordlüstern
geifernd ihr Lieblingsopfer im Auge behielten. Dagnir drängte ihn achtlos zur
Seite und schob sich ein weiteres Stück Kraut zwischen die Zähne.
„Hm, ja.
Eure Fuhrwerke sind recht schmal“, überlegte er zu seinem eigenen Zeitvertreib.
„Möglich, daß ihr sie über den Paß bekommt. Ich selbst benutze diesen Weg
selten. Um ehrlich zu sein, hat es mich erst ein einziges Mal über dieses
fürchterliche Gebirge verschlagen. Das ist nun schon eine ganze Weile her.“ Er
rechnete halbherzig nach, während seine Augen sinnend einem der großen
Rauchkringel folgten, die Taleras gewohnt gekonnt über das Lager schickte.
„Ungefähr
zehn Jahre, wenn ich mich recht erinnere. War mein erstes eigenes Unternehmen.
Damals hatte ich ein paar Packtiere dabei, die machen nicht so viele Umstände,
wenn man über unwegsames Gelände muß.“ Er schüttelte ungehalten den Kopf.
„Lausige Geschäfte, wirklich lausige Geschäfte habe ich dort gemacht. Diese
Elben... pah! Tauchen immer dann auf, wenn man sie nicht gebrauchen kann, und
fragt man sie nach ihrem Heim, dann werden sie augenblicklich so abweisend, als
wäre man ein Schuft!“
Er
rümpfte pikiert die Nase und schüttelte den Kopf. „Und gekauft haben sie fast
gar nichts und das wenige wie es schien auch nur, um weiteren Fragen zu
entgehen. Unfreundliches Volk, diese Elben! War das erste und letzte Mal, daß
ich mir die Mühe gemacht habe, zu ihnen zu fahren.“ Wie um seine Aussage zu
bekräftigen, spuckte er einen satten Strahl grün-bräunliche Brühe aus, diesmal
darauf bedacht, seine Geschäftspartner nicht erneut zu verdrießen.
Die
Halblinge tauschten vielsagende Blicke und nahmen sich die Zeit, einige Male an
ihren Pfeifen zu ziehen.
„Es gibt
wohl nicht viele Menschen dort drüben?“
„Habe
keine gesehen. Wenn Ihr gehofft hattet, dort Siedlungen zu finden, kann ich
Euch leider keine verbindliche Auskunft erteilen.“
Keiner
der vier hielt es für erforderlich, den Händler zu unterrichten, daß seine
Erscheinung ihre fest gefaßte und nicht sehr schmeichelhafte Meinung über das
Große Volk bestätigte und gerade die scheinbare Abwesenheit von Menschenstädten
so recht nach ihrem Geschmack war. Sie zeigten Dagnir verständnisvolle
Gesichter.
„Natürlich
nicht.“ Taleras klang ungefähr so wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind
beruhigt, das nicht recht weiß, ob es etwas Verbotenes angestellt hat und jetzt
mit einer Bestrafung rechnen muß. „Aber vielleicht könnt Ihr uns die
Beschaffenheit des Weges beschreiben. Ihr sagtet der Pfad wäre sehr schmal?“
Erneut
kramte der Händler in seinen Erinnerungen. „Ihr habt eine schlechte Jahreszeit
für Eure Wanderung gewählt. Ihr müßt Euch eilen, wenn ihr die Gipfel noch vor
dem ersten Schneefall überqueren wollt. Und das ist es, was ich Euch rate. Der
Winter kommt dieses Jahr recht früh, will mir scheinen. Das liegt an dem heißen
Sommer, wißt Ihr. Eigentlich ist das doch seltsam. Ich meine... eigentlich
sollte man erwarten, daß die Hitze umso länger zum Abkühlen braucht, je
intensiver sie war. Statt dessen gleicht die darauf folgende bizarre Kälte die
Temperatur des Jahres irgendwie wieder aus.“
Eine
Pause entstand, als Dagnir den verbliebenen Rest der gekauten Blätter in hohem
Bogen aus seinem Mund beförderte.
„Ja, der
Pfad ist schmal. Aber das sind Eure Fuhrwerke auch, wie bereits angemerkt. Mit
Sicherheit kann ich es natürlich nicht sagen, aber möglich wäre es.“ Mit
Kennerblick schätzte er die Karren ab. „Sie sehen recht solide aus und werden
einiges aushalten, denke ich. Und das werden sie müssen. Es geht ziemlich steil
in die Berge und der Paß wurde nicht für Wagen angelegt... wenn er denn
angelegt wurde. An manchen Stellen scheint es fast so, als hätten kundige Hände
nachgeholfen. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus diesem und natürlichem
Übergang. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, daß es die Arbeit von
Zwergenhänden ist. Die machen bekannterweise keine so halben Sachen und hätten
wohl eine schöne breite Straße geschaffen.“ Dagnir lachte wiehernd ob dieses –
wie er dachte – gelungenen Scherzes, wurde aber schnell wieder ernst als er
bemerkte, daß seine Zuhörer ihn verständnislos ansahen.
„Nunja,
was soll ich viel dazu sagen. Möglich, daß Ihr hin und wieder ein paar
Felsbrocken beiseite stemmen müßt – Ich habe übrigens ein paar hervorragende
Eisenstangen, die sich außerordentlich gut hierfür eignen –, und Eure Ochsen
werden einiges hinauf zu schleppen haben. Aber ihr habt genügend ledige Tiere,
denen Ihr einen Teil der Last aufbürden könnt.“
„Das war
auch unsere Absicht.“ Taleras lehnte sich zufrieden, seine Gedanken bestätigt
zu sehen, zurück und strich sich mit einer Hand über den gerundeten, noch mit
der Verdauung des Frühstücks beschäftigten Bauch. In allen Einzelheiten führte
er nun auf, was sie alles von dem Händler benötigten.
~*~
„Wo ist
dieser Nichtsnutz, wenn man ihn braucht?“ Ärgerlich streckte Menegilda den Kopf
unter der angehobenen Plane hervor. „Oh!“
„Er hat
sich von Taleras die Erlaubnis geholt, mit Ham vorauszureiten“, erklang eine erschreckend
tonlose Stimme aus dem Halbdunkel des Karrens.
„Sieh
nur, Kind, da ist ein Händler angekommen. Ich werde gleich einmal nachsehen,
was er anzubieten hat. Bin gleich wieder da!“ Emsig wischte sie die Hände an
ihrer Schürze ab und hüpfte wie ein junges Mädchen die zwei Fuß hohe Rampe
hinunter. Mit raschen Schritten hielt sie direkt auf die kleine Gruppe um
Taleras und den Kaufmann zu, drängte sich zwischen die letzten beiden und gebot
mit einer energischen Handbewegung Ruhe und Aufmerksamkeit.
„Habt Ihr
in Eurem Vorrat eine Medizin gegen Vergiftungen?“ fragte sie rundheraus, ohne
sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
„Vergiftungen?“
„Ja,
Vergiftungen!“
„Vergiftungen?“
erkundigte sich nun auch Taleras.
Menegilda
verdrehte die Augen und stemmte die Hände in die Hüfte. „Ja oder nein?“ Sie
begann ungeduldig mit dem Fuß zu wippen.
„Nun,
ja“, dehnte Dagnir vorsichtig. „Ich habe verschiedene höchst wertvolle
Tinkturen in Minas Anor erstanden...“
„Nun?“
Das Wippen verstärkte sich.
„Gegen
welche Art Vergiftungen?“
„Vergiftungen?“
wunderte Taleras sich noch einmal und zuckte zusammen, als Menegilda wie ein
gereizter Stier zu ihm herumfuhr.
„Die
Krallen oder Waffen dieser Biester müssen mit irgend einem Gift getränkt gewesen
sein“, ließ sie sich nun endlich zu einer Erklärung herab. „Anders kann ich mir
die Krankheitszeichen nicht erklären. Die Wunde beginnt sich zu schließen, doch
das Fieber läßt nicht nach. Dann dieser schleimige Eiter in Augen und Ohren und
der weißliche Zungenbelag... Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich
behaupten, eine giftige Spinne habe ihn gestochen. Meine Schwägerin hatte als
kleines Kind ganz ähnliche Anzeichen, nicht so ausgeprägt natürlich, aber
dennoch erstaunlich gleichartig. Sie reagierte überempfindlich auf den Biß
einer dieser großen gelbbraunen Achtbeiner. Eine Schwäche, die in ihrer Familie
weitervererbt wurde und-“
„Spinnen?“
Menegilda
schnaubte wütend. Mußten denn hier alle ihre Worte wiederholen? „Ja doch!“
„Sagt,
führte euch euer Weg durch den Düsterwald?“
„Wieso
fragt Ihr?“ lenkte Albadoc ein, der zu vermuten begann, daß Dagnirs Fragen
einen tieferen Sinn hatten.
Dieser
seufzte resigniert. „Weil es im Düsterwald riesige Exemplare dieser Netzweber
gibt wie sonst nirgendwo in den Ennorath. Die Erzählungen schwanken zwischen
drei und fünf Fuß. Möglicherweise übertreiben die einen oder aber es gibt
verschiedene Arten. Kommt!“ Ruckartig erhob er sich und bedeutete Menegilda mit
einer wedelnden Handbewegung, ihn zu begleiten. „Aber die Tinktur ist nicht
billig“, fügte er ganz der Geschäftsmann hinzu, bevor er mit langen Schritten
seinem Fuhrwerk zustrebte.
„Hab ich
auch nicht erwartet...“ Menegilda raffte ihre Röcke und trippelte geschwind
hinterher.
„Nun,
also, wie hast du dir das mit dem Vieh gedacht?“ ergriff Albadoc nun wieder
locker den Faden ihres Gespräches, das sie vor der Ankunft des Händlers geführt
hatten. Seine Augen folgten den beiden Gestalten. Die mollige Hobbitfrau war
bald zwischen den Ihren nicht mehr zu unterscheiden, aber der lange, dürre
Mensch ragte aus der Menge hervor wie eine Sonnenblume in einem Weizenfeld. „Es
braucht Futter, das wir im Gebirge nicht haben werden.“
Taleras
seufzte leise und führte statt einer Antwort seine Pfeife zum Mund. Müde wanderte
sein Blick über die Herde. Ungefähr vierzig Ochsen, fünf Bullen, sechzig Kühe,
fünfzig Schafe und ebenso viele Ziegen. An die Unmengen, die all diese Tiere
verzehren würden, wenn sie das Grasland hinter sich gelassen hatten, hatte bei
ihrem Aufbruch natürlich niemand gedacht.
„Wir
haben Futter.“ Er klang zuversichtlicher, als er selber war. „Wir haben
Getreide, Früchte, Mehl...“
„Du
willst unsere Vorräte an das Vieh verfüttern?“ Drei Augenpaare sahen ihn
zweifelnd an.
„Wir
werden uns von dem getrockneten Wildfleisch ernähren, das wir in den letzten
Tagen bereitet haben, und wenn dies zur Neige geht, einige Tiere schlachten.“
Taleras nickte erfreut über diese simple Lösung. „Wenn alles gut geht, sind wir
in zehn Tagen über den Paß. Solange müssen sich alle ein wenig bescheiden.“
„Wovon
sollen wir leben, wenn wir auf der anderen Seite sind? Unser Vieh allein wird
kaum ausreichen, uns über den Winter zu bringen“, wagte Sederic einzuwenden.
„Zumindest nicht wenn wir genügend Tiere für eine neue Aufzucht erhalten
wollen.“
Resigniert
hob der Thain die Schultern. „Wovon hätten wir uns ernährt, wären wir zuhause
geblieben?“ Er klopfte behutsam die Pfeife an einem glatten Stein aus und schob
sie in die Innentasche seiner Jacke.
„Von den Viehbeständen
und unseren restlichen Lebensmitten, die du nun an das Vieh verfüttern willst.“
Gambold war von der Zweckmäßigkeit dieses Arrangements ganz und gar nicht
überzeugt.
„Und wie
lange denkst du, hätte das gereicht? Im Westen sind wir zwar zunächst der
meisten Vorräte ledig, dafür haben wir Wild zum jagen und Flüsse, in denen wir
fischen können.“
„Du bist
dir ziemlich sicher, nicht wahr?“ Unbemerkt war Boldegrin hinzugetreten und
hatte mit wachsendem Unbehagen der Unterhaltung gelauscht.
Taleras
schnaufte ungehalten durch die Nase. „Dessen waren wir uns alle, als wir
aufgebrochen sind, nicht wahr?“ äffte er den anderen nach. „Also beschwer dich
nicht. Wir waren alle bereit, dieses Risiko einzugehen und niemand kann
behaupten, er habe dies nicht gewußt!“
~*~
„Wie
lange ist das jetzt her?“
„Vier
Tage.“
Dagnirs
Hand verharrte auf halbem Weg zu einer schweren, mit schmiedeeisernen Spünden
versehenen Holztruhe im hintersten Stauraum unter dem Kutschbock.
„Vier
Tage..“, echote er, griff nach dem Vorlegeschloß und fingerte mit der anderen
Hand den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem leisen
Knirschen schnappte der Riegel auf.
Die Kiste
beinhaltete verschiedene Flaschen – große, kleine, schmale, bauchige – gut
gepolstert in einem schützenden Bett duftender Hobelspäne. Suchend schwebte
seine Hand einen Moment darüber und zückte dann eine der kleineren gläsernen
Phiolen, auf deren gelblichem Etikett in eigenartigen Zeichen, die Menegilda
nicht lesen konnte, wohl die Beschreibung der Tinktur und ihre
Anwendungsgebiete verzeichnet waren.
„Hier ist
es!“ verkündete der Kaufmann stolz und hielt das Fläschchen hoch gegen das
Sonnenlicht, als wolle er dessen Inhalt prüfen. Ein hoffnungsloses Unterfangen,
denn das Glas war zu trüb, um neben dem Füllstand irgend etwas preis zu geben.
Vielleicht war dies jedoch auch das einzige, das ihn interessiert hatte, denn
er grunzte freudig.
„Und das
wirkt?“ Menegilda runzelte die Stirn und musterte skeptisch das unscheinbare
Behältnis. Der Mann machte auf sie keinen vertrauenerweckenden Eindruck.
„Nun, es
gibt verschiedene Arten von Spinnengiften, aber nach den Anzeichen, die Ihr
beschrieben habt...“
Dagnir
hielt der Hobbitfrau das Fläschchen entgegen, zog es jedoch sogleich zurück, als
diese ihre Hand danach ausstreckte und beäugte nun seinerseits kritisch ihr
biederes Gewand.
„Womit
wollt Ihr mich bezahlen?“
Menegilda
zögerte. Was, wenn der Mann ein Schwindler war? Unentschlossen nagte sie an
ihrer Unterlippe. Mit sichtlicher Überwindung griff sie dann nach einer Kette,
die sie verborgen unter ihrer Bluse getragen hatte und zog einen goldenen
Anhänger hervor. Mit zitternden Fingern löste sie ihn und reichte ihn dem
Händler. „Das wird wohl reichen, denke ich“, erwiderte sie kühl.
Dagnir
ergriff das Schmuckstück und pfiff leise durch die Zähne, bevor er seine
Verwunderung kontrollieren konnte und seinem Gesicht einen möglichst
gleichgültigen Ausdruck gab. „Gut, dafür werde ich Euch die Tinktur
überlassen.“
„Wie wird
es verabreicht?“ Unschlüssig drehte sie das Fläschchen in den Händen und
verengte die Augen zu schmalen Schlitzen in dem Versuch, die Krähenfüße auf dem
Zettel zu entziffern.
„Ihr müßt
es mit Wasser verdünnen.“ Ein flüchtiger Blick auf das Etikett. „Ein Teil
dieser kostbaren Tinktur zu neun Teilen Wasser. Alle drei Stunden einen halben
Krug bis das Fieber nachläßt.“
Menegilda
nickte knapp, ließ die Medizin in einer zwischen den weiten Falten ihres Rockes
verborgenen Tasche verschwinden und streckte dem Kaufmann die geöffnete Hand
unter die Nase.
„Ich
bekomme noch etwas heraus“, stellte sie trocken fest.
Dagnir
blickte zwischen den stechenden Augen der vorher so harmlos aussehenden Frau
und ihrer leeren Hand hin und her. Er entschied sich, den Ahnungslosen zu
spielen und legte den Kopf fragend schief.
Eine
Weile dauerte das wortlose Kräftemessen, dann schnaufte die Hobbitfrau
verärgert aus.
„Versucht
nicht, mir das Fell von den Zehen zu ziehen *!“ zischte sie ihn an und hielt
die Hand noch ein wenig höher.
Irritiert
senkte Dagnir die Augen und studierte die bloßen aber äußerst behaarten Füße
der kleinen Frau.
„Und tut
nicht so als wüßtet Ihr nicht, wovon ich spreche!“
Zögernd
ließ der Kaufmann drei Kupfermünzen in ihre Hand gleiten. Die Hobbitfrau
betrachtete sie ungerührt. „Und?“ Mit einer ungeduldig flatternden Bewegung der
freien Hand bedeutete sie dem Mann, daß sie mit dieser Auszahlung nicht
hinreichend zufrieden war.
Zwei
weitere Münzen fanden sich nach kurzem Zaudern zu den ersten, ernteten aber nicht
den gewünschten Erfolg.
„Ihr seid
ein harter Handelspartner“, stöhnte Dagnir gequält und machte keine Anstalten,
noch einmal in seine Tasche zu greifen.
„Ach!
Papperlapapp! Ich bin überzeugt Ihr werdet trotz allem einen lohnenden Gewinn
einstreichen!“
Nur sehr
widerwillig rückte er dann doch noch zwei weitere Münzen heraus, und Menegilda
entschied, daß sie nun in das Geschäft einwilligen konnte. Sie steckte das Geld
zu der Phiole und begab sich zum Ausgang.
„Ich will
für Euch hoffen, daß die Medizin wirkt!“
Dagnir
kam es nicht in den Sinn, über diese im Hinausgehen gesprochene Drohung zu
lachen. Er hatte ihren entschlossenen Blick gesehen und wußte im selben Moment,
wie sehr er diese kleinen Leute doch unterschätzt hatte. Erbleichend wischte er
sich den perlenden Angstschweiß von der Stirn.
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* ein Hobbit-Sprichwort, siehe “The Return of the
Shadow”, Seite 25