Bei den Elben
trug sie den melodischen Namen Men i-Naugrim, doch in der rauhen Sprache derer,
nach denen sie benannt war, klang sie wie ein Reibeisen. Von den Hobbits wurde
sie schlicht „Waldstraße“ genannt. Wie ein langer brauner Wurm schlängelte sie
sich zwischen dem felsigen Ausläufer im Norden und der hügeligen mit Gras,
Büschen und vereinzelten Bäumen bestandenen Landschaft im Süden stetig gen
Westen, auf das hohe, zackige Nebelgebirge zu.
In langen
Jahrhunderten hatten Reisende aller Art und Gattungen hier einen Pfad
ausgetreten. Die Grasnarbe war allmählich aufgebrochen und zerstört worden, der
blanke lehmige Boden war hervorgetreten. Hitze und Kälte hatten ihn gegerbt,
Wolkenbrüche ihn ausgespült, die lange Trockenperiode in diesem Sommer die
harte Oberfläche zersprengt und tiefe Furchen hineingerissen. Rechts und links
des Weges war die Vegetation verdörrt, verbrannt von den unbarmherzigen
Strahlen der Sonne. Das Gras war braun und das Laub hing traurig von den Ästen
herab, viel zu früh vergilbt, vertrocknet noch ehe der Herbst es hatte bunt
färben können.
Wilde
Himbeersträucher lockten mit den wenigen ihnen verbliebenen Früchten. Auch ihre
Blätter waren braun und ließen die tiefe, rote Farbe der Beeren noch kräftiger
hervortreten.
An
manchen Stellen traten Bäume so dicht an die Straße heran und standen so nahe
beieinander, daß ihre Kronen eine Art natürlichen Torbogen über dieser
bildeten, waren jedoch nicht zahlreich genug, als daß man in dieser Gegend von
einem Wald hätte reden können. Folgte man ihr nach Osten, so gelangte man zum
Großen Grünwald, oder Düsterwald wie er nun genannt wurde, und diesem verdankte
sie ihren Namen.
Ein
kleines Rudel Hirsche weidete genügsam an ein paar im Schutz hoher Eichen
stehenden Holunderbüschen und ließ sich die wenigen noch saftigen Blätter
schmecken. Achtsam drehten sie ihre Ohren nach den Seiten. Hin und wieder
hielten sie inne und sogen die Luft prüfend durch die Nüstern. Es war still.
Still und friedlich. Lieblicher Vogelgesang erfüllte die feuchte Morgenluft.
Leise raschelte das Heu zwischen den Hufen des sich bewegenden Rotwildes.
Nichts
Verdächtiges war zu hören oder zu sehen und ohne Vorwarnung sirrten mehrere
kurze, gefiederte Pfeile aus einem nahen Gebüsch. Sicher bohrten sie sich in
ihr Ziel und drei der Tiere knickten stöhnend zusammen, die anderen schreckten
auf, blickten in die Richtung, aus der der Tod so plötzlich Einzug in ihre
Mitte gehalten hatte, und bevor der Rest der Herde mit donnernden Hufen
flüchten konnte, ereilte drei weitere Kühe das Unheil. Auch diesmal waren die
Schüsse so präzise gezielt, daß die Tiere nicht leiden mußten. Ein letztes
Schnauben war alles, was sie noch ausstoßen konnten, bevor sie zur Erde sanken
und die Dunkelheit sie nahm.
Kaum war
die Beute erlegt sprangen drei kleine Gestalten hinter den Büschen hervor und
die niedrige Böschung hinauf. Selbst jetzt, wo sie sich nicht heranpirschten,
sondern flink zu ihrem Fang hinübereilten, verursachten ihre bloßen, behaarten
Füße kaum ein Geräusch.
Dafür
erklang jetzt von der Straße das langsam näherkommende Poltern schwerer Karren
und wenig später konnte man deutlich das müde Brüllen der Zugochsen hören.
„Gerade
noch rechtzeitig“, brummte Boldegrin, zückte sein Messer und schnitt einer Hirschkuh
die Halsader auf, um sie ausbluten zu lassen. „Hätte uns gerade noch gefehlt,
daß sie das Wild verjagen!“
Der
Wagenzug rollte näher und allmählich waren weitere Geräusche zu unterscheiden.
Ziegen, Schafe und Rinder tummelten sich ungeordnet zwischen den Fuhrwerken und
zwischen diesen wiederum eine bunt gekleidete und eifrig plaudernde
Hobbitschar. Wären Kleidung und Wagen nicht so verstaubt, ihre Haare und das
Fell des Viehs so ungepflegt und die Essensvorräte entschieden zu einseitig
gewesen, man hätte denken können, sie befänden sich auf einem netten
gemeinsamen Ausflug.
Jetzt
hatten die beiden Reiter, die dem Treck voraus waren, die Gruppe auf der
kleinen Anhöhe entdeckt. Sie lüfteten ihre Hüte und winkten ihnen grüßend
entgegen.
„Hey,
holla! Sieh nur! Unser Mittagessen ist gesichert!“ rief der eine freudig. Der
andere leckte sich genüßlich mit der Zunge die Lippen. „Wurde auch langsam
Zeit. Ich kann schon keine Kornfladen und Äpfel mehr sehen. Bitte um
Verzeihung. Aber besonders abwechslungsreich sind unsere Vorräte auf die Dauer
wirklich nicht.“ Fredoc drehte sich im Sattel um und schwenkte seinen Hut nun
Richtung Wagenzug. „Außerdem wird eine kräftige Brühe und ein Happen Fleisch
unseren Verletzten und Alten gut tun.“
„Nicht
nur diesen“, bestätigte Ilberic nickend mit einem sehnsuchtsvollen Unterton.
Dann war das schwatzende Völkchen auch schon heran. Die Wagen wurden angehalten
und das Gesprächsthema wechselte fließend von der Aussaat Grüner Bohnen, der
richtigen Bewässerung von Geranien, dem vorschriftsmäßigen Trocknen des
Pfeifenkrauts und dem neuesten Kuchenrezept, zum Zubereiten eines schmackhaften
Wildbratens. Übergangslos begannen auch sogleich Essensvorbereitungen, ohne daß
sie sich erst absprechen mußten, und ohne daß es jemand für nötig befand, in
seiner begeisterten Kochlehre innezuhalten oder dem anderen bei der seinigen
zuzuhören.
Thain
Taleras mußte schon einige Machtworte sprechen, um wenigstens vier der Leute,
die bereits alle wie wild mit Töpfen und Zubehör herumhantierten, zum
Ausschirren der Ochsengespanne zu bewegen.
Innerhalb
kürzester Zeit glich das Lager einem schlecht organisierten Jahrmarkt. Überall
waren Kochstellen hergerichtet, die einen durchforsteten ihre Vorräte nach
Kräutern zum Würzen, die anderen pirschten auf der Suche nach solchen durch die
nahe Umgebung, wo sie jedoch außer etwas dürrem Sauerampfer nichts Brauchbares
auftreiben konnten. Deshalb rafften sie kurzerhand einiges an trockenen Ästen
zum Feuern zusammen. Und dabei rief ein jeder lautstark und verkündete
überzeugt seine Version des Rezeptes wie ein Marktschreier, der seine Ware
feilbietet.
Nur
wenige hatten sich dem allgemeinen Treiben nicht angeschlossen: Die beiden
Schwerverletzten, die nicht ohne Hilfe von den Wagen herunter konnten und
schmunzelnd das Chaos verfolgten, Lobelia Haferstroh, die empört schimpfte,
weil niemand ihr mit ihren Hühnern helfen wollte und Orgonas Gerstenbräu, der
bleich und ein wenig wackelig an einen der Wagen gelehnt stand und froh war,
daß niemand ihm Beachtung schenkte.
Für einen
kurzen Augenblick kehrte Ruhe ein, wenn man es denn Ruhe nennen mochte, daß die
Kochstellen bereit waren und die Betriebsamkeit, nicht jedoch das Mundwerk von
über zweihundert Hobbits stillstand, als diese auf die Grundlage ihres
Festschmauses warteten, die bald herbeigeschafft wurde.
~*~
Orgonas
ließ den Blick unruhig über das Lager schweifen. Als er sich unbeobachtet
wähnte, schwankte er einige Schritte zur Seite und ließ sich gegen den glatten
Stamm einer Buche gestützt vorsichtig zur Erde gleiten. Ein schmerzhaftes
Stöhnen entfuhr seinen Lippen und mechanisch griff er zu seinem linken Oberarm.
Der weiße Verband war zum Zerreißen gespannt, so sehr war der Muskel darunter
geschwollen. Er spürte die Wärme, die er ausstrahlte und fühlte das Pochen, das
durch seine Hand fuhr, sich zum Hals hin fortsetzte und in seinen Ohren
dröhnte, wie die Hammerschläge einer Zwergenschmiede.
Benommen
versuchte er den Schleier des aufkommenden Wundfiebers wegzublinzeln und schloß
gleich darauf ergeben die Augen, lehnte den Kopf gegen denn Stamm und atmete
schwer ein, als diese geringe Bewegung eine erneute Welle des Schmerzes durch
seinen Arm schickte.
„Orgo?“
Fredoc hob den Hut des Freundes an der Krempe an, um in sein Gesicht zu
blicken, über das er gerutscht war, und betrachtete ihn sorgenvoll. „Du hast
Schmerzen. Leugne es nicht."
„Fällt
mir nicht ein. Ich mach mich doch nicht zum Narren.“ Orgonas klang matt. Seine
Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
Seufzend
ließ Fredoc sich bei ihm nieder. „Laß mal
sehen.“
„Nicht.
Laß. Das wird schon wieder.“ Kraftlos schob er den anderen von sich, um seinen
Worten Nachdruck zu verleihen. Doch der ließ nicht locker. Trotzig schüttelte
er den Kopf und brummte unwillig.
„Jetzt
halt endlich still, Orgo! Ich versteh ja, daß Du Angst hast, es könnte noch
mehr wehtun!“
„Hab ich
gar nicht!“
„Ach
nein?“
„Nein...“
Ohne die Augen zu öffnen murmelte Orgonas ein unwilliges: „Ist doch nur ein
Kratzer.“
„Gestern
war’s nur ein Kratzer, heute ist’s rot und geschwollen! Und du bist blaß und
bleich wie ein Bettlaken. Und denk nur ja nicht ich hätte nicht gesehen, wie du
hierher geschwankt bist, und daß du dich die letzte halbe Meile an einem der
Karren festhalten mußtest!“
Wehrlos
ließ Orgonas nun die Behandlung des Freundes über sich ergehen, der in seiner
durch Ärger bemäntelten Sorge nicht gerade sanft den Verband abwickelte.
Inzwischen
wetterte er weiter.
„Und denk
nicht, ich wäre der einzige, dem das aufgefallen ist!“
„Ich
denke gar nichts“, ächzte Orgonas.
„Wie? Oh,
das ist gut. Weißt du, das letzte Mal, als du gedacht hast, hast du dir das
hier nämlich erst eingebrockt!“
Mit einem
leisen >Ratsch!< löste sich der Verband von der verklebten Wunde. Dem
folgte ein kaum unterdrückter Schmerzensschrei, der wiederum den Anstoß dafür
gab, daß eine Gestalt sich aus dem Schatten eines Busches löste, wo sie bis zu
diesem Moment unentschlossen gestanden hatte. Schnell huschte sie ein paar
Schritte auf die beiden zu, das Gesicht schreckensbleich, die Augen weit
aufgerissen. Dann stoppte sie abrupt, als sie Fredocs anzügliches Grinsen
bemerkte und legte die andere Hälfte des Weges betont gelassen zurück.
Fest und
bestimmt schob Rosilot Fredoc beiseite und kniete sich an seinen Platz. „Laß
mich das machen, Fred.“
Die Stoffhülle
gab einen stark geröteten Oberarm und einen unschönen, eitrigen Schnitt frei.
Zischend zog sie die Luft ein.
„Ach
Rosilot, ich hab mich wie ein Dummkopf benommen! Und ich hab dir Kummer
bereitet und..“, quoll es plötzlich aus Orgonas hervor, und sein blasses
Gesicht gewann etwas an Farbe.
„Hast du
nicht. Du hast tapfer gekämpft und die beiden Jungs gerettet.“ Das Mädchen
schüttelte mißbilligend den Kopf und tastete nach seiner Stirn. Eindeutig
fiebrig. Sanft drückte sie ihn zurück auf das Lager.
„Fred,
geh, hol mir eine Schüssel kochendes Wasser, bevor sie das Fleisch hineintun“,
scheuchte sie den jüngeren fort. Danach zückte sie einen glattledernen Beutel
aus den Falten ihrer Schürze.
„Mal
sehen. Gnomwurz sollte die Eiterung stoppen und etwas Goldblume die Schwellung
zum Abklingen bringen.“ Sie zog beides aus dem Bündel hervor. „Nur gegen das
Fieber hab ich nichts“, fügte sie bedauernd hinzu. „Aber das sollte sich dann
von selbst legen.“
„Woher
weißt du eigentlich von dem Kampf?“ Unruhig rutschte Orgonas ein wenig zur
Seite, als plötzlich ein Messer in ihrer Hand aufblitzte.
„Fred hat
mir davon erzählt“, erwiderte das Mädchen wegwerfend und zerhackte die Kräuter.
Orgonas
atmete erleichtert auf. „So, hat er das?“
„Mhm.
Halt still!“ Gedankenschnell war Rosilot nähergerückt, hatte seinen Arm
ergriffen und einen kurzen Schnitt angesetzt.
„Autsch!!“
„Der
Eiter muß raus.“ Schulterzuckend und scheinbar völlig ungerührt hielt das
Mädchen ein sauberes Stück Stoff an die Wunde, um das gelbe Sekret aufzufangen.
Hinter ihr hatte Fredoc vor Schreck beinahe die Schüssel fallenlassen. Jetzt
kam er mit eingezogenem Kopf heran und stellte sie neben ihr ab.
„Sah aus,
als hätte es weh getan“, murmelte er mitleidig.
„Hat es
auch“, schmollte Orgonas und forschte vergebens nach einer bedauernden
Gefühlsregung in den Zügen des Mädchens. Dieses war ausschließlich auf seine
Arbeit konzentriert. Nachdem es dem Eiter einen Ablauf verschafft hatte,
drückte es vorsichtig mit zwei Fingern oberhalb der Ansammlung und beförderte
ihn auf diese Weise aus der Wunde, solange, bis helles Blut nachkam. Dann warf
es den getränkten Stoffetzen beiseite, griff einen neuen aus seiner Schürze und
wusch die Wunde sorgfältig mit dem heißen Wasser aus. Die ausgewählten Kräuter
wurden aufgelegt und der Verband erneuert.
Mit einer
streichenden Bewegung drückte Rosilot ein paar Falten aus dem Stoff, bevor sie
mit den Enden einen ordentlichen Knoten machte. Erst jetzt hob sie den Blick zu
Orgonas, und Kummer flackerte in ihren meerblauen Augen.
„Was
waren das für Biester, daß ein kleiner Schnitt ihrer Krallen solch Unheil
anrichten kann?!“ Fachkundig legte sie abermals eine Hand auf Orgonas’ Stirn
und hielt mit dem Daumen nacheinander seine Lider hoch, um ihm in die Augen zu
sehen. Sein Blick war verschleiert und er sank langsam in eine Bewußtlosigkeit.
~*~
Stirnrunzelnd
betrachtete Taleras den Himmel. Das freundliche Wetter trügte, wußte er. Die
Nächte waren bereits empfindlich kalt, und der Wind hatte sich gedreht. Seit
zwei Tagen wehte er beständig aus Nordwest und mit jeder Böe brachte er mehr
der eisigen Gebirgsluft heran. Es war Herbst und in diesen Breiten folgte
schnell der Winter. Ein leiser Hauch wirbelte eine handvoll gelber Blätter an
seinem Gesicht vorbei und bestätigte seine Beobachtungen.
Sein
Blick löste sich vom Firmament und wanderte nach Westen. Wenn es stimmte, was
man sich erzählte - und er zweifelte keinen Augenblick daran - so wimmelte es
in den Bergen von Orks. Und doch waren sie nicht das Schlimmste, mit dem sie zu
rechnen hatten. Sie waren spät dran. Wenn sie nicht schneller vorankamen, würde
der Winter sie in den Bergen überraschen und dann...
Taleras
zog den Kragen an seinem Hals dichter zusammen. Ihn fröstelte. Gewaltsam riß er
den Blick von dem drohenden Felsmassiv zurück zum Lager. Seine Leute, die
Hobbits - Männer, Frauen und Kinder - , die ihm anvertraut waren und die ihm
vertrauten, hatten sich nach dem üppigen Mahl zum Ruhen niedergelegt und
genossen die wenigen warmen Strahlen, die die tiefstehende Sonne noch zu
verschenken hatte. Die Kleinen spielten ausgelassen an einem algen-verseuchten
Teich, dessen Wasser zu schlackig war, um ihre fast leeren Fässer zu füllen.
Der Thain
seufzte und stülpte mit einer entschlossenen Geste den langen Federhut auf sein
Haupt. Die guten Leute waren im Eifer und in der Aussicht auf ein opulentes
Mahl zu großzügig mit dem kostbaren Naß umgegangen. Aber was hatte er erwartet?
Am Ufer eines stattlichen Flußlaufes aufgewachsen, hatten sie niemals gelernt,
sparsam damit umzugehen. Mit Essensvorräten, ja. Es hatte immer schon auch
magere Ernten und hungrige Winter gegeben. Aber mit Wasser...
Ein
erneuter Seufzer entrann seiner Brust.
„Gambold,
Sederic“, rief er seine obersten Ratsherrn zu sich und winkte ihnen, ihm zu
Albadoc zu folgen.
Der Alte
lehnte an einer heruntergelassenen Laderampe, paffte genüßlich an seiner Pfeife
und hing den eigenen Gedanken nach. Mit wissenden Augen begrüßte er die
Ankömmlinge.
„Rosilot
und Fredoc haben den jungen Orgonas in einen der Wagen gebracht. Es geht ihm
gar nicht gut.“
„Halderic
und Merimas macht das ewige Gerüttel zu schaffen“, wußte Sederic. „Die Wunden
heilen nicht so, wie sie sollten.“
„Meralda...“
Gambold brauchte nicht weiterzusprechen. Alle wußten, wie es um die werdende
Mutter bestellt war.
Taleras
ließ sich ergeben zu Boden plumpsen und bediente sich ungeniert an Albadocs
Tabakvorrat.
„Wir
rasten. Zwei Tage müssen reichen, sonst gefährden wir das ganze Unternehmen. Wir
schicken Reiter aus; immer im Wechsel. Sie können in einem halben Tagesritt
zurück jenes Bächlein erreichen, an dem wir letzte Nacht gelagert haben und
unsere Wasservorräte auffüllen. Auf diese Weise werden wir es hier noch eine
Weile aushalten.“
„Hast du
eine Idee, wie wir von hier an ohne Wasser auskommen sollen?“ Albadoc hatte
seine Stimme zu einem Flüstern gedämpft, um mögliche Lauscher ihres Gesprächs
nicht an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen. „Es sind keine weiteren
Wasserläufe mehr eingezeichnet zwischen hier und der anderen Seite des
Nebelgebirges. Was glaubst du, wie lange wir bis dorthin brauchen? Drei Wochen,
vielleicht vier?“
„Eher
länger, fürchte ich.“ Das ehemalige Dorfoberhaupt richtete den Blick auf ein
paar unscheinbare Wölkchen am blaßblauen Himmel. „Aber ich vermute, genügend
Wasser wird bald nicht mehr unsere größte Sorge sein.“ Er blies eine lange
Reihe Rauchkringel in die Luft und sah ihnen sinnend hinterher. Sie stiegen
langsam auf, strebten gen Himmel und verschmolzen scheinbar mit den Dunstfäden
am Firmament.
~*~
„Das geht
nicht. Wir können uns keinen Aufenthalt leisten. Der Winter...“ Halb benommen
versuchte Orgonas sich aus der wärmenden Decke zu wickeln und aufzurichten.
Fredoc
hinderte ihn daran.
„Thain
Taleras wird schon wissen, was zu tun ist. Also lieg still und überlaß es ihm!“
„Vielleicht
denkt er nicht daran, daß der Winter uns im Gebirge überraschen könnte!“
Belehrend
hob Fredoc beide Augenbrauen und den linken Zeigefinger dazu.
„Wieso
hast du nicht früher von dieser fürchterlichen Lichtleere und dem unnatürlichen
Schlaf gesprochen?“
„Lenk
jetzt nicht ab, Fred.“
„Tu ich
nicht. Also?“
„Ach, Du
weißt doch selbst, wieviel die Leute oft zu den alten Geschichten hinzu erzählen
und wie wenig man sich tatsächlich darauf verlassen kann. Ich hab es einfach
für eine Übertreibung gehalten.“
„Taleras
war von Anfang an anderer Meinung.“
„Du
meinst?“
„Ich
meine, du solltest nicht soviel denken!“
„Das wird
mir ewig anhängen...“ Kläglich stöhnend ließ Orgonas sich auf sein Lager
zurücksinken. „Aber du hast recht. Ich denke..“, ein Schmunzeln huschte über
sein Gesicht, als sich die entspannten Brauen des anderen von neuem Richtung
Haaransatz bewegten, „ich denke, wir können uns auf sein Urteil verlassen.“
Nachhaltig
fixierte Fredoc die Plane, die – um die kalte Luft auszusperren – zugezogen und
sogar am Kopf- und Fußende des Karrens mit den beiden Zusatzstücken
verschlossen war. Von außerhalb fiel das helle Tageslicht herein und konnte
doch die wachsgetränkte Faser nur undeutlich durchdringen. Es herrschte ein
angenehmes Halbdunkel inmitten von Mehlsäcken und Apfelbergen, zwischen die man
Orgonas gelagert hatte. Er ließ die Augen an einer Stoffalte entlangwandern,
bis Fredocs sorgenvolles Gesicht in sein Blickfeld kam.
„De-...
meinst du, Taleras hat von den Wölfen gehört?“
„Jedes
Kind kennt diese Geschichten. Meine Mutter hat sie mir oft vor dem Einschlafen
erzählt. Sie sagte, sie holen kleine Hobbitkinder, die nachts nicht artig
schlafen und draußen herumstreunen.“ Er grinste schief und strich die Decke
enger um Orgonas’ Schultern und Hals. „Das hat sie natürlich nur gesagt, damit
ich nichts Dummes anstelle und in finsterer Nacht in ein Erdloch falle oder
einen Schweinetrog und mir Fuß oder Hals breche. Und tatsächlich es hat
gewirkt. Ich hab nie mein Bett verlassen... bis Hildifons mich aufgeklärt hat,
daß die Wölfe nur im Gebirge leben.“
In
Erinnerung an seine verstorbene Mutter lächelte er versonnen und rieb sich
nachdenklich den Bart. Sein Gesicht wurde ernst, als er gedämpft fortfuhr: „Man
sagt, sobald der Schnee fällt, kommen sie aus ihren Unterschlüpfen hoch oben in
den Gipfeln und suchen die tiefer gelegenen Ebenen auf. Und in besonders harten
Wintern, wenn das Fleisch knapp ist und der Hunger groß, kommen sie sogar noch
weiter ins Tal herab.“
„Na dann
können wir ja völlig beruhigt sein“, brabbelte Orgonas, schon halb im Delirium
und dämmerte langsam weg.
Kopfschüttelnd
tastete Fredoc nach seiner Stirn. Das Fieber war weiter gestiegen.
~*~
In der
Nacht huschten leise Schatten durch das Lager. Zielstrebig bewegten sie sich
durch die Reihen der Schläfer. Zwei waren es. Auf ihren Rücken wuchteten sie
prall gefüllte Säcke, worinnen sich etwas bewegte und kehlige Laute drangen
gedämpft heraus. Ganz dicht bei einem viereckigen Drahtgestell blieben sie
stehen und legten ihre Last ab.
Unruhig
sahen die beiden sich um. Ihre Hände hielten die Öffnungen der Säcke fest zusammen,
penibel darauf bedacht auch nicht die geringste Lücke zwischen den Stoffrändern
entstehen zu lassen. Endlich hatten sie ihr Opfer ausgemacht. Im fahlen Licht
der Sterne hob sich ein unförmiges Bündel vom Grasboden ab. Langsam hob und
senkte es sich unter ruhigen Atemzügen. Unbemerkt glitten die Unholde näher
heran. Mit geschickten Fingern lüftete der eine die wollene Decke einen Spalt
weit; der andere griff tief in seinen Beutel.
Gegen
Morgen zerriß ein schriller Schrei die friedliche Ruhe...
~*~
„Waah!
Glitschig... eklig... sie sind überall... überall... Nehmt sie weg! Weg!“
„Orgo?“
„Schleimig...
überall... weg... weg...“
„Orgo!“
„Wa-?“
Schweißgebadet schreckte der junge Mann hoch und sah in zwei bekümmerte
Augenpaare. Das eine gehörte Fredoc. Es konnte ihn nicht lange fesseln., denn
gewaltsam zog es seinen Blick zu dem anderen Paar. Mit einem entspannten
Seufzer sank er zurück.
„Ich habe
geträumt Dod und Gorbu hätten Lobelia ein paar fette Kröten unter die
Schlafdecke geschmuggelt.“
Fredoc
und Rosilot sahen einander überrascht an.
„Woher
weißt du, daß es Dod und Gorbu waren?“ platzte Fred heraus und schrumpfte unter
dem Blick des Mädchens zusammen. „Keiner weiß, wer es gewesen ist“, fügte er
kleinlaut hinzu.
Orgonas
beachtete ihn gar nicht. Sein Blick verschwamm im Nichts. „In dem Traum war ich
Lobelia“, nuschelte er undeutlich.
Fredoc
schüttelte sich unwohlig. „Brrrr... Allein das ist schon ein furchterregender
Gedanke. Kein Wunder, daß es dich so erschüttert hat“, versuchte er den Freund
zu beruhigen und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Zum
ersten Mal seit Stunden huschte die Andeutung eines Lächelns über Rosilots
Züge. Doch es erreichte ihre Augen nicht.
„Und sie waren
überall. Überall...“ Steif fuhr er in die Höhe. Seine Stimme wurde aufs Neue
panisch.
„Sch.sch...
ganz ruhig. Du hattest nur einen bösen Traum. Alles ist gut. Es war nur ein
böser Traum. Nur ein Traum.“ Es waren vier Hände nötig, den jungen Mann auf
sein Lager zu drücken, denn in seinem Grauen hatte er trotz der großen
Schwäche, die an seinem Körper zehrte, außergewöhnliche Kräfte entwickelt.
Gleich
darauf sackte er völlig zusammen und versank abermals in einen unruhigen
Fieberschlaf.
Fredoc
rappelte sich auf und stolperte aus dem Wagen, dicht gefolgt von dem jungen
Hobbitmädchen.
„Wo
willst du hin? Ich brauche dich hier.“ Ihre Stimme klang weinerlich und
bewirkte, daß der andere sich augenblicklich umdrehte.
„Rosi“,
versuchte er besänftigend auf sie einzureden, „sieh’s ein. Wir können im Moment
nichts für ihn tun.“ Schüchtern legte er ihr eine Hand auf den Arm.
„Er kommt
kaum noch zu sich und wenn, dann scheint er uns gar nicht wirklich zu
erkennen“, schniefte sie und fuhr sich mit den Händen unkontrolliert über die
tränenden Augen und das Stupsnäschen. „Was hast du eigentlich vor?“ fragte sie
mit dem vergeblichen Versuch, fester zu klingen und strich sich energisch eine
vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr.
„Dod und
Gorbu zur Rede stellen.“ Fredoc hob entschuldigend beide Handflächen nach oben.
„Ich hab keine Ahnung woher er das mit den Kröten wissen konnte, und ich will
versuchen herauszufinden, was an dem Rest seiner Geschichte dran ist. Weiß auch
nicht. Aber vielleicht hilft’s.“
„Helfen?
Wobei? Deine Neugierde zu befriedigen?“ Rosilots Angst wandelte sich in Ärger.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihr Gegenüber böse an. „Das
ist nicht dein Ernst, oder?“ Sie rammte ihm mit schmerzhafter Bestimmtheit den
ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust.
„Dein
bester Freund ist krank, er stirbt vielleicht...“ Was auch immer sie noch hatte
sagen wollen, erstarb in einem hysterischen Weinkrampf.
„Nein,
Rosi, nein.“ Fredoc klang verzweifelt. Unschlüssig, ob er sie in die Arme
nehmen oder lieber mit einer Ohrfeige zur Vernunft bringen sollte, stand er vor
ihr. Er rang hilflos die Hände und suchte schließlich Zuflucht in einer
Erklärung. „Ich dachte doch nur... ach, ich weiß doch auch nicht! Ich fühle
mich hier überflüssig und ich muß irgend etwas tun, sonst zerreißt’s mich“,
brüllte er sie beinahe an, um ihr Gezeter zu übertönen.
Doch das
Geschrei wurde nur noch lauter, weshalb er ein unsicheres „Rosi?“ nachschob.
Als immer noch keine Reaktion erfolgte, legte er die Hände schwer auf ihre Schultern
und schüttelte sie erst leicht, dann entschiedener.
„Rosi,
bitte. Sieh mich an. Daß wir verzweifeln, hilft ihm auch nicht. Und das würde
er auch nicht wollen. Ich jedenfalls werde die Hoffnung nicht aufgeben und
jeder noch so kleinen Spur nachgehen, so unsinnig sie auch erscheinen mag.“
Mit
verweintem Blick verfolgte Rosilot seinen zielstrebigen Schritt durch das
Lager, bis er hinter einem der Wagen verschwand. Aus dem Innern des Karrens in ihrem
Rücken erklang ein erbarmungswürdiges Wimmern, das ihre Knie weich werden und
sie schwanken ließ. Haltsuchend griff sie um sich, als eine feste Hand sie
packte und ein vertrauter Arm sich stützend um ihre Mitte legte.
„Na, dann
wollen wir mal sehen, was wir für den Schwerenöter tun können“, erklang die
tröstende Stimme ihrer Mutter. „Ich habe eine Wegstunde von hier Kräuter
gefunden, die ihm vielleicht helfen werden.“
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