Kapitel 7: Die Waldstraße

 

 

 

Bei den Elben trug sie den melodischen Namen Men i-Naugrim, doch in der rauhen Sprache derer, nach denen sie benannt war, klang sie wie ein Reibeisen. Von den Hobbits wurde sie schlicht „Waldstraße“ genannt. Wie ein langer brauner Wurm schlängelte sie sich zwischen dem felsigen Ausläufer im Norden und der hügeligen mit Gras, Büschen und vereinzelten Bäumen bestandenen Landschaft im Süden stetig gen Westen, auf das hohe, zackige Nebelgebirge zu.

 

In langen Jahrhunderten hatten Reisende aller Art und Gattungen hier einen Pfad ausgetreten. Die Grasnarbe war allmählich aufgebrochen und zerstört worden, der blanke lehmige Boden war hervorgetreten. Hitze und Kälte hatten ihn gegerbt, Wolkenbrüche ihn ausgespült, die lange Trockenperiode in diesem Sommer die harte Oberfläche zersprengt und tiefe Furchen hineingerissen. Rechts und links des Weges war die Vegetation verdörrt, verbrannt von den unbarmherzigen Strahlen der Sonne. Das Gras war braun und das Laub hing traurig von den Ästen herab, viel zu früh vergilbt, vertrocknet noch ehe der Herbst es hatte bunt färben können.

 

Wilde Himbeersträucher lockten mit den wenigen ihnen verbliebenen Früchten. Auch ihre Blätter waren braun und ließen die tiefe, rote Farbe der Beeren noch kräftiger hervortreten.

 

An manchen Stellen traten Bäume so dicht an die Straße heran und standen so nahe beieinander, daß ihre Kronen eine Art natürlichen Torbogen über dieser bildeten, waren jedoch nicht zahlreich genug, als daß man in dieser Gegend von einem Wald hätte reden können. Folgte man ihr nach Osten, so gelangte man zum Großen Grünwald, oder Düsterwald wie er nun genannt wurde, und diesem verdankte sie ihren Namen.

 

Ein kleines Rudel Hirsche weidete genügsam an ein paar im Schutz hoher Eichen stehenden Holunderbüschen und ließ sich die wenigen noch saftigen Blätter schmecken. Achtsam drehten sie ihre Ohren nach den Seiten. Hin und wieder hielten sie inne und sogen die Luft prüfend durch die Nüstern. Es war still. Still und friedlich. Lieblicher Vogelgesang erfüllte die feuchte Morgenluft. Leise raschelte das Heu zwischen den Hufen des sich bewegenden Rotwildes.

 

Nichts Verdächtiges war zu hören oder zu sehen und ohne Vorwarnung sirrten mehrere kurze, gefiederte Pfeile aus einem nahen Gebüsch. Sicher bohrten sie sich in ihr Ziel und drei der Tiere knickten stöhnend zusammen, die anderen schreckten auf, blickten in die Richtung, aus der der Tod so plötzlich Einzug in ihre Mitte gehalten hatte, und bevor der Rest der Herde mit donnernden Hufen flüchten konnte, ereilte drei weitere Kühe das Unheil. Auch diesmal waren die Schüsse so präzise gezielt, daß die Tiere nicht leiden mußten. Ein letztes Schnauben war alles, was sie noch ausstoßen konnten, bevor sie zur Erde sanken und die Dunkelheit sie nahm.

 

Kaum war die Beute erlegt sprangen drei kleine Gestalten hinter den Büschen hervor und die niedrige Böschung hinauf. Selbst jetzt, wo sie sich nicht heranpirschten, sondern flink zu ihrem Fang hinübereilten, verursachten ihre bloßen, behaarten Füße kaum ein Geräusch.

 

Dafür erklang jetzt von der Straße das langsam näherkommende Poltern schwerer Karren und wenig später konnte man deutlich das müde Brüllen der Zugochsen hören.

 

„Gerade noch rechtzeitig“, brummte Boldegrin, zückte sein Messer und schnitt einer Hirschkuh die Halsader auf, um sie ausbluten zu lassen. „Hätte uns gerade noch gefehlt, daß sie das Wild verjagen!“

 

Der Wagenzug rollte näher und allmählich waren weitere Geräusche zu unterscheiden. Ziegen, Schafe und Rinder tummelten sich ungeordnet zwischen den Fuhrwerken und zwischen diesen wiederum eine bunt gekleidete und eifrig plaudernde Hobbitschar. Wären Kleidung und Wagen nicht so verstaubt, ihre Haare und das Fell des Viehs so ungepflegt und die Essensvorräte entschieden zu einseitig gewesen, man hätte denken können, sie befänden sich auf einem netten gemeinsamen Ausflug.

 

Jetzt hatten die beiden Reiter, die dem Treck voraus waren, die Gruppe auf der kleinen Anhöhe entdeckt. Sie lüfteten ihre Hüte und winkten ihnen grüßend entgegen.

 

„Hey, holla! Sieh nur! Unser Mittagessen ist gesichert!“ rief der eine freudig. Der andere leckte sich genüßlich mit der Zunge die Lippen. „Wurde auch langsam Zeit. Ich kann schon keine Kornfladen und Äpfel mehr sehen. Bitte um Verzeihung. Aber besonders abwechslungsreich sind unsere Vorräte auf die Dauer wirklich nicht.“ Fredoc drehte sich im Sattel um und schwenkte seinen Hut nun Richtung Wagenzug. „Außerdem wird eine kräftige Brühe und ein Happen Fleisch unseren Verletzten und Alten gut tun.“

 

„Nicht nur diesen“, bestätigte Ilberic nickend mit einem sehnsuchtsvollen Unterton. Dann war das schwatzende Völkchen auch schon heran. Die Wagen wurden angehalten und das Gesprächsthema wechselte fließend von der Aussaat Grüner Bohnen, der richtigen Bewässerung von Geranien, dem vorschriftsmäßigen Trocknen des Pfeifenkrauts und dem neuesten Kuchenrezept, zum Zubereiten eines schmackhaften Wildbratens. Übergangslos begannen auch sogleich Essensvorbereitungen, ohne daß sie sich erst absprechen mußten, und ohne daß es jemand für nötig befand, in seiner begeisterten Kochlehre innezuhalten oder dem anderen bei der seinigen zuzuhören.

 

Thain Taleras mußte schon einige Machtworte sprechen, um wenigstens vier der Leute, die bereits alle wie wild mit Töpfen und Zubehör herumhantierten, zum Ausschirren der Ochsengespanne zu bewegen.

 

Innerhalb kürzester Zeit glich das Lager einem schlecht organisierten Jahrmarkt. Überall waren Kochstellen hergerichtet, die einen durchforsteten ihre Vorräte nach Kräutern zum Würzen, die anderen pirschten auf der Suche nach solchen durch die nahe Umgebung, wo sie jedoch außer etwas dürrem Sauerampfer nichts Brauchbares auftreiben konnten. Deshalb rafften sie kurzerhand einiges an trockenen Ästen zum Feuern zusammen. Und dabei rief ein jeder lautstark und verkündete überzeugt seine Version des Rezeptes wie ein Marktschreier, der seine Ware feilbietet.

 

Nur wenige hatten sich dem allgemeinen Treiben nicht angeschlossen: Die beiden Schwerverletzten, die nicht ohne Hilfe von den Wagen herunter konnten und schmunzelnd das Chaos verfolgten, Lobelia Haferstroh, die empört schimpfte, weil niemand ihr mit ihren Hühnern helfen wollte und Orgonas Gerstenbräu, der bleich und ein wenig wackelig an einen der Wagen gelehnt stand und froh war, daß niemand ihm Beachtung schenkte.

 

Für einen kurzen Augenblick kehrte Ruhe ein, wenn man es denn Ruhe nennen mochte, daß die Kochstellen bereit waren und die Betriebsamkeit, nicht jedoch das Mundwerk von über zweihundert Hobbits stillstand, als diese auf die Grundlage ihres Festschmauses warteten, die bald herbeigeschafft wurde.

 

~*~

 

Orgonas ließ den Blick unruhig über das Lager schweifen. Als er sich unbeobachtet wähnte, schwankte er einige Schritte zur Seite und ließ sich gegen den glatten Stamm einer Buche gestützt vorsichtig zur Erde gleiten. Ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr seinen Lippen und mechanisch griff er zu seinem linken Oberarm. Der weiße Verband war zum Zerreißen gespannt, so sehr war der Muskel darunter geschwollen. Er spürte die Wärme, die er ausstrahlte und fühlte das Pochen, das durch seine Hand fuhr, sich zum Hals hin fortsetzte und in seinen Ohren dröhnte, wie die Hammerschläge einer Zwergenschmiede.

 

Benommen versuchte er den Schleier des aufkommenden Wundfiebers wegzublinzeln und schloß gleich darauf ergeben die Augen, lehnte den Kopf gegen denn Stamm und atmete schwer ein, als diese geringe Bewegung eine erneute Welle des Schmerzes durch seinen Arm schickte.

 

„Orgo?“ Fredoc hob den Hut des Freundes an der Krempe an, um in sein Gesicht zu blicken, über das er gerutscht war, und betrachtete ihn sorgenvoll. „Du hast Schmerzen. Leugne es nicht."

 

„Fällt mir nicht ein. Ich mach mich doch nicht zum Narren.“ Orgonas klang matt. Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

 

Seufzend ließ Fredoc sich bei ihm nieder. „Laß mal sehen.“

 

„Nicht. Laß. Das wird schon wieder.“ Kraftlos schob er den anderen von sich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Doch der ließ nicht locker. Trotzig schüttelte er den Kopf und brummte unwillig.

 

„Jetzt halt endlich still, Orgo! Ich versteh ja, daß Du Angst hast, es könnte noch mehr wehtun!“

 

„Hab ich gar nicht!“

 

„Ach nein?“

 

„Nein...“ Ohne die Augen zu öffnen murmelte Orgonas ein unwilliges: „Ist doch nur ein Kratzer.“

 

„Gestern war’s nur ein Kratzer, heute ist’s rot und geschwollen! Und du bist blaß und bleich wie ein Bettlaken. Und denk nur ja nicht ich hätte nicht gesehen, wie du hierher geschwankt bist, und daß du dich die letzte halbe Meile an einem der Karren festhalten mußtest!“

 

Wehrlos ließ Orgonas nun die Behandlung des Freundes über sich ergehen, der in seiner durch Ärger bemäntelten Sorge nicht gerade sanft den Verband abwickelte.

 

Inzwischen wetterte er weiter.

 

„Und denk nicht, ich wäre der einzige, dem das aufgefallen ist!“

 

„Ich denke gar nichts“, ächzte Orgonas.

 

„Wie? Oh, das ist gut. Weißt du, das letzte Mal, als du gedacht hast, hast du dir das hier nämlich erst eingebrockt!“

 

Mit einem leisen >Ratsch!< löste sich der Verband von der verklebten Wunde. Dem folgte ein kaum unterdrückter Schmerzensschrei, der wiederum den Anstoß dafür gab, daß eine Gestalt sich aus dem Schatten eines Busches löste, wo sie bis zu diesem Moment unentschlossen gestanden hatte. Schnell huschte sie ein paar Schritte auf die beiden zu, das Gesicht schreckensbleich, die Augen weit aufgerissen. Dann stoppte sie abrupt, als sie Fredocs anzügliches Grinsen bemerkte und legte die andere Hälfte des Weges betont gelassen zurück.

 

Fest und bestimmt schob Rosilot Fredoc beiseite und kniete sich an seinen Platz. „Laß mich das machen, Fred.“

 

Die Stoffhülle gab einen stark geröteten Oberarm und einen unschönen, eitrigen Schnitt frei. Zischend zog sie die Luft ein.

 

„Ach Rosilot, ich hab mich wie ein Dummkopf benommen! Und ich hab dir Kummer bereitet und..“, quoll es plötzlich aus Orgonas hervor, und sein blasses Gesicht gewann etwas an Farbe.

 

„Hast du nicht. Du hast tapfer gekämpft und die beiden Jungs gerettet.“ Das Mädchen schüttelte mißbilligend den Kopf und tastete nach seiner Stirn. Eindeutig fiebrig. Sanft drückte sie ihn zurück auf das Lager.

 

„Fred, geh, hol mir eine Schüssel kochendes Wasser, bevor sie das Fleisch hineintun“, scheuchte sie den jüngeren fort. Danach zückte sie einen glattledernen Beutel aus den Falten ihrer Schürze.

 

„Mal sehen. Gnomwurz sollte die Eiterung stoppen und etwas Goldblume die Schwellung zum Abklingen bringen.“ Sie zog beides aus dem Bündel hervor. „Nur gegen das Fieber hab ich nichts“, fügte sie bedauernd hinzu. „Aber das sollte sich dann von selbst legen.“

 

„Woher weißt du eigentlich von dem Kampf?“ Unruhig rutschte Orgonas ein wenig zur Seite, als plötzlich ein Messer in ihrer Hand aufblitzte.

 

„Fred hat mir davon erzählt“, erwiderte das Mädchen wegwerfend und zerhackte die Kräuter.

 

Orgonas atmete erleichtert auf. „So, hat er das?“

 

„Mhm. Halt still!“ Gedankenschnell war Rosilot nähergerückt, hatte seinen Arm ergriffen und einen kurzen Schnitt angesetzt.

 

„Autsch!!“

 

„Der Eiter muß raus.“ Schulterzuckend und scheinbar völlig ungerührt hielt das Mädchen ein sauberes Stück Stoff an die Wunde, um das gelbe Sekret aufzufangen. Hinter ihr hatte Fredoc vor Schreck beinahe die Schüssel fallenlassen. Jetzt kam er mit eingezogenem Kopf heran und stellte sie neben ihr ab.

 

„Sah aus, als hätte es weh getan“, murmelte er mitleidig.

 

„Hat es auch“, schmollte Orgonas und forschte vergebens nach einer bedauernden Gefühlsregung in den Zügen des Mädchens. Dieses war ausschließlich auf seine Arbeit konzentriert. Nachdem es dem Eiter einen Ablauf verschafft hatte, drückte es vorsichtig mit zwei Fingern oberhalb der Ansammlung und beförderte ihn auf diese Weise aus der Wunde, solange, bis helles Blut nachkam. Dann warf es den getränkten Stoffetzen beiseite, griff einen neuen aus seiner Schürze und wusch die Wunde sorgfältig mit dem heißen Wasser aus. Die ausgewählten Kräuter wurden aufgelegt und der Verband erneuert.

 

Mit einer streichenden Bewegung drückte Rosilot ein paar Falten aus dem Stoff, bevor sie mit den Enden einen ordentlichen Knoten machte. Erst jetzt hob sie den Blick zu Orgonas, und Kummer flackerte in ihren meerblauen Augen.

 

„Was waren das für Biester, daß ein kleiner Schnitt ihrer Krallen solch Unheil anrichten kann?!“ Fachkundig legte sie abermals eine Hand auf Orgonas’ Stirn und hielt mit dem Daumen nacheinander seine Lider hoch, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war verschleiert und er sank langsam in eine Bewußtlosigkeit.

 

~*~

 

Stirnrunzelnd betrachtete Taleras den Himmel. Das freundliche Wetter trügte, wußte er. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und der Wind hatte sich gedreht. Seit zwei Tagen wehte er beständig aus Nordwest und mit jeder Böe brachte er mehr der eisigen Gebirgsluft heran. Es war Herbst und in diesen Breiten folgte schnell der Winter. Ein leiser Hauch wirbelte eine handvoll gelber Blätter an seinem Gesicht vorbei und bestätigte seine Beobachtungen.

 

Sein Blick löste sich vom Firmament und wanderte nach Westen. Wenn es stimmte, was man sich erzählte - und er zweifelte keinen Augenblick daran - so wimmelte es in den Bergen von Orks. Und doch waren sie nicht das Schlimmste, mit dem sie zu rechnen hatten. Sie waren spät dran. Wenn sie nicht schneller vorankamen, würde der Winter sie in den Bergen überraschen und dann...

 

Taleras zog den Kragen an seinem Hals dichter zusammen. Ihn fröstelte. Gewaltsam riß er den Blick von dem drohenden Felsmassiv zurück zum Lager. Seine Leute, die Hobbits - Männer, Frauen und Kinder - , die ihm anvertraut waren und die ihm vertrauten, hatten sich nach dem üppigen Mahl zum Ruhen niedergelegt und genossen die wenigen warmen Strahlen, die die tiefstehende Sonne noch zu verschenken hatte. Die Kleinen spielten ausgelassen an einem algen-verseuchten Teich, dessen Wasser zu schlackig war, um ihre fast leeren Fässer zu füllen.

 

Der Thain seufzte und stülpte mit einer entschlossenen Geste den langen Federhut auf sein Haupt. Die guten Leute waren im Eifer und in der Aussicht auf ein opulentes Mahl zu großzügig mit dem kostbaren Naß umgegangen. Aber was hatte er erwartet? Am Ufer eines stattlichen Flußlaufes aufgewachsen, hatten sie niemals gelernt, sparsam damit umzugehen. Mit Essensvorräten, ja. Es hatte immer schon auch magere Ernten und hungrige Winter gegeben. Aber mit Wasser...

 

Ein erneuter Seufzer entrann seiner Brust.

 

„Gambold, Sederic“, rief er seine obersten Ratsherrn zu sich und winkte ihnen, ihm zu Albadoc zu folgen.

 

Der Alte lehnte an einer heruntergelassenen Laderampe, paffte genüßlich an seiner Pfeife und hing den eigenen Gedanken nach. Mit wissenden Augen begrüßte er die Ankömmlinge.

 

„Rosilot und Fredoc haben den jungen Orgonas in einen der Wagen gebracht. Es geht ihm gar nicht gut.“

 

„Halderic und Merimas macht das ewige Gerüttel zu schaffen“, wußte Sederic. „Die Wunden heilen nicht so, wie sie sollten.“

 

„Meralda...“ Gambold brauchte nicht weiterzusprechen. Alle wußten, wie es um die werdende Mutter bestellt war.

 

Taleras ließ sich ergeben zu Boden plumpsen und bediente sich ungeniert an Albadocs Tabakvorrat.

 

„Wir rasten. Zwei Tage müssen reichen, sonst gefährden wir das ganze Unternehmen. Wir schicken Reiter aus; immer im Wechsel. Sie können in einem halben Tagesritt zurück jenes Bächlein erreichen, an dem wir letzte Nacht gelagert haben und unsere Wasservorräte auffüllen. Auf diese Weise werden wir es hier noch eine Weile aushalten.“

 

„Hast du eine Idee, wie wir von hier an ohne Wasser auskommen sollen?“ Albadoc hatte seine Stimme zu einem Flüstern gedämpft, um mögliche Lauscher ihres Gesprächs nicht an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen. „Es sind keine weiteren Wasserläufe mehr eingezeichnet zwischen hier und der anderen Seite des Nebelgebirges. Was glaubst du, wie lange wir bis dorthin brauchen? Drei Wochen, vielleicht vier?“

 

„Eher länger, fürchte ich.“ Das ehemalige Dorfoberhaupt richtete den Blick auf ein paar unscheinbare Wölkchen am blaßblauen Himmel. „Aber ich vermute, genügend Wasser wird bald nicht mehr unsere größte Sorge sein.“ Er blies eine lange Reihe Rauchkringel in die Luft und sah ihnen sinnend hinterher. Sie stiegen langsam auf, strebten gen Himmel und verschmolzen scheinbar mit den Dunstfäden am Firmament.

 

~*~

 

„Das geht nicht. Wir können uns keinen Aufenthalt leisten. Der Winter...“ Halb benommen versuchte Orgonas sich aus der wärmenden Decke zu wickeln und aufzurichten.

 

Fredoc hinderte ihn daran.

 

„Thain Taleras wird schon wissen, was zu tun ist. Also lieg still und überlaß es ihm!“

 

„Vielleicht denkt er nicht daran, daß der Winter uns im Gebirge überraschen könnte!“

 

Belehrend hob Fredoc beide Augenbrauen und den linken Zeigefinger dazu.

 

„Wieso hast du nicht früher von dieser fürchterlichen Lichtleere und dem unnatürlichen Schlaf gesprochen?“

 

„Lenk jetzt nicht ab, Fred.“

 

„Tu ich nicht. Also?“

 

„Ach, Du weißt doch selbst, wieviel die Leute oft zu den alten Geschichten hinzu erzählen und wie wenig man sich tatsächlich darauf verlassen kann. Ich hab es einfach für eine Übertreibung gehalten.“

 

„Taleras war von Anfang an anderer Meinung.“

 

„Du meinst?“

 

„Ich meine, du solltest nicht soviel denken!“

 

„Das wird mir ewig anhängen...“ Kläglich stöhnend ließ Orgonas sich auf sein Lager zurücksinken. „Aber du hast recht. Ich denke..“, ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht, als sich die entspannten Brauen des anderen von neuem Richtung Haaransatz bewegten, „ich denke, wir können uns auf sein Urteil verlassen.“

 

Nachhaltig fixierte Fredoc die Plane, die – um die kalte Luft auszusperren – zugezogen und sogar am Kopf- und Fußende des Karrens mit den beiden Zusatzstücken verschlossen war. Von außerhalb fiel das helle Tageslicht herein und konnte doch die wachsgetränkte Faser nur undeutlich durchdringen. Es herrschte ein angenehmes Halbdunkel inmitten von Mehlsäcken und Apfelbergen, zwischen die man Orgonas gelagert hatte. Er ließ die Augen an einer Stoffalte entlangwandern, bis Fredocs sorgenvolles Gesicht in sein Blickfeld kam.

 

„De-... meinst du, Taleras hat von den Wölfen gehört?“

 

„Jedes Kind kennt diese Geschichten. Meine Mutter hat sie mir oft vor dem Einschlafen erzählt. Sie sagte, sie holen kleine Hobbitkinder, die nachts nicht artig schlafen und draußen herumstreunen.“ Er grinste schief und strich die Decke enger um Orgonas’ Schultern und Hals. „Das hat sie natürlich nur gesagt, damit ich nichts Dummes anstelle und in finsterer Nacht in ein Erdloch falle oder einen Schweinetrog und mir Fuß oder Hals breche. Und tatsächlich es hat gewirkt. Ich hab nie mein Bett verlassen... bis Hildifons mich aufgeklärt hat, daß die Wölfe nur im Gebirge leben.“

 

In Erinnerung an seine verstorbene Mutter lächelte er versonnen und rieb sich nachdenklich den Bart. Sein Gesicht wurde ernst, als er gedämpft fortfuhr: „Man sagt, sobald der Schnee fällt, kommen sie aus ihren Unterschlüpfen hoch oben in den Gipfeln und suchen die tiefer gelegenen Ebenen auf. Und in besonders harten Wintern, wenn das Fleisch knapp ist und der Hunger groß, kommen sie sogar noch weiter ins Tal herab.“

 

„Na dann können wir ja völlig beruhigt sein“, brabbelte Orgonas, schon halb im Delirium und dämmerte langsam weg.

 

Kopfschüttelnd tastete Fredoc nach seiner Stirn. Das Fieber war weiter gestiegen.

 

~*~

 

In der Nacht huschten leise Schatten durch das Lager. Zielstrebig bewegten sie sich durch die Reihen der Schläfer. Zwei waren es. Auf ihren Rücken wuchteten sie prall gefüllte Säcke, worinnen sich etwas bewegte und kehlige Laute drangen gedämpft heraus. Ganz dicht bei einem viereckigen Drahtgestell blieben sie stehen und legten ihre Last ab.

 

Unruhig sahen die beiden sich um. Ihre Hände hielten die Öffnungen der Säcke fest zusammen, penibel darauf bedacht auch nicht die geringste Lücke zwischen den Stoffrändern entstehen zu lassen. Endlich hatten sie ihr Opfer ausgemacht. Im fahlen Licht der Sterne hob sich ein unförmiges Bündel vom Grasboden ab. Langsam hob und senkte es sich unter ruhigen Atemzügen. Unbemerkt glitten die Unholde näher heran. Mit geschickten Fingern lüftete der eine die wollene Decke einen Spalt weit; der andere griff tief in seinen Beutel.

 

Gegen Morgen zerriß ein schriller Schrei die friedliche Ruhe...

 

~*~

 

„Waah! Glitschig... eklig... sie sind überall... überall... Nehmt sie weg! Weg!“

 

„Orgo?“

 

„Schleimig... überall... weg... weg...“

 

„Orgo!“

 

„Wa-?“ Schweißgebadet schreckte der junge Mann hoch und sah in zwei bekümmerte Augenpaare. Das eine gehörte Fredoc. Es konnte ihn nicht lange fesseln., denn gewaltsam zog es seinen Blick zu dem anderen Paar. Mit einem entspannten Seufzer sank er zurück.

 

„Ich habe geträumt Dod und Gorbu hätten Lobelia ein paar fette Kröten unter die Schlafdecke geschmuggelt.“

 

Fredoc und Rosilot sahen einander überrascht an.

 

„Woher weißt du, daß es Dod und Gorbu waren?“ platzte Fred heraus und schrumpfte unter dem Blick des Mädchens zusammen. „Keiner weiß, wer es gewesen ist“, fügte er kleinlaut hinzu.

 

Orgonas beachtete ihn gar nicht. Sein Blick verschwamm im Nichts. „In dem Traum war ich Lobelia“, nuschelte er undeutlich.

 

Fredoc schüttelte sich unwohlig. „Brrrr... Allein das ist schon ein furchterregender Gedanke. Kein Wunder, daß es dich so erschüttert hat“, versuchte er den Freund zu beruhigen und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

 

Zum ersten Mal seit Stunden huschte die Andeutung eines Lächelns über Rosilots Züge. Doch es erreichte ihre Augen nicht.

 

„Und sie waren überall. Überall...“ Steif fuhr er in die Höhe. Seine Stimme wurde aufs Neue panisch.

 

„Sch.sch... ganz ruhig. Du hattest nur einen bösen Traum. Alles ist gut. Es war nur ein böser Traum. Nur ein Traum.“ Es waren vier Hände nötig, den jungen Mann auf sein Lager zu drücken, denn in seinem Grauen hatte er trotz der großen Schwäche, die an seinem Körper zehrte, außergewöhnliche Kräfte entwickelt.

 

Gleich darauf sackte er völlig zusammen und versank abermals in einen unruhigen Fieberschlaf.

 

Fredoc rappelte sich auf und stolperte aus dem Wagen, dicht gefolgt von dem jungen Hobbitmädchen.

 

„Wo willst du hin? Ich brauche dich hier.“ Ihre Stimme klang weinerlich und bewirkte, daß der andere sich augenblicklich umdrehte.

 

„Rosi“, versuchte er besänftigend auf sie einzureden, „sieh’s ein. Wir können im Moment nichts für ihn tun.“ Schüchtern legte er ihr eine Hand auf den Arm.

 

„Er kommt kaum noch zu sich und wenn, dann scheint er uns gar nicht wirklich zu erkennen“, schniefte sie und fuhr sich mit den Händen unkontrolliert über die tränenden Augen und das Stupsnäschen. „Was hast du eigentlich vor?“ fragte sie mit dem vergeblichen Versuch, fester zu klingen und strich sich energisch eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr.

 

„Dod und Gorbu zur Rede stellen.“ Fredoc hob entschuldigend beide Handflächen nach oben. „Ich hab keine Ahnung woher er das mit den Kröten wissen konnte, und ich will versuchen herauszufinden, was an dem Rest seiner Geschichte dran ist. Weiß auch nicht. Aber vielleicht hilft’s.“

 

„Helfen? Wobei? Deine Neugierde zu befriedigen?“ Rosilots Angst wandelte sich in Ärger. Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihr Gegenüber böse an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Sie rammte ihm mit schmerzhafter Bestimmtheit den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust.

 

„Dein bester Freund ist krank, er stirbt vielleicht...“ Was auch immer sie noch hatte sagen wollen, erstarb in einem hysterischen Weinkrampf.

 

„Nein, Rosi, nein.“ Fredoc klang verzweifelt. Unschlüssig, ob er sie in die Arme nehmen oder lieber mit einer Ohrfeige zur Vernunft bringen sollte, stand er vor ihr. Er rang hilflos die Hände und suchte schließlich Zuflucht in einer Erklärung. „Ich dachte doch nur... ach, ich weiß doch auch nicht! Ich fühle mich hier überflüssig und ich muß irgend etwas tun, sonst zerreißt’s mich“, brüllte er sie beinahe an, um ihr Gezeter zu übertönen.

 

Doch das Geschrei wurde nur noch lauter, weshalb er ein unsicheres „Rosi?“ nachschob. Als immer noch keine Reaktion erfolgte, legte er die Hände schwer auf ihre Schultern und schüttelte sie erst leicht, dann entschiedener.

 

„Rosi, bitte. Sieh mich an. Daß wir verzweifeln, hilft ihm auch nicht. Und das würde er auch nicht wollen. Ich jedenfalls werde die Hoffnung nicht aufgeben und jeder noch so kleinen Spur nachgehen, so unsinnig sie auch erscheinen mag.“

 

Mit verweintem Blick verfolgte Rosilot seinen zielstrebigen Schritt durch das Lager, bis er hinter einem der Wagen verschwand. Aus dem Innern des Karrens in ihrem Rücken erklang ein erbarmungswürdiges Wimmern, das ihre Knie weich werden und sie schwanken ließ. Haltsuchend griff sie um sich, als eine feste Hand sie packte und ein vertrauter Arm sich stützend um ihre Mitte legte.

 

„Na, dann wollen wir mal sehen, was wir für den Schwerenöter tun können“, erklang die tröstende Stimme ihrer Mutter. „Ich habe eine Wegstunde von hier Kräuter gefunden, die ihm vielleicht helfen werden.“

 

 

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