Kapitel 6: Der Düsterwald

 

 

 

„Fred!“

 

„Hm?“

 

„Fred, wach auf!“

 

„Was’s n los?“

 

„Pst! Nicht so laut!“ Besorgt blickte Orgonas sich um. Doch niemand beachtete die beiden. Es war noch nicht ganz dunkel und viele Hobbits liefen geschäftig im Lager umher.

 

„Was?“

 

„Gorbulas und Dodinas sind verschwunden!“

 

„Wie verschwunden?“

 

„Nicht mehr da!“

 

Fredoc setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Verwirrt blinzelte er den Freund an. Der ließ sich mit unruhig zu den Seiten schweifendem Blick neben ihm nieder und vergewisserte sich achtsam, daß keiner sie belauschen konnte.

 

„Warum schläfst du eigentlich schon?“

 

Fredoc hob zu einer Verteidigung an, doch Orgonas winkte ungeduldig ab.

 

„Ist ja auch egal. Also, die Kinder sind fort. Sie haben am Fluß gespielt. Genauer gesagt ‚im’ Fluß. >von Stein zu Stein hüpfen< und >wer traut sich weiter hinaus< und so. Beim Abendessen haben ihre Mütter sie vermißt. Danach sind sie auch nicht aufgetaucht. Ich habe Melilot erzählt Gorbulas sei bei Doderic, und Primula Doderic sei bei Gorbulas und...“

 

„Halt, halt, halt! Moment mal!“ Verstimmt fuchtelte Fredoc mit der Hand vor des anderen Gesicht herum. „Vor lauter wer bei wem und wo, verstehe ich gerade gar nichts mehr. Also, wo sind die Knaben denn nun? Bei Primula oder bei Melilot?“

 

„Weder noch.“

 

„Aber du sagtest doch gerade...“

 

Orgonas stöhnte. „Ich sagte, daß ich zu Primula gesagt habe, daß...“

 

„Ich weiß, was du gesagt hast!“

 

„Psst!“

 

„Was denn nun?“ raunte Fredoc gereizt.

 

„Jede der beiden Mütter denkt, ihr Sohn sei bei der anderen.“

 

„Und?“

 

„Sie sind bei keiner von beiden!“ Orgonas rang die Hände ob der Schwerfälligkeit des Kameraden. „Sie sind fort!“ zischte er.

 

„Du hast die beiden Damen also belogen!“ Fredoc runzelte die Stirn und blickte so streng wie der Dorfbüttel, wenn er ein paar Lausebengel beim Kirschenstehlen ertappt.

 

„Ich habe nicht gelogen“, schmollte Orgonas. „Es ist ziemlich sicher, daß die Kinder beisammen sind, nur eben nicht hier.“

 

„Und wo sind sie dann?“

 

„Wenn ich das wüßte...“ Orgonas schob den Hut in den Nacken, rümpfte die Nase und nickte mit dem Kinn in Richtung des Waldes. „Ich befürchte dort.“

 

Fredocs Augen weiteten sich vor Schreck. Er rutschte näher an den Freund heran. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen.

 

„Und nun? Was hast du jetzt vor? Weiß Taleras davon? Was, wenn den Kindern was passiert ist? Was, wenn die Mütter bemerken, daß du sie an der Nase herumgeführt hast, was...“ Er verwehrte sich selbst, weiterzufragen und holte tief Luft.

 

„Taleras weiß noch nicht davon, weil ich keine Gelegenheit hatte mit ihm zu reden, ohne daß das ganze Lager in Aufruhr geraten wäre. Um die Mütter brauchst du dich nicht zu sorgen. Melilot ist eifrig bemüht eine der Planen zu flicken solange sie noch genügend Licht dazu hat. Primula wechselt Halderics Verband. Beide sind beschäftigt bis in die Nacht und werden denken, daß die Jungs beim jeweils anderen untergekrochen sind, um sich bis zum Einschlafen Geschichten zu erzählen. Wäre schließlich nicht das erste Mal.“ Orgonas seufzte. „Wir müssen sie suchen, Fred!“

 

Fredoc nickte verstehend, und wie so oft, wenn Orgonas einen Plan ersann, war er bereit dem Freund zu folgen, ohne sein Handeln in Frage zu stellen.

 

Flink erhoben sie sich und huschten wie zwei lautlose Schatten aus dem Lager. Zwar war es eigentlich noch nicht dunkel genug, um heimlich zur Furt und über den Fluß zu gelangen, doch die beiden Männer verstanden es so geschickt jede Deckung auszunutzen und sich behende zwischen den Wagen hindurch und an den umherwuselnden Leutchen vorbeizuschlängeln, daß sie nur ein sehr aufmerksamer Beobachter bemerken konnte. Da aber wohl niemand einen Grund hatte so gewissenhaft ihr Treiben zu verfolgen, sorgten sie sich nicht darum.

 

Wenig später waren sie im Schutz des Viehs, das zum Saufen teilweise ein gutes Stück in den Fluß hinausgewatet war, ans andere Ufer verschwunden.

 

Tiefe Dunkelheit umfing sie, als sie die ersten Bäume passiert hatten. Dunkelheit und Stille. Nicht der geringste Laut drang noch an ihre Ohren. Nicht vom Lager, nicht von den Tieren und nicht aus dem Innern des Waldes. Es war, als hätte jemand eine Tür hinter ihnen geschlossen. Eine dichte, undurchdringliche Tür, die mit allen Geräuschen auch den kühlen Lufthauch aussperrte, der sie eben noch umweht hatte.

 

Unentschlossen blieb Fredoc stehen. Er hielt den Atem an und schloß die Augen, um besser hören zu können. Nichts. Er öffnete die Augen wieder und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Vielleicht, wenn er sich an die Finsternis gewöhnt hatte, so dachte er, könnte er sich ein wenig orientieren. Doch die Schwärze wich nicht. Als ob irgend etwas sämtliches Licht und jegliches Leben aufgesaugt hätte.

 

„Orgo?“ flüsterte er ängstlich. „Orgo, bist du noch da?“ Seine Stimme hallte dumpf und wurde von dem Dunkel verschluckt.

 

Ein kaum vernehmliches Rascheln erklang zu seiner Rechten, dann legte sich eine Hand behutsam tastend auf seine Schulter.

 

„Sei ruhig Fred, ich bin hier.“

 

„Ich kann gar nichts mehr sehen!“ beklagte sich der Jüngere und schämte sich im gleichen Moment für seine Feigheit.

 

„Ich auch nicht.“ Orgonas legte die Stirn in steile Falten, was Fredoc natürlich ebenfalls nicht sehen konnte und dachte angestrengt nach. „Das gefällt mir nicht. Gib mir deine Hand, Fred. Wir dürfen einander nicht verlieren. Und gib acht, daß du nicht einschläfst!“

 

„Also wirklich, Orgo! Nur weil du mich erst vor ein paar Minuten geweckt hast...“, empörte sich Fredoc und spannte trotzig den Rücken.

 

„Das meine ich nicht.“ Orgonas klang irgendwie beunruhigend und der eben wieder aufkommende Mut des Freundes sank von neuem. Unsicher starrte er dahin, wo er des anderen Augen vermutete.

 

„Ich kenne diese Düsternis, oder besser, ich habe von ihr gehört. Frag jetzt nicht. Laß uns die Kinder suchen!“

 

„Das ist leicht gesagt.“ Fredoc seufzte steinerweichend. „Bevor wir hier jemanden finden, haben wir uns hoffnungslos verlaufen und müssen selbst gesucht werden.“

 

Orgonas antwortete nicht auf die Klage des Freundes, ergriff seine Hand und zog ihn hinter sich her. Vorsichtig tastete er mit den Füßen den Boden ab, bevor er einen Schritt tat und hielt den Arm nach vorne gestreckt, um nicht irgendwo anzurennen.

 

Langsam, Stück für Stück, bewegten sie sich in den Wald hinein, an alten knorrigen Bäumen vorbei, stolperten über kniehohes Unterholz und suchten einen Weg durch dichtes Buschwerk. Leise riefen sie dabei die Namen der beiden Kinder, erhielten aber keine Antwort.

 

Und es kam, wie es kommen mußte. Noch bevor sie sich dessen bewußt waren, hatten sie jedes Gefühl für Zeit und Richtung verloren.

 

„Fred! Hör auf zu schnarchen und wach gefälligst auf!“ schimpfte Orgonas. Er kämpfte mühsam gegen den eigenen Schlaf an.

 

„Ich schnarche nicht, Orgo! Du schnarchst!“

 

Orgonas konnte hören, wie Fredoc scharf einatmete. „Was hast du denn?“ hauchte er so leise, daß seine Worte gerade bis zu den Ohren des anderen drangen.

 

„Du bist rechts von mir!“

 

Der so Belehrte hob nur die Augenbrauen als Antwort auf die simple Feststellung. Ein atemloses Schweigen folgte.

 

„Wer schnarcht dann zu meiner Linken?“

 

Fredocs Worte, so gedämpft sie auch waren, durchschnitten die Leere wie ein Dolch.

 

Orgonas trat dicht an den Gefährten heran und legte ihm den Mund an die Ohrmuschel.

 

„Weißt du, ob Dodinas oder Gorbulas schnarcht?“

 

„In ihrem Alter?“

 

Er spürte wie Fredoc zweifelnd den Kopf schüttelte. Unschlüssig verharrten sie an ihrem Platz und lauschten in die Schwärze, die sie noch immer wie ein dichter Schleier umfing. Da war es wieder! Irgend jemand schnarchte, und bei genauerem Hinhören waren die Töne eindeutig zu tief für zwei kleine Hobbitkinder.

 

„Es sind zwei.“

 

Fredoc hatte recht, denn nun drangen ähnliche Geräusche von weiter seitlich herüber. Eine Weile standen die beiden noch reglos da, dann zupfte Orgonas Fredoc am Ärmel. Auch dieser hielt es für ratsam, sich so leise wie möglich davonzuschleichen.

 

Orgonas übernahm wieder die Führung. Allerdings ein wenig zu hastig, denn er achtete nicht gründlich genug darauf, wo er hintrat. Ärgerliches Grummeln ertönte. Ein langgezogenen Stöhnen, wie wenn jemand im Schlaf gestört wird, folgte. Dann bewegte sich etwas und gleich darauf erklang auch hier jenes tiefe, satte Schnarchen.

 

Orgonas war erschrocken zu Fredoc zurückgewichen. Fest hielten die Freunde sich bei der Hand und wagten kaum zu atmen. Als sie sicher waren, daß Wer-auch-immer-das-war nicht erwachte, starteten sie einen zweiten Versuch, von diesem Ort zu verschwinden. Diesmal war es Fredoc, der vorausging. Sie kamen ganze zwei Schritte weit bis ihnen ein Rascheln verriet, daß auch dort etwas Lebendiges ihnen den Weg versperrte.

 

Also versuchten sie es an einer anderen Stelle. Doch wohin sie sich auch wandten, die Schläfer schienen überall zu sein.

 

„Vielleicht sollten wir einfach versuchen, über sie hinwegzusteigen?“ Trotz der geflüsterten Worte, klang Fredoc beinahe verzweifelt. Er war kein Hasenfuß, sondern sogar ein sehr tapferer Kämpfer. Aber wie sollte man gegen jemanden streiten, den man nicht sehen und einschätzen konnte und von dem man streng genommen nicht einmal wußte, ob er ein Feind war?

 

Orgonas verstand ihn nur zu gut. Ihm selbst ging es nicht besser. Ein flaues Gefühl im Magen verhieß ihm nichts Gutes. Aber dies konnte ebenso gut daher kommen, daß er heute nicht zu Abend gegessen hatte. Auf alle Fälle, so dachte er, war es besser, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.

 

Doch das war leichter gesagt als getan. Da die Fremden zu dicht lagen, um an ihnen vorbeizukommen, würden sie tatsächlich über sie hinwegsteigen müssen. Da sie jedoch nichts sehen konnten, so war dieser Plan sehr gefährlich.

 

„Wo wir hereingekommen sind!“ raunte Orgonas. „Da müssen wir auch wieder hinauskommen.“

 

Doch wo war das? Sie drehten sich nach allen Richtungen und erst jetzt wurde ihnen bewußt, daß sie jegliche Orientierung verloren hatten.

 

Noch einmal bewegten sie sich in dem kleinen Kreis von etwa drei Hobbitschritten Durchmesser und tasteten sich behutsam an den Schläfern entlang. Doch so sehr sie sich auch mühten, sie konnten keinen Durchlaß finden. Vielleicht hatte ein unglücklicher Umstand sie geradewegs durch eine enge Lücke geführt und diese wurde jetzt von jemandem, der sich im Schlaf umgedreht hatte, versperrt.

 

Schließlich gaben sie die Suche auf. Sollten sie doch versuchen, über sie hinwegzuspringen?

 

„Wenn gerade dahinter ein Baum steht, sehen wir schön dumm aus!“ murrte Fredoc schlecht gelaunt und ein wenig zu laut, weshalb sich sofort ein protestierendes Stöhnen von Seiten eines der Schläfer erhob.

 

Die Freunde sogen die Luft scharf ein, doch gleich darauf vernahmen sie von der selben Stelle ruhige Schnarchtöne.

 

Außerhalb des undurchdringlichen Waldes hatte sich ein starker Wind erhoben. Der erste Vorbote der jährlichen Herbststürme. Pfeifend fuhr er durch das Lager und zerrte an den Decken, in die die Halblinge sich fest gewickelt hatten. Er schüttelte an den Büschen, deren trockenes Laub hell raschelte und dem Eindringling trotzig Widerstand bot. Die Wagenplanen blähte er dick auf, doch sie waren nun sämtlich ausgebessert und gut verschnürt und die schwere Ladung hielt alles am Boden. Eifrig blies der Wind weiter, wirbelte ein paar leere Töpfe durcheinander und zerstruwwelte das Fell der Tiere, das auf diese Weise von dem anhaftenden Staub gereinigt wurde. Weiter eilte der Wind. Er wirbelte das Wasser des Flusses auf und drückte die hohen Grashalme am Ufer nieder.

 

An den stämmigen, uralten Bäumen des Grünwaldes, machte er Halt. Er besann sich kurz und stieg dann hoch hinauf in die Wipfel, um die dunklen Kronen mit Macht zu rütteln. Ein einzelnes Blatt wurde ausgerissen. Es hatte nicht die Kraft besessen, dem Sturm zu trotzen. Es wirbelte herum, tanzte munter in der Höhe bis er vorübergezogen war, dann sank es langsam sich hin und her wiegend dem Boden zu. Hier und da ruhte es sich auf einem Ästchen aus, doch nur eine kleine Weile, dann ließ es sich weiter hinabgleiten, denn es war neugierig und wollte wissen, wie die Welt dort unten aussieht.

 

So gelangte es nach vielerlei Beschwer endlich an den verzweigten Ästen vorbei, immer tiefer, bis es an etwas seltsam glattem und weichem vorbeistrich. Bevor es sich noch darüber wundern konnte, wurde es weggewischt und vollendete seinen Weg zum Waldboden.

 

Fredoc fuhr sich mit der Hand über die Nase. Ein Blatt! Erstaunt hob er die Augenbrauen und blickte nach oben. Es war das erste Mal seit sie den Wald betreten hatten, daß sich hier etwas regte.

 

Ein einsames Blatt von einem... Baum!

 

„Die Bäume!“

 

„Hm?“

 

„Wir müssen versuchen, über die Bäume zu gelangen!“

 

Orgonas schlug sich in Gedanken an die Stirn. Darauf hätten sie längst kommen können. Irgendwo mußte doch ein Baum stehen, weit genug innerhalb des Kreises, daß seine Zweige zu ihnen hereinragten und weit genug außerhalb, daß sie auf der anderen Seite herabgelangen konnten. Nur wie weit war die >andere Seite<? Woher wußten sie, wann sie die Schar der Schläfer überwunden hatten? Sie konnten nicht sagen, ob diese nur einfach oder zu vielen hintereinander lagen.

 

„Wir klettern von Baum zu Baum. Sie stehen dicht und sie sind stark. Noch weit stärker als im Eichenhain bei Wasserach, wo wir als Kinder den Eichhörnchen hinterhergestiegen sind.“

 

„Als Kinder waren wir aber auch weit leichter!“

 

Es spielte keine Rolle, ob Orgonas die Idee gefiel oder nicht. Sie war ihr einziger Ausweg, wollten sie an der Absicht festhalten, den Fremden aus dem Weg zu gehen.

 

Fredoc stellte sich breitbeinig hin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wenn Orgonas auf seine Schultern kletterte, was dieser äußerst behutsam tat. Sein Bogen und der Köcher behinderten ihn zwar dabei, aber schließlich hatte er es ohne allzuviel Lärm zu verursachen bewerkstelligt. Nach oben und nach den Seiten tastend erhob er sich sachte. Er hatte sich noch nicht völlig aufgerichtet, als er tatsächlich einen recht dicken Ast zu greifen bekam. Ein geschickter Schwung und er saß darauf.

 

Durch sein Gewicht wurde er weit genug heruntergedrückt, daß auch Fredoc ihn fassen konnte. Während der Ältere sich nun Stück für Stück in Richtung des Stammes zurückzog, damit der Zweig nicht zu sehr belastet werden sollte und am Ende gar brach, war es für den Jüngeren kein Leichtes, sich ebenfalls hinaufzuziehen. Schwerer wäre es ihm geworden, hätte er ebenfalls seine Waffen bei sich getragen, doch die hatte er in der Aufregung im Lager zurückgelassen. Tief bog der Ast sich zur Erde und knarrte verdächtig, als Fredoc zunächst kopfüber daran baumelte. Doch er hielt stand. Mit einem raschen Griff saß der junge Mann obenauf und folgte dem Freund.

 

Geschmeidig hangelten die erdliebenden Hobbits sich durch das Ästegewirr der Bäume, bis sie die Kletterei leid und der Ansicht waren, weit genug über die Reihe der Fremden hinaus zu sein. Sie lauschten noch einmal in die nun wieder vollständige Stille, die ihnen zu Beginn ihres Abenteuers noch einen Schauder über den Rücken gejagt hatte. Dann ließen sie sich auf den Erdboden gleiten.

 

„Das war knapp!“ kommentierte Fredoc, wuselte sich mit der Hand durch die Haare und strich trockene Blätter und Nadeln von seiner Jacke.

 

„Ich weiß wieder wo wir sind.“ Seiner Stimme nach zu urteilen grinste Orgonas von einem Ohrläppchen zum anderen.

 

„So?“

 

„Zumindest weiß ich, aus welcher Richtung wir gekommen sind“, nickte er stolz. „An diesem abgebrochenen Ast sind wir vorhin schon einmal vorbeigekommen.“

 

Fredoc hörte wie Orgonas mit dem Finger über die Rinde strich.

 

„War das bevor oder nachdem wir uns verlaufen haben?“

 

„Bevor.“

 

Jetzt grinste Fredoc ebenfalls breit. „Großartig!“

 

„Gut, dann müssen wir jetzt nur noch die Jungs finden“, dämpfte Orgonas ihrer beider Optimismus.

 

„Orgo?“

 

„Hm?“

 

„Orgo... Du weißt, ich bin nicht der Schnellste im Denken, aber..“, druckste Fredoc herum. „Aber wie sollen wir sie hier jemals finden? Sie können inzwischen wer weiß wo sein.“

 

„Das glaube ich nicht, Fred. Die Wahrscheinlichkeit in Gegenden, in denen man sich nicht orientieren kann, im Kreis herum zu laufen, ist sehr hoch. Ich glaube nicht, daß sie weit gekommen sind.“

 

„Wäre es nicht trotzdem besser gewesen, wir hätten Taleras informiert und wären nicht alleine losgegangen?“

 

Orgonas seufzte leise und ließ die Schultern hängen.

 

„Du bist nicht langsam, Fred. Ich handelte zu unbedacht“, gab er ehrlich zu. „Laß es uns noch einmal versuchen, ja? Wenn wir sie in einer Stunde nicht gefunden haben, holen wir Hilfe.“

 

Fredoc fragte sich zwar im Stillen, wie Orgonas in dieser Finsternis die Zeit bestimmen wollte, doch abgesehen davon fand er den Vorschlag akzeptabel. Er nickte zustimmend.

 

„Gut. Wo fangen wir mit der Suche an?“

 

„Gehen wir hier links entlang. Sonst geraten wir gleich wieder zwischen die Schläfer.“

 

Und dies mußte nun wirklich nicht sein. Fredoc schüttelte sich unbehaglich.

 

Seite an Seite tasteten sie sich weiter in die angegebene Richtung, und als einige Zeit vergangen war, getrauten sie sich erneut, mit gedämpften Stimmen nach den Kindern zu rufen. Zunächst waren ihre Bemühungen erfolglos, doch plötzlich blieben beide wie angewurzelt stehen und horchten.

 

„Dodinas?“

 

„Gorbulas?“

 

Stille.

 

„Hast du auch etwas gehört, Fred?“

 

„Ja, irgend jemand rief da. Es klang nach-“

 

„Hilfe!“

 

Das kam von rechts und diesmal war es eindeutig die Stimme eines Kindes.

 

Mit einer fließenden Bewegung löste Orgonas den Bogen von seinem Rücken und spannte die Sehne. Fredoc wurde sich schlagartig bewußt, daß er keine Waffe besaß, bückte sich und suchte den Boden hastig nach ein paar handgroßen Steinen ab, die er in seinen riesigen Hosentaschen verschwinden ließ. In der Zwischenzeit hatte Orgonas sein Horn an die Lippen gehoben und blies mit aller Kraft hinein. Ein heller, klarer Ton durchschnitt das Dunkel. Brachte den Knaben ein wenig Hoffnung. Im Vorwärtsstürmen legte er einen Pfeil auf und das Rascheln neben ihm zeigte ihm die Nähe des Kameraden.

 

Vergessen war die undurchdringliche Schwärze. Zielsicher, nur von ihren Instinkten geleitet, wichen die Männer Bäumen und Wurzeln aus. Beiden war bewußt, wohin ihr Weg sie führte. Genau dorthin, wo sie eben noch glücklich entkommen waren: In das Lager der Fremden. Erneute Hilfeschreie erfüllten die Nacht. Jeden Moment mußten sie sie erreicht haben.

 

Orgonas prallte erschrocken zurück, als wenige Schritte vor ihm ein grünes Augenpaar erglühte und sich mit zornigem Fauchen ihm entgegenstellte. Doch seine Verwirrung währte nur kurz. Ein leises Surren und der Pfeil traf genau zwischen diese beiden einzigen Anhaltspunkte. Ihm blieb keine Zeit, sich über das eigenartige, schmerzverzerrte Quieken zu wundern. Das Augenlicht erlosch und gleich daneben und überall um sie herum leuchteten viele neue grüne Punkte auf.

 

„Dod? Gorbu?“ brüllte Fred, wog einen Stein kurz in der Hand und schleuderte ihn präzise zwischen ein funkelndes Paar.

 

„Hier sind wir!“ piepsten zwei dünne Stimmchen.

 

Bei aller Gefahr waren die Freunde erleichtert, die Gesuchten gefunden zu haben. Sie schossen und warfen einen Pfeil und Stein nach dem anderen auf die unbekannten Kreaturen und riefen den Kindern nur schnell ein paar aufmunternde Worte zu. Sodann schwiegen sie und änderten in stummer Übereinkunft den Standort, in der Hoffnung, den Gegner auf diese Weise irre zu leiten.

 

Aber die grünäugigen Wesen konnten in der Finsternis sehen. Ihre Angriffe waren gezielt auf die beiden Hobbits ausgerichtet, und sie schlugen auf sie ein, wenn sie ihnen nahe genug kommen konnten, sie mit ihren Klauen zu erreichen. Dies war zunächst selten der Fall, denn beide Halblinge gingen äußerst geschickt mit ihren Waffen um, doch dann drängten immer mehr dunkle Geschöpfe nach.

 

Orgonas bekam einen derben Schlag gegen die Schulter und taumelte zurück. Dabei fiel ihm beinahe der Bogen aus der Hand. Er bekam keine Gelegenheit einen neuen Pfeil aufzulegen - den letzten, den er noch besaß - bevor der Angreifer über ihm war. Mit aller Kraft, die der kleine Mann aufbringen konnte, zog er ihm das stabile Holz über den Kopf.

 

Der Hieb landete auf etwas Unförmigem, Harten, und Orgonas wunderte sich, ob dieses Wesen keinen Leib besaß, denn er spürte deutlich, wie die Beine nur kurz unterhalb der Arme auf seinem Körper ruhten und ihn zu Boden drückten. Qualvoll quiekte das Biest auf und lockerte seinen Griff unwesentlich, aber weit genug, daß der Hobbit sich unter ihm hervorwinden konnte. Flink sprang er auf die Beine, holte aus und hieb den Bogen gezielt genau dorthin, wo er den Nacken des Biestes vermutete. Laut krachend brachen beide und Orgonas stand ohne Waffe da.

 

Fredoc griff immer wieder mit der Linken in seine Hosentasche, zog einen Stein hervor, den er mit einem raschen Wurf in die andere Hand wechselte und feuerte ihn auf die Angreifer. Dies tat er so lange, bis der Arm zu ermüden begann und ihm die Geschosse ausgingen. Schon seit geraumer Zeit hatte er mit den Füßen den Boden nach weiteren brauchbaren Steinen abgetastet. Zu seinem Leidwesen hatte er dabei feststellen müssen, daß es hier nur weiches Moos gab. Er schleuderte den letzten Wurf zwischen die grünleuchtenden Augen eines Biestes und kam neben Orgonas zu stehen, als dieser gerade seinen Bogen zerbrochen hatte.

 

Dies war der Moment als beide erstaunt realisierten, daß die Finsternis zu weichen begann. Woran es lag, konnten sie erst nicht sagen. Möglicherweise an den schimmernden Augen, die sie umzingelten und wie Raubtiere ihre sichere Beute umlauerten. Auf jeden Fall vermochten beide wage Umrisse ihrer Umgebung zu erkennen. Sie konnten sich gegenseitig ausmachen und stellten sich sogleich mit den Rücken gegeneinander. Sie bemerkten einige Baumstämme um sie herum und ein recht hohes Gebüsch zu ihrer Seite. Dann fixierten sie ihre Angreifer genauer.

 

Ja, es lag an deren Augen, denn außer diesen vermochten sie nichts von ihnen zu erkennen. Dahinter verschwamm immer noch alles in tiefer Schwärze. Diese Augen aber befanden sich kaum zwei Fuß über der Erde und bewegten sich in schaukelnden Bewegungen hin und her, als würden die Wesen sie abschätzen und ihren nächsten Zug überlegen.

 

„Was sind das für Biester?“ Fredoc schnaufte wie nach einem langen, schnellen Lauf.

 

Ein zorniges Fauchen erhob sich im Kreis.

 

„Ich weiß nicht, Fred, aber es scheint, als könnten sie uns verstehen.“

 

„Was nun?“

 

„Ob sie klettern können?“

 

Wie um Orgonas’ Frage zu beantworten, bewegte sich an einem der Bäume, der im Bereich des grünen Lichtschimmers lag, etwas langsam von oben auf sie zu. Groß und unförmig und mit seltsam schmatzenden Geräuschen kam es herabgekrochen, und als es den Boden fast erreicht hatte, flammten zwei Augenlichter auf. Die Freunde starrten erschrocken das Wesen an, als sie erkannten, daß es kopfüber den Stamm herunterkletterte. Es reihte sich in die Schar seiner Spießgesellen und gemeinsam begutachteten sie ihre Opfer.

 

Diese suchten fieberhaft nach einer Lösung. Orgonas hielt noch immer das abgebrochene Ende des Bogens in der Hand. Das einzige, mit dem er sich nun noch verteidigen konnte und er hielt es abwehrend gegen die Belagerer gerichtet. Fredoc besaß nicht einmal etwas Vergleichbares. Zu allem Elend setzte nun auch noch das ängstliche Wimmern der Kinder ein. Die Freunde versuchten zwar, sie mit fürsorglichen Worten zu beruhigen, doch in Anbetracht ihrer Situation klang es wie Hohn. Ein schadenfrohes Zischeln erhob sich aus Richtung der lauernden Schar.

 

Dann wurde es still. Totenstill. So still, daß man ein Blatt hätte fallen hören können, wäre es zum zweiten Mal in dieser Nacht einem gelungen, sich durch die dichten Bäume zu zwängen. Endlose Minuten verstrichen. Außer dem gelegentlichen Rascheln der Wächter war nichts zu hören. Und jetzt spürte Orgonas ihn. Den schweren unnatürlichen Schlaf, den er so gefürchtet hatte. Den er aus den Erzählungen des Urahnen kannte. Dem Hamfast damals erlegen war. Damals, als das Böse in diesem Wald hauste. Sein Abenteuer vor vielen Jahrhunderten war glimpflich ausgegangen, und das Unheil war vertrieben worden.

 

Orgonas zwang seine Augenlider mit Gewalt nach oben und hielt sie mit zwei Fingern einer Hand in Position. Es sah ganz und gar nicht danach aus, als sollten sie ebenso glücklich dem Wald und seinen Gefahren entkommen. Als Kind hatte er die Gefahr geliebt – wenn sie in alten Erzählungen hauste, denen er stets mit Eifer gelauscht hatte und die ihn je mehr begeistert hatten, je beängstigender sie waren. So hoffnungslos sie oft auch geschienen hatten, alle waren sie für ihre Helden glücklich ausgegangen.

 

Orgonas lächelte sarkastisch. Natürlich, denn wären diese alleine, unerkannt, in einem dunklen Wald, durch einen rätselhaften Feind umgekommen, dem er durchaus zutraute, daß er sie zum Frühstück verzehren würde, hätte niemand je von ihnen erfahren und ihre Geschichten erzählen können.

 

Trotzig umfaßte er das Stück Holz und preßte die Faust zusammen, bis sie schmerzte. Mochte sein, daß er dies hier nicht lebend überstand, aber er würde sich nicht kampflos ergeben. Entschlossen streifte er den Köcher von seinem Rücken, das einzig stabile, das er noch zu bieten hatte und reichte ihn Fredoc hinüber.

 

„Laß es uns zuende bringen!“

 

Mit festem Griff nahm Fredoc das Angebotene entgegen.

 

„Ja, laß sie uns zu Pflaumenmus zerschlagen!“ knirschte er grimmig.

 

„Auf >drei<! Eins, zwei, ...“

 

Alarmiert hoben die Feinde die Köpfe. Die grünen Augen funkelten giftig und greller als zuvor. Ein wütendes Kreischen setzte ein und in das Kreischen erklang –

 

der helle, klare Schall eines Hornes.

 

Und der Ton war so nahe und er durchdrang die alles aufsaugende Düsternis so rein, daß die vier Hobbits in Not wie aus einem Mund zu jubeln anhoben.

 

„Hier! Hierher! Zückt die Pfeile! Spannt die Bögen! Zielt auf alles, was grünleuchtende Augen hat!“ So und ähnlich riefen sie ausgelassen durcheinander. Ein goldener Lichterkranz kam näher. Orgonas und Fredoc stürzten sich mit Übereifer auf die sie belauernde Schar, die sich vor Entsetzen nicht von der Stelle gerührt hatte.

 

Jetzt erhob sich ein fürchterlicher Tumult. Kreischen, Quieken, surrende Pfeile, berstendes Holz, durcheinanderschreiende Hobbits. Dann zorniges Fauchen und das Trippeln vieler sich entfernender Füße. Sodann Schweigen. Kein Jubel. Nur stille Erleichterung. Die beiden Freunde stützen sich schnaufend auf ihre Knie. Um sie herum erglühte alles in mattem goldenem Licht, das von den Laternen ausging, welche ihre Retter mitgebracht und, um die Hände zum Kampf frei zu haben, auf dem Boden abgestellt hatten.

 

„Bindet die Kinder los!“ Die wohltönende Stimme des Thain vermochte selbst dieser unheimliche Wald nicht zu schmälern. Ihrer Fesseln ledig, sprangen die Jungs auf die Beine. Ziemlich kleinlaut und in Erwartung ihrer Strafe, standen sie nun vor dem Oberhaupt. Taleras betrachtete die armen Sünder prüfend. Sein Gesicht wechselte von streng zu gütig, als er in ihren Augen die Furcht sah, die sie durchgestanden. Er legte ihnen die Hände auf die Schultern.

 

„Ich denke, ihr habt eure Lehre erhalten und eure Strafe dazu. Kommt nun. Wir wollen zurück ins Lager, bevor der Morgen anbricht und eure Mütter euch vermissen. Wir wollen ihnen dieses Herzeleid ersparen.“

 

Auf ein Zeichen nahmen alle Halblinge ihre Laternen auf. Der Kampfplatz war übersät mit klobigen, dunklen Körpern. Die Beschaffenheit und Form war in dem schwachen Licht, ohne genauere Untersuchung nicht zu bestimmen und man entschied kurzerhand, daß man dies auch gar nicht wollte. Schnell sammelte sich das Trüppchen, um den Rückzug anzutreten, bevor es den Bestien einfallen konnte, zurück zu kommen.

 

„Sag Taleras, wie habt ihr uns so schnell gefunden?“ Orgonas war mit ein paar flinken Schritten zu ihm aufgeschlossen, der die beiden bisher keines Blickes gewürdigt hatte.

 

Der Thain atmete geräuschvoll ein und blickte ihn an, wie ein mahnender Vater seinen unartigen Sohn. Doch statt einer Antwort, wandte er sich zunächst an Fredoc.

 

“Von dir bin ich es gewöhnt, daß du deinem Freund überall hin folgst, und ich werde dir keine Vorwürfe machen. Aber was dich angeht, Orgonas Gerstenbräu“, erhob er die Stimme; in seinem Gesicht zog sich ein stattliches Gewitter zusammen, und der Getadelte wagte nicht, ihn anzusehen. „Von dir hätte ich mehr Verstand erwartet, als heimlich aus dem Lager zu schleichen, ohne jemanden über deine Absicht zu unterrichten oder für die nötigen Vorkehrungen zu sorgen! Der Wunsch, deinem tapferen Ahnen zu folgen, wird dich noch einmal teuer zu stehen kommen! Wenn du ihm schon nacheifern willst, so denke daran, daß er stets nachgedacht hat, bevor er handelte!“

 

Der Gescholtene zog den Kopf tief zwischen die Schultern, kratzte sich verlegen hinter den Ohren – auch eine Angewohnheit, die er von seinem Urahnen, wenn auch unwissentlich, übernommen hatte – und räusperte sich unbehaglich.

 

„Ich weiß nicht, ob es in eurer Situation sinnvoll oder ratsam war, das Horn zu blasen“, schimpfte Taleras aufgebracht weiter, „aber diesmal war es eure Rettung. Wenn auch nur deshalb, weil wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits im Wald befanden. Wir hörten den Hilferuf und wußten sogleich, in welche Richtung wir uns wenden mußten.“

 

„Wie seid ihr hereingekommen?“ kam Fredoc seinem Freund zu Hilfe, indem er die Aufmerksamkeit des Dorfoberen vom Objekt seines Zornes ablenkte.

 

Taleras seufzte. „Rosilot hat beobachtet, wie ihr aus dem Lager geschlichen seid.“

 

„Rosilot hat beobachtet, wie wir aus dem Lager geschlichen sind?“ platzte Orgonas heraus, plötzlich aus seiner reumütigen Stimmung gerissen. Er sah Taleras dabei mit so großen Augen an, daß dieser glaubte, das Weiß darin im Dunkel leuchten zu sehen.

 

Fredoc kicherte. „Soviel zu: Uns beobachtet ohnehin niemand!“

 

„Sie hat sich Sorgen gemacht!“ Mit diesen Worten, kaum mehr als ein Flüstern, schien Taleras’ Zorn verraucht und er wandte sich mit einem resignierenden Kopfschütteln von den Freunden ab, um die Führung zu übernehmen.

 

Als am frühen Morgen die Sonne hinter dem Wald erwachte, fiel es einer kleinen Anzahl Männer und zwei Knaben besonders schwer, sich vom Lager zu erheben. Ein Umstand, der nicht wirklich weiter auffiel. Hobbits sind gemütliche Leute und sie nehmen gerne ein wenig mehr Schlaf, wenn sie ihn bekommen können. Nur daß ein stets fleißiges junges Mädchen heute so müde und übernächtigt ihren Dienst versah, gab ihrer Mutter zu denken.

 

 

zurück zu Kapitel 5        weiter zu Kapitel 7

 

 

Hauptseite

 

---