Orgonas
saß über seine Karte gebeugt in der unbarmherzig niederbrennenden Sonne. Kein
Baum noch Strauch wuchs mehr auf dem ausgedörrten, steinigen Boden. Einzig der
spärliche Schatten, den die Ochsenkarren jetzt in den Mittagsstunden warfen,
bot ein wenig Schutz vor den sengenden Strahlen. Doch dieser war den Alten und
Kranken vorbehalten. Orgonas wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von
der Stirn und hob den Blick zum Himmel. Kleine schwarze Punkte tanzten vor
seinen Augen, als er danach in die ernsten Gesichter der um ihn Sitzenden sah.
„Fast
scheint es, als wolle der Sommer noch ein letztes Mal zurückkehren, bevor er
dem Herbst Einzug gewährt“, murmelte er vor sich hin und vertiefte sich erneut
in die Karte.
Am Morgen
hatten sie den Gebirgsbach an einer seichten Stelle überquert. So schmal und
unbedeutend das Gewässer auch war, es hatte sie eine Menge Anstrengung
gekostet, die Karren herüberzubringen. Mehr als einmal hatten sich die schweren
Holzräder zwischen den kantigen Steinen verklemmt.
Die
Männer mußten dann in Ermangelung geeigneter Werkzeuge in mühsamer Kleinarbeit
die Sperren mit den bloßen Händen oder am Ufer aufgelesenen Stöcken beiseite
schieben und stemmen und rollen. Dies war nicht ohne Aufregung abgelaufen, da
alle gleichzeitig helfen wollten und keiner die Anweisungen beachtete, mit
denen Taleras versucht hatte, den allgemeinen Lärm zu übertönen.
Nicht
wenige waren bei dem Geschubse auf dem glitschigen Untergrund ausgerutscht und
in das eisige Wasser gepurzelt. Oft standen so viele um ein einziges Rad herum,
daß niemand mehr Platz genug hatte, um vernünftig agieren zu können. Sie sahen
aus, wie ein dichter Bienenschwarm, bei dem jedes Tier bestrebt ist, zuerst
durch eine enge Öffnung zu schlüpfen.
Dennoch
hatten sie es nach dem ganzen Tumult irgendwie geschafft, das andere Ufer zu
erreichen und nur das aufgewühlte Flußbett und das niedergetrampelte Gras
zeugten noch von ihrer Anwesenheit.
Die
Kleidung war bei den frischen morgendlichen Temperaturen nur langsam getrocknet
und bescherte den Durchnäßten ein paar unterkühlte Stunden. Der feine Sand, der
wie am Tag zuvor von den Ochsenkarren hoch aufgewirbelt wurde, klebte an ihnen,
wie der Zuckerguß an einer Torte und als die Feuchtigkeit endlich aus den groben
Stoffen wich, setzte eine Hitze ein, die kaum noch zu ertragen war.
Schimpfend
ließ Boldegrin sich in der Nähe der kleinen Versammlung nieder. „Staub und
Hitze und kaum genügend Gras für das Vieh! Und als ob das nicht schon genug
wäre, wird einem auch noch das Wasser verweigert!“
Orgonas
sah von seinem Plan auf und hob die Augenbrauen. Taleras öffnete bereits den
Mund, um etwas zu sagen, doch Albadoc kam ihm zuvor. Mit zischendem Laut atmete
der Alte durch die Zähne aus. „Dieses junge Gemüse heutzutage hat wahrhaftig
kein Durchhaltevermögen mehr. Kaum geht einmal etwas nicht so, wie sie es sich
gedacht haben, schon fangen sie an zu klagen und zu jammern! Da waren wir
damals doch aus ganz anderem Holz! Dachtest du vielleicht, es würde ein
gemütlicher Spaziergang werden, Boldegrin Weidenbinder?!“
„Niemand
verweigert dir das Wasser“, beschwichtigte der Thain und bat den Alten mit
bezeichnendem Blick zu schweigen. „Wir müssen das, was wir haben nur gut
einteilen und dürfen nicht so verschwenderisch damit umgehen.“ Er beobachtete
die Reaktion der beiden und wandte sich, als sie ergeben grummelnd die Köpfe
senkten, wieder der Karte zu.
„Es ist
dieser Gebirgsausläufer, auf den wir zuhalten, weswegen das Land so steinig
wird.“ Er tippte mit dem Finger auf die entsprechende Einzeichnung. „Er scheint
nicht besonders hoch zu sein und auch nicht sehr breit. Wenn wir sparsam mit
unseren Wasservorräten umgehen, halten wir es bis zur anderen Seite durch, wo
wir auf frisches Gras hoffen dürfen und an diesem Bächlein unseren Durst
stillen können.“
„Vorausgesetzt
wir bekommen die Wagen hinüber“, gab Orgonas zu bedenken. Die Aktion am Morgen
hatte ihn in dieser Hinsicht skeptisch gestimmt. Eine dicke Drecklasur überzog
sein Gewand und wies ihn als einen der Wasserplanscher aus. „Es ist nirgends
ein Pfad eingezeichnet, wie hier dieser Paß über das Hauptgebirge.“
„Vielleicht
nur deshalb nicht, weil es mehr als nur eine Möglichkeit gibt, ihn zu
überqueren und das Einhalten eines bestimmten Weges nicht nötig ist?“
„Das könnte
sein.“ Albadoc fixierte den Gebirgsausläufer mit zusammengekniffenen Augen, als
müsse die Landschaft offenbar werden, wenn er nur genau genug hinsah.
Eine
Weile herrschte Schweigen in der Runde. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach
und die Geräusche des Lagers, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatten, drangen
nun lauter werdend zu ihnen herüber. Unbemerkt hatte Boldegrin sich zwischen
sie gedrängt und betrachtete seinerseits aufmerksam die feinen Linien auf dem
Pergament.
„Wenn wir
aber doch nicht über den Berg können, müssen wir ihn umfahren. Die nächste
Gelegenheit, Wasser aufzunehmen, haben wir dann am Großen Fluß. Bis dorthin ist
es auch nicht weiter, als bis zu jenem Bächlein“, stellte er sachlich fest und
alle blickten ihn erstaunt an, der für gewöhnlich eher durch spontanes Gebaren
als vernünftige Überlegungen glänzte.
„Wohl
wahr. Und bei dieser Trockenheit sollten wir nicht unnötige Zeit damit
verlieren einen Übergang zu suchen, wo vielleicht keiner ist.“ Albadoc rieb
sich nachdenklich das Kinn und gab mit diesen Worten das sinnlose Anstarren der
Zeichnung auf.
„Wenn wir
tatsächlich nach Osten ausweichen müssen, wäre es dann nicht sinnvoller, dies
recht frühzeitig zu tun? Fahren wir zu dicht ans Gebirge heran, ist es möglich,
daß wir nicht in gerader Linie auf den Großen Fluß zuhalten zu können, da wir
weiteren Ausläufern des Ausläufers ausweichen müssen. Wenn ihr versteht, was
ich meine.“ Fredoc tat sich wie immer mit einer Erklärung schwer, und doch
waren alle seinem Gedankengang gefolgt. Sie nickten zustimmend.
„Umfahren
wir das Gebirge, so verlieren wir etwa vier Tage, ersparen uns aber
möglicherweise große Anstrengungen und brauchen uns, wenn wir dem Fluß folgen,
eine Weile nicht um unsere Wasservorräte zu sorgen.“ Orgonas klang trotz der
durchaus positiven Feststellung nicht sehr erfreut. Die Aussicht dem Großen
Grünwald so nahe zu kommen, gefiel ihm ganz und gar nicht und er brachte seine
Bedenken vor.
Wieder
war es Boldegrin, der nach der kurzen darauf folgenden Schweigephase die Stille
unterbrach.
„Es
sollte jemand vorausreiten und sich dieses Gebirge einmal näher ansehen.“
Beifälliges
Gemurmel.
„Ich bin
bereit, das zu übernehmen.“
„Der
Einfall ist gut und dein Angebot nehme ich gerne an“, dankte Taleras in dem ihm
eigenen würdevollen Tonfall. „Gambold und Sederic, werdet ihr ihn begleiten?
Gut.“
„Na
dann.“ Orgonas erhob sich mit einem klatschenden Schlag beider Hände auf seine
Oberschenkel. „Ich werde Ham für dich satteln. Das ist dir doch recht?“
Natürlich war es das und der kleine Mann machte sich sogleich an die Arbeit.
~*~
„Hier
mein guter Ham. Das ist für dich. Und für dich hab ich auch etwas mitgebracht,
Zicklein.“ Rosilot hielt beiden Tieren ein Stück des Apfels entgegen, den sie
sich selbst vom Mund abgespart hatte. Das Pony schnupperte genüßlich an der
Köstlichkeit und griff sie vorsichtig mit den Lippen von der dargebotenen Hand,
während das Ziegenböcklein sich ohne Nachzudenken darüber hermachte. Das
Mädchen kicherte albern und rümpfte belustigt die Stupsnase, als der kleine
Kerl ihm danach ausgiebig die Hand abschleckte, als müsse noch irgendwo ein
Restchen der Leckerei hängen oder ein neues Stück erscheinen.
„Hat er
denn keinen Namen?“ Orgonas hatte die Szene lächelnd betrachtet und trat nun
hinzu.
Rosilot
zuckte zusammen, als die Stimme hinter ihr erklang. Beschämt senkte sie den
Blick. „Ich weiß nicht“, flüsterte sie und studierte ihre Fußspitzen.
„Brechen
wir bereits auf?“ wunderte sie sich dann, als Orgonas das Pony sattelte.
Dieser schüttelte
den Kopf. „Nein. Boldegrin wird auf Ham vorausreiten, um sich die Gegend durch
die wir müssen ein wenig anzusehen.“
Rosilot
atmete erleichtert auf.
„Warum
gibst du ihm nicht einfach einen Namen?“
„Wer,
ich?“
„Warum
nicht? Ilberic hat doch laut geschimpft, daß er mit dem kleinen Störenfried
nichts mehr zu tun haben will und daß ich ihn behalten soll. Nun, mir gehorcht
er nicht, aber seit du dich um ihn kümmerst, ist er ganz umgänglich.“
Orgonas
war jetzt fertig, hielt das Pony am Zügel und den Blick auf Rosilot gerichtet.
Eine
leichte Röte überzog die vollen Wangen des Mädchens. „Oh, das ist nicht mein
Verdienst. Er hat sich mit Ham angefreundet und weicht ihm nicht mehr von der
Seite, weißt du.“
Orgonas
lachte hell auf. „Das würde ich auch nicht, wenn ich dabei von solch sanften
Händen verwöhnt würde!“
Rosilot
räusperte sich verlegen und sah den Burschen aus großen blauen Augen an. Sie
spürte wie ihr heiß wurde und sie senkte wiederholt den Blick. In diesem Moment
wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ein großes Loch, in dem sie
verschwinden könnte.
Die Hilfe
nahte in Form von Boldegrin Weidenbinder.
„Orgonas?
Kann ich aufbrechen?“ Er hatte sich noch ein wenig Proviant zusammengepackt und
kam mit seinem Bündel auf die beiden zugestapft.
Froh über
die Ablenkung schlüpfte Rosilot zwischen zwei Wagen hindurch und war
verschwunden. Orgonas sah ihr mit leichtem Bedauern hinterher.
„Ja,
warte. Ich geb ihm nur noch ein wenig zu saufen.“ Er seufzte. Noch ein Problem,
daß sie sich ersparen konnten, wenn sie den Umweg zum Anduin in Kauf nahmen.
Bei dem kargen Land fehlte dem Vieh nämlich die Flüssigkeit, die es sich sonst
aus dem Gras herauszog, so daß es nun wesentlich mehr saufen mußte, als zuvor.
Dennoch hatte Orgonas kein gutes Gefühl bei der Sache, und er hoffte inständig,
daß dieser Hügel, der nach der Landkarte kaum eine Meile breit war, ihnen den
Übergang ermöglichen würde.
„Wann
denkst du, werdet ihr zurück sein?“
„Noch vor
Einbruch der Dunkelheit, hoffe ich. Ich bin wirklich nicht erpicht darauf in
der Nacht an euch vorbeizureiten!“ Mit müdem Schulterzucken entschuldigte er
sich für den rüden Tonfall. „Ich hoffe, wir werden einen Übergang finden!“
„Das
hoffe ich auch, Boldegrin, ja, das hoffe ich auch!“
Sinnend
blickte Orgonas den Reitern hinterher und erwachte erst aus seiner Starre, als
sich neben ihm ein bekümmertes Gemecker erhob. „Nein, Zicklein, es ist besser,
wenn du diesmal hierbleibst.“
Er ging
in die Hocke, kraulte dem Tier den Nacken und überprüfte den Knoten, mit dem er
die Leine an dem Wagen befestigt hatte. „Außerdem wäre Rosilot sehr traurig,
wenn du ihr davonlaufen würdest.“
Das
Böckchen legte den Kopf schief und sah ihn altklug an, schüttelte sich und
meckerte kurz beleidigt und verständnislos.
„Wollte
er hinterher? Dazu bekommt er gleich Gelegenheit.“ Fredoc hielt erst gar nicht
bei seinem Freund an, sondern erklärte im Vorbeigehen: „Taleras wünscht sofort
aufzubrechen. Wir sollen dafür sorgen, daß alle in die Gänge kommen!“ Die
letzten Worte rief er bereits über die Schulter zurück.
„Jetzt
schon?“ murmelte Orgonas. Und kommentierte den hastigen Aufbruch mit einem
resignierenden Kopfschütteln. Wieso hatte der Thain es mit einem Mal so eilig?
Nun, ihm
konnte das schließlich gleich sein.
Nach dem
üblichen langwierigen Aufbruchprozedere bewegte sich der Wagenzug also weiter
Richtung Süden zu. Die kleinen Kinder waren davon wenig begeistert. Sie hatten
gerade so schön gespielt und mochten nicht damit aufhören. Eng scharten sie
sich zusammen und weigerten sich, in der solchen Knirpsen eigenen Sturheit,
weiterzugehen. Die jungen Mütter sprachen erst in aufmunternden, dann bittenden
und endlich tadelnden Worten auf sie ein, doch hätten sie über die kunstvolle
Zungenfertigkeit der Elben verfügt, sie hätten hier nichts ausrichten können.
Orgonas
ging zielstrebig auf die Kinderschar zu, hob ein kleines Mädchen hoch und
setzte es sich auf die Schultern.
„So,
siehst du. Jetzt bin ich dein Pony.“
„Ich will
auch auf dir reiten, Herr Orgonas!“ – „Ich auch!“ – „Ich auch!“
In
wenigen Augenblicken war er von der ganzen Meute umringt.
„Na, na,
schön der Reihe nach!“
„Aber auf
einem Pony können immer zwei reiten!“ zitierte ein Dickerchen Orgonas’ Worte
vom Tag des Aufbruchs.
„Ja, aber
ich bin doch nur ein kleines Pony“, lachte der junge Mann, „und noch dazu nur
aushilfsweise.“
„Wächst
du noch?“
„Nur in
die Breite“, feixte Fredoc, der vergnügt das Geschehen verfolgte.
„Hast du
deshalb noch kein Fell?“ wollte ein anderer Knirps wissen.
„Doch
guck mal, im Gesicht wächst es schon!“ staunte ein blonder Struwwelkopf und
zeigte mit dem Patschhändchen auf ihn.
Jetzt
konnte Fredoc sich nicht mehr halten und prustete lauthals los. Das verdutzte
Gesicht, das Orgonas bei diesen Worten zeigte war neben den ernsten Mienen der
ihn umzingelnden Kinder aber auch einfach köstlich anzuschauen.
„Na, wenn
das so ist, hab ich sicherlich auch Talent zum Reittier.“ Er schnappte sich
eines aus der bunten Schar und von den anderen lärmend begleitet, trabten sie
los.
Der
Nachmittag verging und die beiden Männer wurden nicht müde, die Kleinen
herumzutragen und aufzumuntern. Sie versuchten, auch einige andere junge
Burschen als Ponys anzuheuern, doch die Kinder waren so auf den Bartwuchs
eingeschossen, daß sie auf keinen Fall jemand anderes akzeptieren wollten. Als
endlich die Zeit für die Nachtrast gekommen war, waren die Freunde entsprechend
erschöpft.
Nur
schwer konnten sie die noch immer äußerst quirligen Kinder davon überzeugen,
daß ihre Ponys nun Ruhe benötigten. Erst als sie ihnen beizubringen versuchten,
daß ihre edlen Tiere jetzt verwöhnt und gefüttert werden müßten, waren mit
einem Mal alle zu irgendwelchen Spielen verschwunden.
Aufatmend
sanken sie zu Boden. „Was für ein Tag!“ Orgonas streckte die Beinchen aus,
dehnte und spreizte die Zehen. Fredoc tat es ihm gleich.
„Warum
wird es eigentlich immer anstrengend, wenn du eine Idee hast?“ stöhnte der
jüngere Hobbit gespielt vorwurfsvoll. „Ponys spielen! Pah!“ Er warf Rucksack
und Köcher ab, ließ sich auf den Rücken plumpsen, schloß die Augen und streckte
die Arme seitlich aus. „Ich bin total erledigt!“
An dem
dumpfen Aufprall neben ihm erkannte er, daß Orgonas sich ebenfalls fallen
gelassen hatte.
„Warum gehst
du eigentlich immer auf meine Ideen ein?!“ konterte er und gähnte lautstark,
hielt jedoch sofort inne, als das leise Rascheln eines Frauengewandes sich
näherte. Die Gestalt verharrte neben ihm. Der süße Duft frischer Wiesenblumen
ging von ihr aus. Orgonas atmete ihn tief ein, öffnete langsam die Augen und
blickte direkt in das erhitzte, freudig-strahlende Gesicht Rosilots.
Sie hielt
ihm einen noch halb gefüllten Wasserschlauch entgegen.
„Hier
nehmt. Das ist für die beiden fleißigen Reittiere!“ ulkte sie. Orgonas nickte
dankbar, trank einen ordentlichen Schluck und reichte den Schlauch an seinen
Freund weiter.
Da
erklang ein hysterischer Schrei vom anderen Ende des Lagers.
Erschrocken
blickten die beiden auf. „Was war das?“
„Och, das
war nur Lobelia“, kicherte Rosilot. „Nach dem ganzen Staub kann sie ihre
braunen Hühner nicht mehr von den weißen unterscheiden. Mir ist das vorhin
aufgefallen, als ich an ihrem Karren vorbeigekommen bin und dachte mir bereits,
daß das wieder Ärger geben würde.“
Sie
faltete die Hände vor ihrer Schürze und drehte sich schwungvoll hin und her.
„Außerdem legen sie seit drei Tagen keine Eier mehr. Zumindest dachte sie das,
bis sie heute Nachmittag den kleinen Dodinas erwischt hat, als er sich gerade
mit seiner Beute davonstehlen wollte“, plapperte das Mädchen munter weiter,
hielt in den schwingenden Bewegungen inne und klopfte sich ein wenig Dreck von
der nun nicht mehr weißen Schürze. „Habt ihr das nicht mitbekommen?“
Die
Gefragten schüttelten den Kopf.
„Oh weh!
Da wird es dem armen Kerlchen aber schlecht ergangen sein, was meinst du,
Orgo?“
„Die
Strafpredigt, die darauf folgte, hätte man eigentlich über die ganze Länge des
Wagenzuges hören sollen!“ gluckste Rosilot dazwischen.
„Armer
Dodinas!“ Orgonas zog ein mitleidiges Gesicht.
„Aber es
dauerte nicht lange, da mischte sich Primula in den Wutausbruch Lobelias ein.
Nicht weniger erzürnt erklärte sie ihr, daß niemand ihren Sohn so anschreien
dürfe und daß dieses Recht allein ihr vorbehalten sei. Lobelia gab natürlich
nicht so schnell nach und brüllte ihrerseits zurück, daß Primula gefälligst
besser auf ihr Gör aufpassen soll.
Über dem
Streit der Frauen hat der Lausebengel sich davongeschlichen. Allerdings konnte
man später Primula mit ihm schimpfen hören. Ich denke, sie hat ihren Unmut über
die Niederlage, die sie bei Lobelia eingesteckt hat, an ihm ausgelassen.“
Alle drei
hielten sie die Bäuche vor Lachen. Ja, das war ihre Lobelia. Orgonas war sich ganz
sicher, daß sie sich selbst mit dem Tod anlegen würde, sollte er den Mut
besitzen, an ihre Tür zu klopfen.
Fredoc
reichte dem Mädchen den Schlauch zurück. „Setz dich doch, Rosi!“
„Nein,
nein!“ Sie winkte eifrig ab. „Ich hab schon zu lange getrödelt. Ich soll Mama
und den anderen Frauen doch beim Abendbrot helfen!“ Sie drehte auf der Stelle
um und hüpfte davon wie ein junges Reh. Ihr folgte ein leuchtendes Augenpaar.
„Orgonas?“
„Hm?“
„Ach,
nichts...“ Fredoc grinste breit und dachte sich seinen Teil. Orgonas war viel
zu erschöpft, um noch einmal nachzuhaken.
Die Zeit
verging. Die Frauen waren emsig um die Bereitung des Nachtmahles bemüht, die
Kinder tollten schreiend zwischen Karren und Tieren herum, die Männer lagen
faul in den wärmenden Strahlen der Abendsonne und regten sich höchstens einmal,
um eine bequemere Position einzunehmen oder ein Pfeifchen zu stopfen. Grillen
zirpten, Vögel zwitscherten dem Ende des Tages zu, das Vieh knabberte genügsam
an den wenigen dürren Grashalmen und gab zufriedene Laute von sich. Alles in
allem war es ein friedliches Bild. Doch mit der Abenddämmerung zog eine
Dunkelheit von Osten herauf, die nichts mit dem Untergang der Sonne gemein
hatte.
Soeben
verkündeten die Frauen stolz die Fertigstellung der Mahlzeit, als am Horizont
eine kleine Staubwolke sichtbar wurde.
„Aha!
Pünktlich zur Fütterung!“ spottete Orgonas und kramte in seinem Rucksack nach
der Essensschale.
Als sich
später die meisten zur Nachruhe zurückzogen, nahmen auch die inzwischen
eingetroffenen Kundschafter ihr Mahl ein. Die Dorfältesten scharten sich um
sie, ebenso Orgonas, der aufgrund seines kostbaren Besitztums ganz
selbstverständlich in die kleine Runde aufgenommen worden war, und Fredoc, der
dem Freund nicht von der Seite wich.
Geduldig
warteten alle auf die drei Esser und erst als diese die Schalen beiseite legten
und sich genüßlich die Bäuche strichen, ergriff Taleras das Wort:
„Nun?“
„Hm, ja,
nun...“, wand sich Sederic.
„Öhm...“
„Naja...“
Gambold begann interessiert den blankgeleckten Topfrand zu studieren und
schnappte Boldegrin ein letztes Fitzelchen Möhre vor der Nase weg.
Jener
seufzte ergeben, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und beendete auf
diese Weise endgültig sein Mahl.
„Ja,
nun... Der Weg wird im weiteren Verlauf immer steiniger und unebener. Ich halte
es nicht für ratsam - Sederic und Gambold ebenso wenig - mit den Ochsenkarren
durch diese zerklüftete Landschaft zu fahren. Mit solchen Felsbrocken ist der Weg geradezu übersät.“
Er hielt
die Hände mit den Flächen zueinander, um die Größe anzuzeigen.
„Die
Räder würden es auf die Dauer und bei dem geladenen Gewicht nicht aushalten,
ganz abgesehen von der Folter für Lenker und Zugtiere.“
Bevor er
weitersprach ordnete er einen Moment seine Gedanken und atmete tief durch.
„Der
Gebirgsausläufer selbst ist in der Tat nicht besonders hoch und ebenso schmal,
wie in der Karte eingezeichnet. Mit einem Pony ist es leicht, ihn zu
überqueren, doch mit den Ochsengespannen...“, er schüttelte nachdrücklich den
Kopf, „vollkommen unmöglich. Wir haben nach einem Aufgang gesucht, doch es gibt
nur schmale Pfade, die hinaufführen und von mannshohen Felsen eingekeilt sind.
Möglich, daß es an anderer Stelle einen Übergang gibt. Einen Tagesritt weiter
auf- oder abwärts vielleicht...“
Kurze
Stille folgte. „Darauf können wir uns nicht verlassen, oder?“
„Nein,
Boldegrin, das können wir nicht.“ Taleras klang entschlossen. „Und wir haben
keine Zeit, lange danach zu suchen, selbst wenn wir bereit wären die Strapazen
der Felsentrümmer-Landschaft auf uns zu nehmen. Orgonas, laß uns noch einmal
einen Blick auf die Karte werfen“, forderte er den jungen Mann auf.
„Es sind
noch zwei Tagesmärsche bis zum Großen Fluß“, erklärte dieser, während er das
Pergament aus seinem Wams zog und entfaltete. Er legte es behutsam auf ein
sauberes Fleckchen Erde und strich es glatt. „Es scheint außerdem sandiges Land
zu sein. Seht ihr? Hier, diese seltsamen Kringel, die wir nicht zu deuten
vermochten, sind jene Felsbrocken, die leeren Flächen bisher war trockener,
harter Boden und die kurzen Striche davor die Grasflächen. Von hier aus nach
Osten sind es lange, leicht gewellte Linien.“
Gebannt
hingen die Blicke aller Anwesenden an Orgonas’ Finger, mit dem er jeweils anzeigte,
wovon er sprach, und versuchten, ihrerseits die Zeichen zu verstehen. Dann
nickten sie einer nach dem anderen.
„So sei
es!“ verkündete der Thain schließlich. „Morgen werden wir nach Osten
aufbrechen!“
~*~
Was in der
kleinen Runde so rasch und einfach beschlossen worden war, stellte sich als
äußerst kompliziert heraus als es darum ging, dem versammelten Völkchen klar zu
machen, daß sie nun im senkrechten Winkel zum nunmehr seit vier Tagen
eingehaltenen Kurs abbiegen sollten.
Es wäre
müßig, alle Einwände aufzuzählen, die die ehemaligen Bewohner des kleinen
Dörfchens Breth vorbrachten oder die Begründungen, mit denen ihre Oberhäupter
sie entkräfteten. Es genügt zu sagen, daß es eine geraume Zeit in Anspruch
nahm, auch den letzten zu überzeugen, und als der Wagenzug sich endlich in
Bewegung setzte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.
Es
dauerte nicht mehr lange, da schickte sie ihre Strahlen sengend hinunter auf
die bunte Schar. Die Luft flimmerte in der Hitze und das grelle Licht brannte
in den Augen. Gegen Mittag wurde es noch stickiger und allmählich fiel allen
das Atmen schwer. Nur der quälende Durst und der Wunsch den Fluß zu erreichen,
trieben sie weiter voran.
Am
nächsten Tag wurde der Boden immer sandiger und der Staub, den die Karren
aufwirbelten immer dichter. Die Halblinge banden sich dünne Tücher vor Mund und
Nase, doch der feine Staub drang hindurch, verklebte die Schleimhäute und
trocknete sie aus.
Inzwischen
war die Hitze einer drückenden Schwüle gewichen. Zwar versprach diese einen
erlösenden Gewitterregen, aber die Verantwortlichen drängten dennoch weiter
voran, denn das Vieh brauchte Futter; in dieser Sandwüste jedoch wuchs nicht
ein einziges Gräslein.
Schon
bald sanken die Räder der Ochsenkarren tief ein und ihr Gewicht mußte
verringert werden. Außer den Lenkern und den Verletzten waren alle gezwungen,
abzusteigen. Die Männer schoben die Wagen von hinten an und unterstützten auf
diese Weise die Gespanne.
Lange
konnte das so nicht weitergehen. Orgonas blickte zur Seite, wo schon wieder ein
Rad bis zur Nabe im gelbbraunen Pulver verschwand. Er eilte hinüber und half
mit einigen anderen, das Gefährt aus der Versenkung herauszustoßen. Zuerst
regte sich gar nichts, dann kommandiere einer den Zeitpunkt, wann alle anheben
sollten. Einen Augenblick hielt das Fuhrwerk dem gemeinsamen Druck stand, dann
knirschte es träge und fuhr schließlich mit einem Ruck an. Die Männer, so
plötzlich ihrer Stütze beraubt, fielen der Länge nach in den Dreck. Keuchend,
hustend und schimpfend stolperten sie wieder auf die Beine, nur um wenige Meter
weiter erneut den Wagen aus dem Sand zu ziehen.
Die
Frauen beteiligten sich nicht an den zahlreichen Rettungsaktionen, sondern
wechselten sich statt dessen mit dem Tragen der Säuglinge und Kleinkinder und
dem Stützen der Alten und Kranken ab. Auch sie waren bald zum Umsinken
erschöpft.
Zwei
Ruhepausen brachten nicht die nötige Erholung. Die äußeren Umstände waren auch
kaum dazu angetan: Die Schwüle, der klebrige Sand in allen Körperöffnungen, das
mangelnde Wasser... die kleine Ration, die an jeden ausgeteilt worden war,
hatte kaum gereicht, den schlimmsten Staub aus dem Mund zu spülen.
Entsprechend
groß war der Jubel, als Orgonas und Fredoc am späten Nachmittag ins Lager zurückkehrten.
Sie waren ein Stück vorausgeritten, hatten einige Wasserschläuche mitgenommen
und gefüllt und reichten diese nun herum.
„Trinkt!
Wir werden gleich noch einmal losziehen und frisches holen. Es ist nicht mehr
weit“, berichteten sie, dieweil sie von ihren Reittieren hopsten und den
kleinen Quälgeistern hinaufhalfen, die sogleich wie Kletten an ihnen hingen.
„Aber nur kurz, ihr Racker!“ lachten sie fröhlich.
Es war
erstaunlich, wie schnell die Laune im ganzen Lager sich hob. Hatte den ganzen
Tag ein müdes Schweigen vorgeherrscht, so wurde es nach dem ersten
Freudenausbruch und nachdem einige von dem kühlen Naß getrunken hatten, gar
nicht mehr still. Selbst diejenigen, für die das Wasser nicht mehr ausgereicht
hatte, entwickelten neue Energie. Und als hätte die Natur selbst nur auf dieses
Zeichen gewartet, begann der Boden allmählich fester zu werden.
„Am Fluß
steht das Gras saftig und in ausreichender Fülle“, hechelte Orgonas zwischen
zwei Sprüngen und dem vergeblichen Versuch das Beinchen des Knaben zu
erwischen, der um keinen Preis wieder von Hams Rücken herunterwollte und vor
Vergnügen quietschte, wenn es ihm wieder gelungen war, den haschenden Händen
des Nebenherlaufenden zu entkommen.
„Du kriegst
mich nicht!“ krähte er ausgelassen und klopfte mit aller Kraft die er
aufbringen konnte, dem Pony mehrmals in die rechte Flanke.
Ham, der
zwar die ungeübten Hilfen seines Reiters nicht recht einordnen konnte, verstand
recht schnell dessen Absicht. Mehr noch. Das kluge Tier fand bald Gefallen an
der munteren Jagd und wich selbständig dem mittlerweile keuchenden Orgonas aus.
Der junge
Mann ließ den beiden eine zeitlang ihren Spaß, dann blieb er stehen, stützte
die kurzen Arme in die Seite um den Oberkörper leichter aufrichten und so
besser schnaufen zu können und atmete zunächst drei-, viermal tief durch.
„Ham? Das
reicht jetzt!“ lachte er und langte seinen Hut vom Kopf, um sich damit ein
wenig frische Luft zuzuwedeln. „Komm her, mein Freund! Wir werden noch einmal
Wasser für die Durstigen besorgen.“
Augenblicklich
beendete das Pony seine Eskapaden, drehte um und trottete gehorsam zu seinem
Herrn. Sehr zum Leidwesen des kleinen Reiters.
„Nicht
traurig sein, Gorbu!“ tröstete Orgonas. „Du hast dich wacker gehalten!“ Noch
immer lachend klopfte er ihm anerkennend auf die Schultern, die sich sogleich
strafften und den Knaben um einige Zoll größer wirken ließen. Breitgrinsend
rannte er zurück zu seinen Kameraden.
„Ach noch
etwas“, fiel Orgonas ein, als er wieder aufgesessen war. Taleras brachte ihm
soeben einen weiteren leeren Schlauch. „Auf dem Weg zum Fluß haben wir immer
wieder Wagenspuren gekreuzt. Es sieht tatsächlich so aus, als ob die
ortskundigen Händler den Weg um den Gebirgsausläufer herum bevorzugen.“
„Werd ich
mir fürs nächste Mal merken!“ witzelte der Thain und hob seine Hand zum Gruß,
als die beiden Freunde fortritten.
Endlich,
gegen Abend, erreichten alle den Fluß. Das Vieh stürmte, wie bereits zuvor am
Gebirgsbach, laut brüllend, meckernd, blökend und wiehernd zum Wasser. Auch die
Leutchen eilten so schnell es ihnen möglich war hinterher. Das mulmige Gefühl,
das sich bei ihnen ausgebreitet hatte, als sie dem Großen Grünwald wieder
nähergerückt waren, war vergessen im Freudentaumel der überstandenen Mühsal.
Zwar war der Fluß viel zu tief und reißend, als daß sie auch hier ein
erfrischendes Bad hätten nehmen können, doch dies konnte den wiedererwachten
Eifer der Halblinge nicht bremsen. Eimer wurden gefüllt und dienten als
Waschkrüge und einmal mehr wachte eine biestige Lobelia über die Sicherheit der
Frauenschar.
Als das
Gewitter einsetzte, war es bereits tief in der Nacht. Die Hobbits hatten sich
in Erwartung auf diesen Ausbruch der Naturgewalten noch enger unter die Wagen
gedrängt oder mit dreifach übereinandergelegten Decken Zelte und Unterstände
gebaut. So bemerkte die tief schlummernde Schar zunächst lange Zeit nichts von
dem strömenden Regen. Beinahe lotrecht prasselte dieser auf das Lager herab.
Langsam
bildeten sich erst kleine Pfützen, dann größere. Das Vieh hob die Köpfe dem Naß
entgegen und genoß sichtlich die ersehnte Abkühlung. Ein greller Blitz erhellte
die Nacht, gefolgt von einem dröhnenden Donnerschlag und noch immer regte sich
nichts unter den Decken und Karren.
Dann
setzte der Sturm ein und zerrte gewaltig an den Planen. Die Tiere drängten sich
dicht zusammen. Immer rascher und gewaltiger zuckten die Blitze, verzweigten
sich in zahllose hauchfeine Ästchen wie ein gewaltiges Spinnennetz über den
Himmel. Der ohnehin schon starke Regen wurde noch heftiger. Bald schon
vereinten die Pfützen sich zu einem See. Der Fluß stieg an, brauste wild und
gewaltig, schlug mit harten Wellen an die sandige Uferbank, wusch sie
stellenweise allmählich aus und brach an anderen Ecken ganze Lehmklumpen
heraus.
Da wurde
das Toben des Unwetters von einem kreischenden Knirschen übertönt, gefolgt von
hastig durcheinander rufenden Stimmen. Einer der Ochsenkarren stand zu dicht am
Rand des tobenden Anduin. Die Fluten hatten nach und nach den Boden unter dem
ihm zugekehrten Rad fortgespült und der Karren neigte sich schwer zur Seite.
Die darunter lagernden Hobbits hatten kaum Zeit, vom Ort der Gefahr zu
flüchten, da verkündete ein lauter Aufprall von Wassermassen gegen eine
hölzerne Planke den starken Neigungswinkel und zugleich das Ende ihres
Unterschlupfes. Krachend stürzte der Wagen in die schäumenden Fluten.
Ein
gellender Schrei durchriß die Nacht und der ersten Erleichterung folgte erneute
Panik. Entsetzt sprangen die Halblinge auf und zum Ufer; versuchten verzweifelt
eine Gestalt zu retten, die beim Abrutschen des Fuhrwerks mitgerissen worden
war, im Fluß hing und sich mühsam an einer Wurzel festhielt.
Darüber
war das ganze Lager erwacht und alle eilten herbei. Am zerklüfteten Rand knieten
mehrere Personen nieder, hielten sich gegenseitig an den Händen um sich Halt zu
geben und durch die gebildete Kette möglichst nahe an den Verunglückten
heranzukommen. Andere standen hilflos daneben und rangen die Hände oder rannten
ziellos umher auf der Suche nach etwas von dem sie selbst nicht wußten was es
war. Wieder andere diskutierten aufgeregt wie sie die Handelnden unterstützen
könnten.
Diese
waren unterdessen bis auf einen Fuß an den Unglücklichen herangekommen und die
Kräfte des Mannes im Wasser wurden immer schwächer. Die Wogen schlugen ihm hart
ins Gesicht und drohten ihn zu ertränken. Nur mit sichtlicher Anstrengung
gelang es ihm den Kopf zwischen den einzelnen Wellenstößen über die Oberfläche
zu halten, wo er prustend nach Atem rang.
Das
Unwetter wütete unbeeindruckt weiter. Ein spitzer Schrei. Der äußerste Mann des
Gliedes hatte sich noch ein Stück weiter vorgebeugt und die peitschende Gischt
hatte ihm den Halt unter den Füßen geraubt. Hektisch zog man ihn an Land.
„Ein
Seil! Wir brauchen ein Seil!“ Er hustete das verschluckte Wasser aus. „Ein
Seil“, wurde seine Forderung nach hinten weitergerufen.
Ein Seil!
Orgonas stolperte in die Richtung, in der er seine Sachen wußte. Wo hatte er am
Abend bloß die Leine hingestopft, mit der er zuletzt das Zicklein angebunden
hatte? Wegen des erwarteten Gewitters hatte er das kleine Tier nicht einengen
wollen, so daß es Schutz suchen konnte, wo es diesen zu finden erhoffte.
Fieberhaft durchwühlte er seinen Rucksack, fand endlich das Gesuchte und zog es
mit zittrigen Händen hervor. Er sprang auf, eilte zurück. Der Regen fiel so
dicht, daß er kaum sah wohin er rannte. Er stolperte über irgendeinen
Gegenstand, rappelte sich auf.
„Hier ist
ein Seil!“ rief er gehetzt und reichte die Kostbarkeit weiter, da bei der
dichten Masse kein Durchkommen war.
Eine neue
Kette wurde gebildet. Das Seil zu Wasser gelassen und versucht, ihm die
richtige Richtung zu geben... Es war hoffnungslos. Der erst so vernünftig
erscheinende Gedanke erwies sich als völlig unbrauchbar, da die Wassermaßen die
Leine stets in eine andere Richtung abdrängten und der Verunglückte sie nicht
zu greifen bekam.
Dieser
schien am Ende seiner Kräfte angelangt und jetzt begann sich auch noch die
Wurzel aus ihrer Verankerung zu lösen. Die Angstschreie der am Ufer Stehenden
wurden lauter, verzweifelter, hoffnungsloser.
Bis eine
laute, schnarrende Stimme sie alle übertönte: „Hier, nehmt das!“ Ein Gegenstand
wurde nach vorne durchgegeben, der sich alsbald als handfester Gehstock
herausstellte. Mit dieser robusten, äußerst vielseitigen Stütze gelang es
endlich, den armen Kerl herauszufischen – gerade rechtzeitig bevor die Wurzel
mit einer weiteren Lehmlawine in den Fluß gerissen wurde.
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