Der
Nordweg war keine Straße im eigentlichen Sinne. Er war vielmehr eine gedachte
Linie, die sich zwischen den zahllosen Hügeln entlangschlängelte, die einzige,
die sich nicht in dem unübersichtlichen Labyrinth verirrte, in einem Engpaß
endete oder zum Ausgangspunkt zurückführte. Somit der einzige Weg, den
Handelswagen nehmen konnten, wenn ihre Lenker den Drang verspürten, in solch
abgelegene Gegenden vorzudringen. Früher waren dies meist Zwerge gewesen, die
auf ihrem Weg in die Berge hier entlanggekommen waren. In letzter Zeit hatten
sich jedoch immer häufiger Leute aus dem großen Volk eingefunden und
schließlich Niederlassungen in der Nähe der Hobbitsiedlungen erbaut. Nun war
das kleine Volk Fremden gegenüber stets freundlich und aufgeschlossen und stand
selbst mit den sturköpfigen Kindern Aules auf gutem Fuß. Dennoch konnten sie
sich mit den Menschen oder auch nur dem Gedanken an ihre Nähe, nicht
anfreunden. Zuviel Gesindel trieb sich unter ihnen herum, zwielichtige
Gestalten, denen man nichts Gutes zutrauen konnte und die Halblinge fühlten
sich von ihnen gewissermaßen bedroht, auch wenn sie ihnen bisher nicht wirklich
etwas zuleide getan hatten.
Der
Wagenzug kam recht gut voran, da die Gegend ihnen bekannt war. Langsam aber
stetig, denn die Pausen verschlangen einen Gutteil des Tages. Nicht etwa, weil
die Essensgelage so ausgiebig ausgefallen wären. Dazu waren die Vorräte viel zu
knapp und streng eingeteilt und es gab diesseits des Nebelgebirges kaum noch
jagdbares Wild. Aber nach jeder Rast mußten erst einmal alle Leute wieder
eingesammelt werden, was sich als recht zeitaufwendig herausstellte, da die
tüchtigen Hobbit-Damen die Eigenart besaßen, sich überall gleich recht häuslich
niederzulassen. Darüber hinaus hatten sie zwei Schwerverletzte bei sich, deren
Wunden regelmäßig versorgt werden mußten und denen keine allzu anstrengenden
Tagesmärsche zugemutet werden durften.
Die
ersten beiden Nächte hatten sie entsprechend ihrer Ortskenntnis gute
Lagerplätze. Gegen Mittag des dritten Tages würden sie ein kleines Bächlein
erreichen und mit Überquerung desselben in ihnen unbekannte Gegenden vorstoßen.
Die
Stimmung im Treck war ausgezeichnet. Die mit fettem, saftigem Gras bewachsene
Landschaft bot genügend Futter für das Vieh und verhinderte ein allzu großes
Aufwirbeln des Staubes, wie es auf den oft befahrenen Verbindungsstraßen zwischen
den Dörfern der Fall gewesen wäre.
Munter
tummelten sich Hobbit und Tier zwischen den gleichmäßig dahinrumpelnden Karren.
Kinder spielten Fangen oder Verstecken. Lobelia, die wie eine wachsame Glucke
stets hinter dem Wagen mit ihren Hühnern herging, schimpfte, wenn eines diesen
dabei zu nahe kam und das Federvieh aufscheuchte. Die versammelte Hundemeute
umlagerte einen der Ochsenkarren, auf dem es sich der fette Kater bequem
gemacht hatte und sich genüßlich räkelte, wohl wissend, daß ihm hier keiner
etwas anhaben konnte, nicht, solange das Fuhrwerk in Bewegung war. Die Sonne
schien warm und freundlich vom Himmel, und ein sanftes Lüftchen wehte den
mutigen Wanderern kühle Erleichterung zu.
Am
zweiten Abend rasteten sie schon recht früh. Die Ochsenkarren wurden wahllos an
einer beliebigen Stelle angehalten, und wie auf ein Stichwort schwärmten alle
aus, um sich ein bequemes Lager herzurichten.
Besonders
beliebt als Ort für die Schlafstatt waren die Fleckchen unter den Wagen.
Nachdem es in der ersten Nacht im Eifer darum, einen der ersehnten Plätze zu
ergattern beinahe zu tätlichen Übergriffen gekommen war, hatten die
Dorfältesten in einer eilig zusammengerufenen Ratsbesprechung einen Ablaufplan
entwickelt, der es jedem ermöglichen sollte, zu seinem Recht zu kommen. Nach
einer heftigen Diskussion war dieser von allen Betroffenen akzeptiert worden
und die Organisatoren begaben sich nun auf ihren Posten, um die Liste
derjenigen vorzulesen, die heute an der Reihe waren. Die Auserwählten begannen
sogleich, sich unter den Wagen einzurichten und mit wollenen Decken, die sie
wie einen Vorhang an den herunterhängenden Lederriemen der Planen verknoteten,
eine Höhle zu improvisieren.
Die
Ochsen wurden ausgespannt und zum Grasen auf die Weide entlassen. Diejenigen
Leutchen, die nicht gerade damit beschäftigt waren, den Alten und Kranken von
den Karren zu helfen, verteilten sich mit Eimern über den ganzen Platz zu den
Kühen und Ziegen, um diese zu melken, wo sie gerade standen. Kochgeschirr und
Säcke mit Vorräten wurden zu einem zentralen Platz geschleppt, an dem mit
einigen schnell zusammengesuchten großen Steinen ein behelfsmäßiger Backofen
errichtet wurde. Kartoffeln wurden geschält, Gemüse geschnitten, Teig angerührt
und geknetet. Es herrschte ein Treiben und eine Geschäftigkeit wie auf einem
Handelsmarkt.
Verängstigtes
Gackern mischte sich mit einer scheltenden Stimme, als vier Männer auf eines
der Fuhrwerke stiegen, um den Käfig mit den Hühnern herunterzuheben.
„Seht
euch das an!“ Lobelia war völlig außer sich und schlug fassungslos die Hände
vor ihrer Brust zusammen, als man ihr das Gestell auf den Boden setzte.
„Meine
armen Hühner! Was habt ihr nur mit ihnen gemacht?!“ lamentierte sie, ließ sich
sogleich auf die Knie nieder und öffnete das Gefängnis. In der Tat machten ihre
Lieblinge keinen allzu glücklichen Eindruck. Einen solch engen Bewegungsraum
und das ständige Schaukeln nicht gewöhnt, standen sie reichlich unsicher auf
den dürren Beinchen, flatterten halbherzig mit den Flügeln und ließen sich zuletzt
kraftlos einfach fallen. Die sonst so resolute Hobbitfrau kümmerte sich
hingebungsvoll um sie, kraulte fürsorglich die kleinen Köpfe, immer neue
Kosenamen ersinnend, und streute ihnen ein paar Körner.
Taleras
trat auf den jungen Gerstenbräu zu, nachdem dieser zwei quietschvergnügte
Kinder von seinem Pony heruntergehoben hatte und soeben begann, die
Sattelriemen zu lösen.
„Unsere
Wasservorräte werden knapp. Die Fässer reichen bei so vielen durstigen Kehlen
für kaum mehr als zwei Tage.“
Orgonas
blickte auf und hielt in seiner Arbeit inne. Der Thain hatte so geklungen, als
würde dieser Einleitung eine Aufforderung folgen. Doch er schwieg zunächst und
verfolgte mit den Augen schmunzelnd ein paar in der Nähe herumtobende Jungs.
„Ich
möchte, daß du vorausreitest. Du kannst noch jemanden mitnehmen, wenn du
möchtest. Überprüfe das Wasser des Gebirgsbaches.“
Orgonas
nickte ernst und zog den Sattel von seines Ponys Rücken. „Ich werde Ham eine
kurze Pause gönnen und dann gleich aufbrechen. Wir haben noch gut zwei Stunden
Tageslicht. Wenn ich mich beeile, kann ich den Bach bis zum Einbruch der
Dunkelheit erreichen.“
Einen
großen Stapel Brennholz auf den Armen, so daß er nicht einmal mehr richtig sah,
wohin er ging, kam Fredoc auf die beiden zugestolpert und hörte gerade noch
Orgonas’ letzte Worte.
„Laß mich
mit dir kommen, Orgo, du...“ Ein panikartiges Kreischen, ein entsetzter Schrei,
ein hölzernes Poltern und ein dumpfer Aufschlag und Fredoc lag der Länge nach auf
seinem Holzstoß. Beinahe zeitgleich hob er zu schimpften an: „Also...“ Eine
schwere Hundepfote drückte seinen Kopf für einen kurzen Moment in den Staub, so
daß er nicht weitersprechen konnte. „Also, das ist doch...“ Ein zweiter Hund
setzte über ihn hinweg...
Drei
Hunde später gelang es Fredoc endlich sich aufzurappeln. Er schnappte nach
Luft, dann schüttelte er drohend seine Faust hinter der kater-jagenden Meute
her.
„Na
wartet! Ich werde euch...“ Diesmal wurde er von einem schallenden Gelächter
unterbrochen. Irritiert fuhr er herum und blickte in das belustigte Gesicht
seines Freundes.
„Reg dich
nicht auf, Fred.“ Orgonas klopfte ihm noch immer lachend den Staub von der
Jacke. Ein beleidigtes, aber schon halb versöhntes Brummen war die Antwort.
„Sieh
lieber zu, daß du dir eines der Ponys ausborgst. Du kannst schließlich nicht zu
Fuß neben Ham herlaufen.“
„Bin
schon unterwegs!“ Den Holzstoß ließ Fredoc achtlos liegen und stürmte davon.
Orgonas
blickte ihm grinsend hinterher. Dann sah er sich um.
„Hm...
ich brauche etwas, um das Gebirgswasser zu prüfen.“ Seine Augen blieben an
Lobelias Hühnern haften. „Nein, nicht gut. Gar nicht gut“, führte er sein
Selbstgespräch weiter. „Das würde sie mir niemals verzeihen!“
Erneut
wurde das traute Lagerleben von einem Tumult heimgesucht. Eines der
Ziegenböcklein hatte sich mit seinen Kameraden angelegt und sorgte für Aufruhr,
als es nach einem mißglückten Angriff mit den kleinen Hörnern in einen Stapel
sorgfältig aufgeschichteten Geschirrs stieß. Mit blechernem Gepolter stürzte
der Töpfeturm ein und sofort machten ein paar schreiende Weiber Jagd auf den
Übeltäter.
„Na, da
haben wir doch etwas Passendes.“ Orgonas kräuselte zynisch die Lippen und
kramte einen langen Bindfaden aus den unergründlichen Tiefen seiner Hosentaschen
hervor.
„Herr
Orgonas?“ Schüchtern trat das junge Mädchen zu dem Burschen. Die Hände
verschämt in die saubere Schürze vergraben, sah es unter dem gesenkten Kopf zu
ihm auf.
„Grüß
dich, Rosilot“, säuselte Orgonas gut gelaunt, wodurch er sie nur noch mehr in
Verlegenheit brachte.
„Ist es
wahr, daß du heute noch fortreitest? Alleine? Und über Nacht in der Wildnis...“
Tiefe Sorge drückte sich in den hastig vorgebrachten Fragen aus. Orgonas
nickte. „Ist das nicht furchtbar gefährlich?“
„Fredoc wird
mich begleiten. Außerdem habe ich doch auch noch Ham bei mir.“ Beruhigend legte
er ihr eine Hand auf den Unterarm.
Das
Mädchen erschauderte. „Aber...“ Die Stimme klang weinerlich.
„Na na. Was
soll mir denn schon passieren.“ Er tätschelte ihren Arm, zog etwas aus seinem
Wams hervor und drückte es Rosilot in die Hand. „Hier, da hast du etwas, um dir
die Zeit zu vertreiben, bis wir uns wiedersehen.“ Mit einem schelmischen
Augenzwinkern ließ er sie stehen und ging hinüber zu dem Böcklein, um es an die
Leine zu legen.
Betroffen
starrte Rosilot auf das vergilbte Pergament. Er gab ihr seine Landkarte!
Wahrscheinlich für den Fall, daß er nicht mehr zurückkam! Ihre Augen weiteten
sich erst vor Schreck, um sich dann vor Kummer zusammenzuziehen. Ein
verzweifeltes Keuchen entrang sich ihrer Brust. Der Lärm um sie herum ebbte ab,
trat in den Hintergrund und drang dann mit erhöhter Lautstärke wie ein
wirbelndes Tosen an ihr Ohr. Langsam hob sie den Kopf. Doch sie sah nichts,
denn ein Tränenschleier trübte ihren Blick und ihr Bewußtsein nahm nichts um
sie herum mehr wahr. Zögernd drehte sie sich um. Schleppte sich ein paar
Schritte voran und lief schließlich so schnell sie konnte, zielstrebig in die
Richtung, aus der sie gekommen war. Wenige Augenblicke später fand sie sich
schluchzend in den Armen der Mutter wieder, die sich zwar nicht erklären
konnte, was auf einmal in ihre Tochter gefahren war, sie aber dennoch tröstend
wiegte und besänftigend auf sie einsprach.
Orgonas,
der nicht ahnte, welch einen Gefühlswirbel er da verursacht hatte, plagten
inzwischen ganz andere Probleme. Das Ziegenböcklein verspürte nämlich durchaus
nicht den Wunsch, als Versuchstier für seinen Wassertest herzuhalten und
veranstaltete ein munteres Fangenspiel mit dem kleinen Mann, das die beiden
einmal quer durchs ganze Lager und durch und über unterschiedliche
Warenanhäufungen führte. Vor zwei gereizten Bullen endete die Jagd abrupt. Das
Böcklein erwog seine Chancen, machte kehrt und rannte Orgonas beinahe um, der
es geistesgegenwärtig bei den Hörnern packte und aus dem Gefahrenbereich zog.
„Hab ich
dich!“ Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, das eine Ende der
Leine um den Hals des Tieres und das andere an seinem Gürtel zu befestigen.
„Probleme
mit dem Nachwuchs?“
Orgonas
seufzte ergeben, als die vor Ironie triefende Frage hinter ihm erklang. Er
brauchte sich nicht erst umzudrehen, um festzustellen, daß das breiteste
Grinsen seit Erfindung des Gerstensaftes auf Fredocs Gesicht ruhte.
„Ja, man
hat sein Leid mit ihnen!“ Er hob hilflos die Schultern, wollte noch etwas
erwidern und kämpfte im nächsten Augenblick um sein Gleichgewicht, als das
Böcklein erneut versuchte auszubrechen und mit einem kräftigen Ruck an der
Leine zog.
„Wenn es
das nachher auch macht, purzelst du im hohen Bogen durch die Luft!“ quietschte
Fredoc vergnügt und hielt sich den Bauch vor Lachen, als Orgonas schließlich
doch den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend und mit beiden Armen durch die
Luft rudernd zu Boden ging.
„Das
könnte dir so passen!“ Orgonas fingerte den Knoten wieder auf und drückte
seinem Freund, der viel zu überrumpelt war, sich dagegen zu wehren, die Schnur
in die Hand.
„Du hast
mehr Übung im Fallen.“ Anerkennend klopfte er ihm auf die Schulter und nur das
leichte Zucken seiner Mundwinkel verriet seine Erheiterung. „Laß ihn nicht
entkommen. Der wird uns vielleicht das Leben retten.“
Verständnislos
bestaunte Fredoc das kleine Wesen. Zweifel am Verstand des Kameraden drängten
sich in seine Gedanken. Er hatte nun in jeder Hand eine Leine, da er in der
anderen die Zügel des Ponys hielt, das fertig gesattelt neben ihm stand und
sich auf Anhieb mit dem gehörnten Vierbeiner einig wurde. Die beiden
beschnupperten sich wohlwollend und ein zufriedenes Schnauben auf beiden Seiten
bekundete das Einverständnis mit dem neuen Begleiter.
Fredoc
war noch in seine Betrachtungen vertieft, als Orgonas mit Ham auf ihn zukam.
„Na, gib
schon her, bevor du mir Löcher in die arme Kreatur starrst. Trotz seiner
Eskapaden hat er das nicht verdient.“
Mechanisch
reichte Fredoc ihm das Ende der Schnur, die er diesmal am Sattel befestigte.
Schnell und behende waren die beiden dicken und ungelenkig aussehenden Gestalten
aufgesessen und ritten mit ein paar grüßenden Worten an die Umstehenden davon.
Unbewußt suchte Orgonas’ Blick nach jemand ganz bestimmtem.
Menegilda
hatte zwischen zwei Holunderbüschen ein gemütliches Lager eingerichtet. Ihr war
es gelungen, mit einer Querstange zwischen den Gewächsen und drei senkrecht in
den Boden gerammten Holzpflöcken, ihre beiden Decken zu einem Zelt zu vereinen.
Mit vor
dem Leib verschränkten Armen stand sie daneben und warf ihm einen
vorwurfsvollen Blick zu. Rosilot war nirgends zu sehen.
Allmählich
verstummte der Lärm des Lagers hinter ihnen, als sie munter über die bunte
Blumenwiese trabten. Doch es war nicht etwa ein Bild zweier kühner Reiter, das
sich dem Auge des Betrachters bot. Zwar konnte man die Ponys durchaus als edle
Tiere bezeichnen, aber die beiden pummeligen Männlein auf ihren Rücken wirkten
tatsächlich weder würdevoll noch grazil. Die kurzen Beinchen standen zu den
Seiten ab und die Hände schienen mit allem beschäftigt, doch nicht damit, sich
um die rechte Zügelhaltung zu bemühen. Orgonas’ überdimensionaler Hut wippte
auf und ab wie die Ohren der Olifanten in den Kindergeschichten. Das
Ziegenböcklein wehrte sich noch immer mit wilden Sprüngen der Gefangenschaft
und vervollständigte den vergnüglichen Anblick.
Im Westen
näherte sich die Sonne dem Horizont und warf die Schatten der kleinen
Reisegruppe weit über die Ebene. Vereinzelte Büsche und Bäume säumten den Weg
und der Abendgesang der Vogelwelt erklang aus gut verborgenen Verstecken und
begleitete sie. Nach und nach wurde der Boden kärger und felsiger, denn sie
näherten sich einem der großen Ausläufer des Nebelgebirges, das weit in den
Osten hineinragte. Dies wußte Orgonas von seiner Karte. Was er nicht wußte war,
ob sie mit den Ochsenkarren einen Weg darüber finden, oder gezwungen sein
würden, ihn zu umfahren. Für den Moment machte er sich jedoch keine Gedanken
darüber. Dies hatte später noch Zeit. Wichtig war zunächst, daß es bis zum Bach
auch weiterhin genügend Weide für das Vieh gab. Die Tiere würden sich nur ein
wenig weiträumiger verteilen müssen.
Dafür
beschäftigte ihn die Sorge, daß der Pfad immer ausgetrockneter und die
Staubwolke, die sie selbst nur mit ihren Ponys aufwirbelten, immer größer
wurde.
„Wenn die
Karren hier entlang fahren, wird das alles andere als angenehm“, bemerkte
Orgonas mit einem prüfenden Blick nach rückwärts. „Ein sanfter Sommerregen wäre
jetzt nicht das schlechteste.“
Statt
einer Antwort erhielt er nur ein ersticktes Husten. Fredoc war seinem Blick
gefolgt und hatte dabei sein Pony etwas zurückgenommen, so daß er genau in den
Bereich des sandigen Nebels geraten war.
„Ich
nehme an, das war eine Zustimmung.“ Orgonas grinste breit und reichte ihm
seinen Wasserschlauch hinüber. Während Fredoc trank und sich den Mund
ausspülte, hielt Orgonas sein Pony ebenfalls an und begutachtete die Wolke
hinter ihnen genauer.
Der Staub
schwebte in etwa auf doppelter Kopfhöhe der Reiter. Er war so fein, daß er von
dem sanften Wind, der sie am Tag noch so erfrischt hatte, verweht wurde und sich
nur langsam und widerwillig legte. Orgonas runzelte die Stirn, befestigte
wortlos den Schlauch an seinem Sattel und trieb Ham erneut vorwärts. Sie
achteten nun darauf, stets nebeneinander zu bleiben und sich nicht gegenseitig
einzunebeln.
Die Sonne
versank hinter dem Gebirge und die Temperatur fiel schlagartig um einige Grade
ab. Die Jahreszeit näherte sich bereits dem Herbst und nach dem ungewöhnlich
heißen Sommer, empfanden die Reisenden die Kälte umso schneidender. Nicht nur
die Wärme verschwand mit der Sonne, auch das Tageslicht konnte sich gar nicht
schnell genug verflüchtigen.
„Sie wird
schon wissen, weshalb sie jeden Tag aufs neue gen Westen zieht!“ maulte Fredoc
und zog den Kragen seiner Jacke schützend um den Hals. Orgonas lachte hell auf.
Heute schien so gar nichts seine gute Laune auf längere Zeit trüben zu können.
Bereits seit einer geraumen Weile hatte er einige nicht so bekannte Geschichten
seines Urahnen zum besten gegeben. Sein vierbeiniger Namensvetter stimmte stets
mit freudigem Schnauben ein, wenn dabei die Rede auf seinen Urahnen kam.
Jetzt
unterbrach Orgonas seinen Redeschwall und deutete mit ausgestreckter Hand nach
vorne. „Wir sind gleich da. Siehst du die dunkle Linie dort?“
Wie auf
Kommando legten sich alle drei Tiere in die Zügel und Seile und zogen treibend
voran. Sie witterten das Wasser.
„Hoh!
Haalt! Hoohh!“ Orgonas bemühte sich, Ham zurückzuhalten, während er
gleichzeitig die Schnur des Böckleins losband. „Hör zu, Fredoc. Wir dürfen die Ponys
nicht an den Bach lassen, so gerne sie es auch möchten. Wir wissen nicht ob –“
Er senkte die Stimme zu einem Flüstern „- ob das Wasser vergiftet ist.“ Sein
bedauernder Blick flog zu dem armen Böcklein, das noch keine Ahnung von seinem
Schicksal hatte. Zu jung und unerfahren, um die Gefahr zu erkennen, sprang es
freudig zum Wasser und begann ohne zu zögern zu saufen.
Die Ponys
dagegen sogen prüfend die Luft durch die Nüstern. Ergeben ließen sie sich an
einer knorrigen Eiche anbinden und schlürften das abgestandene Wasser aus den
Schläuchen. Die beiden Männer achteten darauf, daß sie genügend
Bewegungsfreiheit hatten, um ausgiebig weiden und sich doch dem Bach nicht
weiter als auf vier Pferdelängen nähern zu können.
Inzwischen
war es stockfinster geworden. Die Hobbits schleppen ihre Sättel zu einer am
Ufer stehenden Trauerweide und machten es sich unter ihren Zweigen gemütlich.
Nach einem kargen und kalten Abendessen schliefen sie eng in ihre Decken
gerollt ein und wachten nicht eher auf, als bis die Sonne bereits eine
handbreit über dem Horizont stand.
Fredoc
war der erste, der es über sich brachte, sich aus der wärmenden Hülle zu
schälen. Laut gähnend und sich räkelnd stolperte er auf die Beine und kämpfte
eine Weile damit, die Augen zu öffnen. Als ihm dies unvollkommen gelang, fiel
sein erster Blick auf den noch immer schlafenden Kameraden. Sofort meldete sich
sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Wieso sollte dieser schlafen, wenn er
selbst sich so abgemüht hatte, wach zu werden?!
„Orgo,
aufstehen!“ nuschelte er undeutlich und gähnte noch einmal genüßlich, bevor er
dem anderen einen halbherzigen Fußstoß in die Rippen verpaßte. „Ist schon
spät!“
Ein
protestierendes Grummeln war alles, was Orgonas von sich gab, bevor er sich auf
die andere Seite drehte und die Decke noch höher über den Kopf zog.
Fredoc
entschied, daß es trotz der vorgerückten Stunde noch zu früh am Morgen war, um
sich mit dem Langschläfer zu überanstrengen und ließ sich neben seinen Rucksack
auf den Boden plumpsen. Als er darin zu kramen anfing, wurden seine
Lebensgeister geweckt, und er zählte mit hungrigem Eifer seine Schätze auf.
„Ein
saftiges Stück Kuchen, ein halbes Brot, ein getrockneter Schinken, ausreichend
grüne Teeblätter...“
„Du
sammelst Holz, ich hole Wasser!“ erklang eine begeisterte Stimme über seiner
Schulter.
Im
nächsten Augenblick starrten die beiden einander betroffen an. Wasser! Suchend
glitten ihre Blicke zwischen den Zweigen hindurch. Die Ponys standen auf der
dem Bach abgewandten Seite des Baumes und knabberten zufrieden ein paar
Grashalme. Weiter zurück lag etwas Helles am Boden.
Schnell
sprangen sie auf und liefen an ihren Reittieren vorbei, die nur einmal fragend
den Kopf hoben, auf diesen Punkt zu. Einige Meter davor bremsten sie abrupt ab.
Das Ziegenböcklein rührte sich nicht. Vorsichtig schlichen sie näher. Schritt
für Schritt, einen Fuß vor den anderen setzend. Zaudernd. Unentschlossen. Bis
sie endlich vor dem kleinen Geschöpf standen. Es hatte alle Viere von sich
gestreckt und regte sich nicht.
Fredoc
schluchzte leise. Er hatte den frechen Kerl bereits in sein Herz geschlossen.
Orgonas kniete bei ihm nieder und fuhr sachte über das zarte Fell. Es war noch
ganz warm. Auch er senkte den Kopf und zerknüllte den Hut vor seiner Brust. Er
hatte es geahnt. Und er hatte das unschuldige Wesen in den Tot getrieben.
Bewußt. Geplant. Schwer atmete er auf. Eine einsame Träne lief über seine
Wange. Und nun meldete sich auch die Sorge um sein Volk. Wo sollten sie
genügend Wasser herbekommen? Sollte ihre Fahrt wirklich schon an ihrem Anfang
scheitern?
Eine
tröstende Hand legte sich auf seine Schulter. Beide standen regungslos. Konnten
und wollten es nicht akzeptieren.
So tief
waren sie in Gedanken versunken, daß der Schreck sie mit doppelter Wucht
übermannte. Panisch sprang Orgonas auf und nach hinten, riß die Arme hoch,
stieß gegen den in seinem Rücken stehenden Fredoc und beide purzelten mit einem
Aufschrei zu Boden. Ein munteres Ziegenböcklein sprang über sie hinweg, mit
lustigen Luftsprüngen über die bunte Wiese und erfreute sich am wärmenden
Sonnenlicht.
Stöhnend
stemmten die Freunde sich auf, staunten verblüfft den Platz, auf dem vorher das
schlafende Böcklein gelegen hatte, dann sich gegenseitig an und brachen schließlich
in jauchzende Freudenschreie aus. Orgonas warf seinen Hut hoch in die Luft und
hakte seinen Arm bei Fredoc unter. Grölend und johlend tanzten und hüpften sie
im Kreis herum.
„Wir
haben es geschafft, Fredoc, wir haben es geschafft!“
Erschöpft
sanken sie schließlich in das grüne Gras und ließen sich auf den Rücken fallen.
Orgonas brach eine Pusteblume. Dicht vor den Augen betrachtete er sie genau und
blies, nachdem sein Atem sich beruhigt hatte, mit einem langen, gleichmäßigen
Zug darüber. Die weißen Fächer stoben auseinander, wurden vom Wind erfaßt und
in die Höhe getragen. Sinnend blickten sie den zarten Samenkäppchen nach;
glücklich und zufrieden mit sich und dem Rest der Welt.
Fredoc
drehte sich einmal herum und stützte sich mit den Ellenbogen ab.
„Wir
sollten den Ponys nun auch etwas frisches Wasser gönnen, meinst du nicht?“
„Mhmm.“
Orgonas hatte die Augen geschlossen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Nur ungern wurde er daran erinnert. Doch Fredoc hatte recht. Kläglich seufzend
erhob er sich, da der andere zwar den guten Einfall gehabt hatte, jedoch
keinerlei Anstalten machte, ihm Taten folgen zu lassen.
Ein
freudiges Wiehern hallte ihnen entgegen.
„Komm
Fredoc! Wir haben mindestens bis Mittag Zeit, bevor die Wagen kommen!“ rief
Orgonas übermütig und lief hinter den galoppierenden Ponys her zum Fluß, wo er
sich seiner Kleider entledigte und kurz darauf prustend und hustend im Bach
verschwand. Das Gewässer war so seicht, daß es den kleinen Kerlen nur bis zu
den Hüften reichte. Sehr vorteilhaft, wenn man bedachte, daß beide nicht
schwimmen konnten.
Es
dauerte nicht lange, bis die Tiere es ihren Herren gleich taten und sich
rücklings im Wasser wälzten. Empörte Ausrufe kommentierten die große Flutwelle,
die dadurch ausgelöst wurde und den Halblingen über den Köpfen zusammenschlug.
~*~
In der
Ferne erschallte das Rumpeln der Karren, das Stimmengewirr der Hobbits und die
mannigfaltigen Laute der Tiere. Orgonas und Fredoc hatten ihr Plätzchen unter
der Weide so wohnlich eingerichtet, wie es selbst die Hand der geschicktesten
Hobbit-Frau nicht gekonnter vermocht hätte. Sie erwarteten pfeiferauchend den
Wagenzug. Das erste, das sie von diesem sahen, war die wahrlich gigantische
Staubwolke, die ihn einhüllte. Als er näher gekommen war, löste sich eine
einzelne Gestalt aus dem unübersichtlichen Haufen. Es war Taleras, der auf
seinem Pony schnell heran kam, um die Lage zu erfragen. Die beiden Kundschafter
hatten kaum Zeit, den Erfolg ihres Unterfangens auszurichten, als auch bereits
das durstige Vieh auf sie zugestürmt kam, um erst am Bach wieder zu halten.
Gelassen kratzte Orgonas sich hinter dem rechten Ohr und murmelte etwas, das
sich wie >gut, daß die Weide abseits steht<, anhörte.
Zunächst
lief es nicht viel anders ab, als bei ihren übrigen Mittagspausen. Die Karren
wurden eilig abgestellt, die Ochsen ausgespannt. Hühner und Verletzte
abgeladen. Lobelia stritt sich wie üblich mit den Handlangern und machte sie
dafür verantwortlich, daß ihre Lieblinge keine Eier mehr legen wollten. Ein kleiner
Junge schlich sich unauffällig an ihr vorbei. Sein Hemd war merkwürdig
ausgebeult und sein Gang ausgesucht vorsichtig.
Alles
Vieh hatte sich am Ufer des Baches verteilt, um zu saufen. Nachdem es getränkt
war, gelang es den Leuten, ihrerseits das frische Naß zu genießen. Dabei wurde
es ziemlich schnell deutlich, daß heute mit einer Weiterfahrt nicht zu rechnen
war. Die Frauen begnügten sich nämlich keineswegs damit, sich den Staub aus dem
Gesicht und von den Händen zu waschen. Schnell wurde bestimmt, daß der obere
Bereich des Baches ausschließlich dem weiblichen Geschlecht vorbehalten sei.
Hier gab es dichtes Gebüsch und wo dieses fehlte, wurden rasch ein paar Decken
gespannt. Mit einem Blick, der selbst dem verwegensten Lüstling die Freude an
seinem Vorhaben verleidet hätte, baute Lobelia sich vor dem Badebereich auf,
ihren Gehstock angriffslustig geschultert. Nachdem die anfängliche Verwirrung
von dem männlichen Teil der Bevölkerung abgefallen war, begab sich dieser
schulterzuckend zum unteren Bachlauf, um sich dort, wenn auch weniger
enthusiastisch und gründlich zu reinigen.
Natürlich
alle außer Orgonas und Fredoc, die ihr Schwimmvergnügen längst hinter sich
hatten. Amüsiert beobachteten die Freunde die achtsame Lobelia und schmiedeten ulkend
und witzelnd unsittliche Pläne zur Umgehung oder Ablenkung des Wachhundes, die
jedoch niemals in die Tat umgesetzt wurden.
Der
Aktion Körperreinigung folgte das Unternehmen Wäschewaschen. Unter den
protestierenden Wortmeldungen der Männer, die vergeblich versuchten ihre Weiber
davon zu überzeugen, daß es völlig ausreichend wäre, den Staub auszuschlagen,
und daß bei der Weiterfahrt ohnehin alles wieder schmutzig würde.
Außerdem
wäre es ihnen jetzt weit lieber gewesen, wenn sie sich nicht eigenhändig um das
Essen hätten kümmern müssen. Doch es half nichts. Die Hobbit-Damen ließen sich
in ihrem Eifer nicht hemmen und schoben rüde beiseite, wer ihnen in den Weg
kam. Schnatternd und plappernd machten sie sich an die Arbeit. Irgend jemand
hatte sogar daran gedacht, einen Knäuel Schnur einzupacken und diese wurde nun
zwischen den Wagen gespannt, um die Wäsche daran zu trocknen.
Vollkommen
verdattert standen die Männer da und sahen ihnen zu, bis sich schließlich ihre
Mägen zu Wort meldeten. Kurzerhand entschieden sie, sich selbst um das Essen zu
kümmern. Immerhin waren sie im Kochen beinahe ebenso geschickt wie die Frauen,
denn wer gerne ißt, kocht meistens gut.
„Orgo? Wo
starrst du denn hin?“
Der
Angesprochene ruckte aus seinen Gedanken hoch.
„Wie? Ich?
Nirgends... Ich, ich hab nur gerade überlegt, daß unser letzter Imbiß auch
bereits eine gute Weile her ist.“
Fredoc
hob zweifelnd die Augenbrauen.
„Aha,
dann war das eben der starre, alles um sich herum vergessende Blick eines dem
Hungertod Geweihten?“
„Hm?“
„Ach,
vergiß es“, murrte Fredoc. „Ich glaube tatsächlich du merkst es selbst nicht.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Warte,
Fred! Was soll das heißen? Was merke ich nicht?“ Mit hastigen Schritten schloß
Orgonas zu ihm auf und zupfte ihn am Ärmel. Fredoc verdrehte die Augen.
„Da wirst
du schon selbst draufkommen müssen. Hier, halt mal. Ich muß irgendwo noch einen
Haken haben. So einen, den man zum Fischen gebrauchen kann.“ Besagter Haken
hatte sich bis in die untersten Tiefen der reichgefüllten Hosentaschen des
Halblings geflüchtet und Orgonas sah aus, wie ein Packesel, als Fredoc
freudestrahlend das kleine metallene Ding in der Hand hielt.
„Wußte
ich’s doch! Nun komm schon. Steh da nicht so herum. Hilf mir lieber eine Schnur
zu finden.“
„Bei meinem
Sattel liegt noch die Leine von gestern.“ Orgonas ließ resigniert den gesamten
Stapel auf den Boden fallen und begab sich schmollend zu seinen Sachen. Hinter
ihm hob Fredoc schimpfend seine Habseligkeiten wieder auf.
Kurz
darauf saßen die Freunde sichtlich besser gelaunt, mit ins Wasser baumelnden
Füßen, am Ufer des Baches, erzählten sich lachend lustige Anekdoten und
wunderten sich, daß bei all dem Lärm kein einziger Fisch anbeißen wollte.
Nein,
heute war an eine Weiterfahrt wahrlich nicht mehr zu denken.
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