Kapitel 3: Erste Probleme

 

 

 

Der Nordweg war keine Straße im eigentlichen Sinne. Er war vielmehr eine gedachte Linie, die sich zwischen den zahllosen Hügeln entlangschlängelte, die einzige, die sich nicht in dem unübersichtlichen Labyrinth verirrte, in einem Engpaß endete oder zum Ausgangspunkt zurückführte. Somit der einzige Weg, den Handelswagen nehmen konnten, wenn ihre Lenker den Drang verspürten, in solch abgelegene Gegenden vorzudringen. Früher waren dies meist Zwerge gewesen, die auf ihrem Weg in die Berge hier entlanggekommen waren. In letzter Zeit hatten sich jedoch immer häufiger Leute aus dem großen Volk eingefunden und schließlich Niederlassungen in der Nähe der Hobbitsiedlungen erbaut. Nun war das kleine Volk Fremden gegenüber stets freundlich und aufgeschlossen und stand selbst mit den sturköpfigen Kindern Aules auf gutem Fuß. Dennoch konnten sie sich mit den Menschen oder auch nur dem Gedanken an ihre Nähe, nicht anfreunden. Zuviel Gesindel trieb sich unter ihnen herum, zwielichtige Gestalten, denen man nichts Gutes zutrauen konnte und die Halblinge fühlten sich von ihnen gewissermaßen bedroht, auch wenn sie ihnen bisher nicht wirklich etwas zuleide getan hatten.

 

Der Wagenzug kam recht gut voran, da die Gegend ihnen bekannt war. Langsam aber stetig, denn die Pausen verschlangen einen Gutteil des Tages. Nicht etwa, weil die Essensgelage so ausgiebig ausgefallen wären. Dazu waren die Vorräte viel zu knapp und streng eingeteilt und es gab diesseits des Nebelgebirges kaum noch jagdbares Wild. Aber nach jeder Rast mußten erst einmal alle Leute wieder eingesammelt werden, was sich als recht zeitaufwendig herausstellte, da die tüchtigen Hobbit-Damen die Eigenart besaßen, sich überall gleich recht häuslich niederzulassen. Darüber hinaus hatten sie zwei Schwerverletzte bei sich, deren Wunden regelmäßig versorgt werden mußten und denen keine allzu anstrengenden Tagesmärsche zugemutet werden durften.

 

Die ersten beiden Nächte hatten sie entsprechend ihrer Ortskenntnis gute Lagerplätze. Gegen Mittag des dritten Tages würden sie ein kleines Bächlein erreichen und mit Überquerung desselben in ihnen unbekannte Gegenden vorstoßen.

 

Die Stimmung im Treck war ausgezeichnet. Die mit fettem, saftigem Gras bewachsene Landschaft bot genügend Futter für das Vieh und verhinderte ein allzu großes Aufwirbeln des Staubes, wie es auf den oft befahrenen Verbindungsstraßen zwischen den Dörfern der Fall gewesen wäre.

 

Munter tummelten sich Hobbit und Tier zwischen den gleichmäßig dahinrumpelnden Karren. Kinder spielten Fangen oder Verstecken. Lobelia, die wie eine wachsame Glucke stets hinter dem Wagen mit ihren Hühnern herging, schimpfte, wenn eines diesen dabei zu nahe kam und das Federvieh aufscheuchte. Die versammelte Hundemeute umlagerte einen der Ochsenkarren, auf dem es sich der fette Kater bequem gemacht hatte und sich genüßlich räkelte, wohl wissend, daß ihm hier keiner etwas anhaben konnte, nicht, solange das Fuhrwerk in Bewegung war. Die Sonne schien warm und freundlich vom Himmel, und ein sanftes Lüftchen wehte den mutigen Wanderern kühle Erleichterung zu.

 

Am zweiten Abend rasteten sie schon recht früh. Die Ochsenkarren wurden wahllos an einer beliebigen Stelle angehalten, und wie auf ein Stichwort schwärmten alle aus, um sich ein bequemes Lager herzurichten.

 

Besonders beliebt als Ort für die Schlafstatt waren die Fleckchen unter den Wagen. Nachdem es in der ersten Nacht im Eifer darum, einen der ersehnten Plätze zu ergattern beinahe zu tätlichen Übergriffen gekommen war, hatten die Dorfältesten in einer eilig zusammengerufenen Ratsbesprechung einen Ablaufplan entwickelt, der es jedem ermöglichen sollte, zu seinem Recht zu kommen. Nach einer heftigen Diskussion war dieser von allen Betroffenen akzeptiert worden und die Organisatoren begaben sich nun auf ihren Posten, um die Liste derjenigen vorzulesen, die heute an der Reihe waren. Die Auserwählten begannen sogleich, sich unter den Wagen einzurichten und mit wollenen Decken, die sie wie einen Vorhang an den herunterhängenden Lederriemen der Planen verknoteten, eine Höhle zu improvisieren.

 

Die Ochsen wurden ausgespannt und zum Grasen auf die Weide entlassen. Diejenigen Leutchen, die nicht gerade damit beschäftigt waren, den Alten und Kranken von den Karren zu helfen, verteilten sich mit Eimern über den ganzen Platz zu den Kühen und Ziegen, um diese zu melken, wo sie gerade standen. Kochgeschirr und Säcke mit Vorräten wurden zu einem zentralen Platz geschleppt, an dem mit einigen schnell zusammengesuchten großen Steinen ein behelfsmäßiger Backofen errichtet wurde. Kartoffeln wurden geschält, Gemüse geschnitten, Teig angerührt und geknetet. Es herrschte ein Treiben und eine Geschäftigkeit wie auf einem Handelsmarkt.

 

Verängstigtes Gackern mischte sich mit einer scheltenden Stimme, als vier Männer auf eines der Fuhrwerke stiegen, um den Käfig mit den Hühnern herunterzuheben.

 

„Seht euch das an!“ Lobelia war völlig außer sich und schlug fassungslos die Hände vor ihrer Brust zusammen, als man ihr das Gestell auf den Boden setzte.

 

„Meine armen Hühner! Was habt ihr nur mit ihnen gemacht?!“ lamentierte sie, ließ sich sogleich auf die Knie nieder und öffnete das Gefängnis. In der Tat machten ihre Lieblinge keinen allzu glücklichen Eindruck. Einen solch engen Bewegungsraum und das ständige Schaukeln nicht gewöhnt, standen sie reichlich unsicher auf den dürren Beinchen, flatterten halbherzig mit den Flügeln und ließen sich zuletzt kraftlos einfach fallen. Die sonst so resolute Hobbitfrau kümmerte sich hingebungsvoll um sie, kraulte fürsorglich die kleinen Köpfe, immer neue Kosenamen ersinnend, und streute ihnen ein paar Körner.

 

Taleras trat auf den jungen Gerstenbräu zu, nachdem dieser zwei quietschvergnügte Kinder von seinem Pony heruntergehoben hatte und soeben begann, die Sattelriemen zu lösen.

 

„Unsere Wasservorräte werden knapp. Die Fässer reichen bei so vielen durstigen Kehlen für kaum mehr als zwei Tage.“

 

Orgonas blickte auf und hielt in seiner Arbeit inne. Der Thain hatte so geklungen, als würde dieser Einleitung eine Aufforderung folgen. Doch er schwieg zunächst und verfolgte mit den Augen schmunzelnd ein paar in der Nähe herumtobende Jungs.

 

„Ich möchte, daß du vorausreitest. Du kannst noch jemanden mitnehmen, wenn du möchtest. Überprüfe das Wasser des Gebirgsbaches.“

 

Orgonas nickte ernst und zog den Sattel von seines Ponys Rücken. „Ich werde Ham eine kurze Pause gönnen und dann gleich aufbrechen. Wir haben noch gut zwei Stunden Tageslicht. Wenn ich mich beeile, kann ich den Bach bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen.“

 

Einen großen Stapel Brennholz auf den Armen, so daß er nicht einmal mehr richtig sah, wohin er ging, kam Fredoc auf die beiden zugestolpert und hörte gerade noch Orgonas’ letzte Worte.

 

„Laß mich mit dir kommen, Orgo, du...“ Ein panikartiges Kreischen, ein entsetzter Schrei, ein hölzernes Poltern und ein dumpfer Aufschlag und Fredoc lag der Länge nach auf seinem Holzstoß. Beinahe zeitgleich hob er zu schimpften an: „Also...“ Eine schwere Hundepfote drückte seinen Kopf für einen kurzen Moment in den Staub, so daß er nicht weitersprechen konnte. „Also, das ist doch...“ Ein zweiter Hund setzte über ihn hinweg...

 

Drei Hunde später gelang es Fredoc endlich sich aufzurappeln. Er schnappte nach Luft, dann schüttelte er drohend seine Faust hinter der kater-jagenden Meute her.

 

„Na wartet! Ich werde euch...“ Diesmal wurde er von einem schallenden Gelächter unterbrochen. Irritiert fuhr er herum und blickte in das belustigte Gesicht seines Freundes.

 

„Reg dich nicht auf, Fred.“ Orgonas klopfte ihm noch immer lachend den Staub von der Jacke. Ein beleidigtes, aber schon halb versöhntes Brummen war die Antwort.

 

„Sieh lieber zu, daß du dir eines der Ponys ausborgst. Du kannst schließlich nicht zu Fuß neben Ham herlaufen.“

 

„Bin schon unterwegs!“ Den Holzstoß ließ Fredoc achtlos liegen und stürmte davon.

 

Orgonas blickte ihm grinsend hinterher. Dann sah er sich um.

 

„Hm... ich brauche etwas, um das Gebirgswasser zu prüfen.“ Seine Augen blieben an Lobelias Hühnern haften. „Nein, nicht gut. Gar nicht gut“, führte er sein Selbstgespräch weiter. „Das würde sie mir niemals verzeihen!“

 

Erneut wurde das traute Lagerleben von einem Tumult heimgesucht. Eines der Ziegenböcklein hatte sich mit seinen Kameraden angelegt und sorgte für Aufruhr, als es nach einem mißglückten Angriff mit den kleinen Hörnern in einen Stapel sorgfältig aufgeschichteten Geschirrs stieß. Mit blechernem Gepolter stürzte der Töpfeturm ein und sofort machten ein paar schreiende Weiber Jagd auf den Übeltäter.

 

„Na, da haben wir doch etwas Passendes.“ Orgonas kräuselte zynisch die Lippen und kramte einen langen Bindfaden aus den unergründlichen Tiefen seiner Hosentaschen hervor.

 

„Herr Orgonas?“ Schüchtern trat das junge Mädchen zu dem Burschen. Die Hände verschämt in die saubere Schürze vergraben, sah es unter dem gesenkten Kopf zu ihm auf.

 

„Grüß dich, Rosilot“, säuselte Orgonas gut gelaunt, wodurch er sie nur noch mehr in Verlegenheit brachte.

 

„Ist es wahr, daß du heute noch fortreitest? Alleine? Und über Nacht in der Wildnis...“ Tiefe Sorge drückte sich in den hastig vorgebrachten Fragen aus. Orgonas nickte. „Ist das nicht furchtbar gefährlich?“

 

„Fredoc wird mich begleiten. Außerdem habe ich doch auch noch Ham bei mir.“ Beruhigend legte er ihr eine Hand auf den Unterarm.

 

Das Mädchen erschauderte. „Aber...“ Die Stimme klang weinerlich.

 

„Na na. Was soll mir denn schon passieren.“ Er tätschelte ihren Arm, zog etwas aus seinem Wams hervor und drückte es Rosilot in die Hand. „Hier, da hast du etwas, um dir die Zeit zu vertreiben, bis wir uns wiedersehen.“ Mit einem schelmischen Augenzwinkern ließ er sie stehen und ging hinüber zu dem Böcklein, um es an die Leine zu legen.

 

Betroffen starrte Rosilot auf das vergilbte Pergament. Er gab ihr seine Landkarte! Wahrscheinlich für den Fall, daß er nicht mehr zurückkam! Ihre Augen weiteten sich erst vor Schreck, um sich dann vor Kummer zusammenzuziehen. Ein verzweifeltes Keuchen entrang sich ihrer Brust. Der Lärm um sie herum ebbte ab, trat in den Hintergrund und drang dann mit erhöhter Lautstärke wie ein wirbelndes Tosen an ihr Ohr. Langsam hob sie den Kopf. Doch sie sah nichts, denn ein Tränenschleier trübte ihren Blick und ihr Bewußtsein nahm nichts um sie herum mehr wahr. Zögernd drehte sie sich um. Schleppte sich ein paar Schritte voran und lief schließlich so schnell sie konnte, zielstrebig in die Richtung, aus der sie gekommen war. Wenige Augenblicke später fand sie sich schluchzend in den Armen der Mutter wieder, die sich zwar nicht erklären konnte, was auf einmal in ihre Tochter gefahren war, sie aber dennoch tröstend wiegte und besänftigend auf sie einsprach.

 

Orgonas, der nicht ahnte, welch einen Gefühlswirbel er da verursacht hatte, plagten inzwischen ganz andere Probleme. Das Ziegenböcklein verspürte nämlich durchaus nicht den Wunsch, als Versuchstier für seinen Wassertest herzuhalten und veranstaltete ein munteres Fangenspiel mit dem kleinen Mann, das die beiden einmal quer durchs ganze Lager und durch und über unterschiedliche Warenanhäufungen führte. Vor zwei gereizten Bullen endete die Jagd abrupt. Das Böcklein erwog seine Chancen, machte kehrt und rannte Orgonas beinahe um, der es geistesgegenwärtig bei den Hörnern packte und aus dem Gefahrenbereich zog.

 

„Hab ich dich!“ Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, das eine Ende der Leine um den Hals des Tieres und das andere an seinem Gürtel zu befestigen.

 

„Probleme mit dem Nachwuchs?“

 

Orgonas seufzte ergeben, als die vor Ironie triefende Frage hinter ihm erklang. Er brauchte sich nicht erst umzudrehen, um festzustellen, daß das breiteste Grinsen seit Erfindung des Gerstensaftes auf Fredocs Gesicht ruhte.

 

„Ja, man hat sein Leid mit ihnen!“ Er hob hilflos die Schultern, wollte noch etwas erwidern und kämpfte im nächsten Augenblick um sein Gleichgewicht, als das Böcklein erneut versuchte auszubrechen und mit einem kräftigen Ruck an der Leine zog.

 

„Wenn es das nachher auch macht, purzelst du im hohen Bogen durch die Luft!“ quietschte Fredoc vergnügt und hielt sich den Bauch vor Lachen, als Orgonas schließlich doch den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend und mit beiden Armen durch die Luft rudernd zu Boden ging.

 

„Das könnte dir so passen!“ Orgonas fingerte den Knoten wieder auf und drückte seinem Freund, der viel zu überrumpelt war, sich dagegen zu wehren, die Schnur in die Hand.

 

„Du hast mehr Übung im Fallen.“ Anerkennend klopfte er ihm auf die Schulter und nur das leichte Zucken seiner Mundwinkel verriet seine Erheiterung. „Laß ihn nicht entkommen. Der wird uns vielleicht das Leben retten.“

 

Verständnislos bestaunte Fredoc das kleine Wesen. Zweifel am Verstand des Kameraden drängten sich in seine Gedanken. Er hatte nun in jeder Hand eine Leine, da er in der anderen die Zügel des Ponys hielt, das fertig gesattelt neben ihm stand und sich auf Anhieb mit dem gehörnten Vierbeiner einig wurde. Die beiden beschnupperten sich wohlwollend und ein zufriedenes Schnauben auf beiden Seiten bekundete das Einverständnis mit dem neuen Begleiter.

 

Fredoc war noch in seine Betrachtungen vertieft, als Orgonas mit Ham auf ihn zukam.

 

„Na, gib schon her, bevor du mir Löcher in die arme Kreatur starrst. Trotz seiner Eskapaden hat er das nicht verdient.“

 

Mechanisch reichte Fredoc ihm das Ende der Schnur, die er diesmal am Sattel befestigte. Schnell und behende waren die beiden dicken und ungelenkig aussehenden Gestalten aufgesessen und ritten mit ein paar grüßenden Worten an die Umstehenden davon. Unbewußt suchte Orgonas’ Blick nach jemand ganz bestimmtem.

 

Menegilda hatte zwischen zwei Holunderbüschen ein gemütliches Lager eingerichtet. Ihr war es gelungen, mit einer Querstange zwischen den Gewächsen und drei senkrecht in den Boden gerammten Holzpflöcken, ihre beiden Decken zu einem Zelt zu vereinen.

 

Mit vor dem Leib verschränkten Armen stand sie daneben und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Rosilot war nirgends zu sehen.

 

Allmählich verstummte der Lärm des Lagers hinter ihnen, als sie munter über die bunte Blumenwiese trabten. Doch es war nicht etwa ein Bild zweier kühner Reiter, das sich dem Auge des Betrachters bot. Zwar konnte man die Ponys durchaus als edle Tiere bezeichnen, aber die beiden pummeligen Männlein auf ihren Rücken wirkten tatsächlich weder würdevoll noch grazil. Die kurzen Beinchen standen zu den Seiten ab und die Hände schienen mit allem beschäftigt, doch nicht damit, sich um die rechte Zügelhaltung zu bemühen. Orgonas’ überdimensionaler Hut wippte auf und ab wie die Ohren der Olifanten in den Kindergeschichten. Das Ziegenböcklein wehrte sich noch immer mit wilden Sprüngen der Gefangenschaft und vervollständigte den vergnüglichen Anblick.

 

Im Westen näherte sich die Sonne dem Horizont und warf die Schatten der kleinen Reisegruppe weit über die Ebene. Vereinzelte Büsche und Bäume säumten den Weg und der Abendgesang der Vogelwelt erklang aus gut verborgenen Verstecken und begleitete sie. Nach und nach wurde der Boden kärger und felsiger, denn sie näherten sich einem der großen Ausläufer des Nebelgebirges, das weit in den Osten hineinragte. Dies wußte Orgonas von seiner Karte. Was er nicht wußte war, ob sie mit den Ochsenkarren einen Weg darüber finden, oder gezwungen sein würden, ihn zu umfahren. Für den Moment machte er sich jedoch keine Gedanken darüber. Dies hatte später noch Zeit. Wichtig war zunächst, daß es bis zum Bach auch weiterhin genügend Weide für das Vieh gab. Die Tiere würden sich nur ein wenig weiträumiger verteilen müssen.

 

Dafür beschäftigte ihn die Sorge, daß der Pfad immer ausgetrockneter und die Staubwolke, die sie selbst nur mit ihren Ponys aufwirbelten, immer größer wurde.

 

„Wenn die Karren hier entlang fahren, wird das alles andere als angenehm“, bemerkte Orgonas mit einem prüfenden Blick nach rückwärts. „Ein sanfter Sommerregen wäre jetzt nicht das schlechteste.“

 

Statt einer Antwort erhielt er nur ein ersticktes Husten. Fredoc war seinem Blick gefolgt und hatte dabei sein Pony etwas zurückgenommen, so daß er genau in den Bereich des sandigen Nebels geraten war.

 

„Ich nehme an, das war eine Zustimmung.“ Orgonas grinste breit und reichte ihm seinen Wasserschlauch hinüber. Während Fredoc trank und sich den Mund ausspülte, hielt Orgonas sein Pony ebenfalls an und begutachtete die Wolke hinter ihnen genauer.

 

Der Staub schwebte in etwa auf doppelter Kopfhöhe der Reiter. Er war so fein, daß er von dem sanften Wind, der sie am Tag noch so erfrischt hatte, verweht wurde und sich nur langsam und widerwillig legte. Orgonas runzelte die Stirn, befestigte wortlos den Schlauch an seinem Sattel und trieb Ham erneut vorwärts. Sie achteten nun darauf, stets nebeneinander zu bleiben und sich nicht gegenseitig einzunebeln.

 

Die Sonne versank hinter dem Gebirge und die Temperatur fiel schlagartig um einige Grade ab. Die Jahreszeit näherte sich bereits dem Herbst und nach dem ungewöhnlich heißen Sommer, empfanden die Reisenden die Kälte umso schneidender. Nicht nur die Wärme verschwand mit der Sonne, auch das Tageslicht konnte sich gar nicht schnell genug verflüchtigen.

 

„Sie wird schon wissen, weshalb sie jeden Tag aufs neue gen Westen zieht!“ maulte Fredoc und zog den Kragen seiner Jacke schützend um den Hals. Orgonas lachte hell auf. Heute schien so gar nichts seine gute Laune auf längere Zeit trüben zu können. Bereits seit einer geraumen Weile hatte er einige nicht so bekannte Geschichten seines Urahnen zum besten gegeben. Sein vierbeiniger Namensvetter stimmte stets mit freudigem Schnauben ein, wenn dabei die Rede auf seinen Urahnen kam.

 

Jetzt unterbrach Orgonas seinen Redeschwall und deutete mit ausgestreckter Hand nach vorne. „Wir sind gleich da. Siehst du die dunkle Linie dort?“

 

Wie auf Kommando legten sich alle drei Tiere in die Zügel und Seile und zogen treibend voran. Sie witterten das Wasser.

 

„Hoh! Haalt! Hoohh!“ Orgonas bemühte sich, Ham zurückzuhalten, während er gleichzeitig die Schnur des Böckleins losband. „Hör zu, Fredoc. Wir dürfen die Ponys nicht an den Bach lassen, so gerne sie es auch möchten. Wir wissen nicht ob –“ Er senkte die Stimme zu einem Flüstern „- ob das Wasser vergiftet ist.“ Sein bedauernder Blick flog zu dem armen Böcklein, das noch keine Ahnung von seinem Schicksal hatte. Zu jung und unerfahren, um die Gefahr zu erkennen, sprang es freudig zum Wasser und begann ohne zu zögern zu saufen.

 

Die Ponys dagegen sogen prüfend die Luft durch die Nüstern. Ergeben ließen sie sich an einer knorrigen Eiche anbinden und schlürften das abgestandene Wasser aus den Schläuchen. Die beiden Männer achteten darauf, daß sie genügend Bewegungsfreiheit hatten, um ausgiebig weiden und sich doch dem Bach nicht weiter als auf vier Pferdelängen nähern zu können.

 

Inzwischen war es stockfinster geworden. Die Hobbits schleppen ihre Sättel zu einer am Ufer stehenden Trauerweide und machten es sich unter ihren Zweigen gemütlich. Nach einem kargen und kalten Abendessen schliefen sie eng in ihre Decken gerollt ein und wachten nicht eher auf, als bis die Sonne bereits eine handbreit über dem Horizont stand.

 

Fredoc war der erste, der es über sich brachte, sich aus der wärmenden Hülle zu schälen. Laut gähnend und sich räkelnd stolperte er auf die Beine und kämpfte eine Weile damit, die Augen zu öffnen. Als ihm dies unvollkommen gelang, fiel sein erster Blick auf den noch immer schlafenden Kameraden. Sofort meldete sich sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Wieso sollte dieser schlafen, wenn er selbst sich so abgemüht hatte, wach zu werden?!

 

„Orgo, aufstehen!“ nuschelte er undeutlich und gähnte noch einmal genüßlich, bevor er dem anderen einen halbherzigen Fußstoß in die Rippen verpaßte. „Ist schon spät!“

 

Ein protestierendes Grummeln war alles, was Orgonas von sich gab, bevor er sich auf die andere Seite drehte und die Decke noch höher über den Kopf zog.

 

Fredoc entschied, daß es trotz der vorgerückten Stunde noch zu früh am Morgen war, um sich mit dem Langschläfer zu überanstrengen und ließ sich neben seinen Rucksack auf den Boden plumpsen. Als er darin zu kramen anfing, wurden seine Lebensgeister geweckt, und er zählte mit hungrigem Eifer seine Schätze auf.

 

„Ein saftiges Stück Kuchen, ein halbes Brot, ein getrockneter Schinken, ausreichend grüne Teeblätter...“

 

„Du sammelst Holz, ich hole Wasser!“ erklang eine begeisterte Stimme über seiner Schulter.

 

Im nächsten Augenblick starrten die beiden einander betroffen an. Wasser! Suchend glitten ihre Blicke zwischen den Zweigen hindurch. Die Ponys standen auf der dem Bach abgewandten Seite des Baumes und knabberten zufrieden ein paar Grashalme. Weiter zurück lag etwas Helles am Boden.

 

Schnell sprangen sie auf und liefen an ihren Reittieren vorbei, die nur einmal fragend den Kopf hoben, auf diesen Punkt zu. Einige Meter davor bremsten sie abrupt ab. Das Ziegenböcklein rührte sich nicht. Vorsichtig schlichen sie näher. Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen setzend. Zaudernd. Unentschlossen. Bis sie endlich vor dem kleinen Geschöpf standen. Es hatte alle Viere von sich gestreckt und regte sich nicht.

 

Fredoc schluchzte leise. Er hatte den frechen Kerl bereits in sein Herz geschlossen. Orgonas kniete bei ihm nieder und fuhr sachte über das zarte Fell. Es war noch ganz warm. Auch er senkte den Kopf und zerknüllte den Hut vor seiner Brust. Er hatte es geahnt. Und er hatte das unschuldige Wesen in den Tot getrieben. Bewußt. Geplant. Schwer atmete er auf. Eine einsame Träne lief über seine Wange. Und nun meldete sich auch die Sorge um sein Volk. Wo sollten sie genügend Wasser herbekommen? Sollte ihre Fahrt wirklich schon an ihrem Anfang scheitern?

 

Eine tröstende Hand legte sich auf seine Schulter. Beide standen regungslos. Konnten und wollten es nicht akzeptieren.

 

So tief waren sie in Gedanken versunken, daß der Schreck sie mit doppelter Wucht übermannte. Panisch sprang Orgonas auf und nach hinten, riß die Arme hoch, stieß gegen den in seinem Rücken stehenden Fredoc und beide purzelten mit einem Aufschrei zu Boden. Ein munteres Ziegenböcklein sprang über sie hinweg, mit lustigen Luftsprüngen über die bunte Wiese und erfreute sich am wärmenden Sonnenlicht.

 

Stöhnend stemmten die Freunde sich auf, staunten verblüfft den Platz, auf dem vorher das schlafende Böcklein gelegen hatte, dann sich gegenseitig an und brachen schließlich in jauchzende Freudenschreie aus. Orgonas warf seinen Hut hoch in die Luft und hakte seinen Arm bei Fredoc unter. Grölend und johlend tanzten und hüpften sie im Kreis herum.

 

„Wir haben es geschafft, Fredoc, wir haben es geschafft!“

 

Erschöpft sanken sie schließlich in das grüne Gras und ließen sich auf den Rücken fallen. Orgonas brach eine Pusteblume. Dicht vor den Augen betrachtete er sie genau und blies, nachdem sein Atem sich beruhigt hatte, mit einem langen, gleichmäßigen Zug darüber. Die weißen Fächer stoben auseinander, wurden vom Wind erfaßt und in die Höhe getragen. Sinnend blickten sie den zarten Samenkäppchen nach; glücklich und zufrieden mit sich und dem Rest der Welt.

 

Fredoc drehte sich einmal herum und stützte sich mit den Ellenbogen ab.

 

„Wir sollten den Ponys nun auch etwas frisches Wasser gönnen, meinst du nicht?“

 

„Mhmm.“ Orgonas hatte die Augen geschlossen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Nur ungern wurde er daran erinnert. Doch Fredoc hatte recht. Kläglich seufzend erhob er sich, da der andere zwar den guten Einfall gehabt hatte, jedoch keinerlei Anstalten machte, ihm Taten folgen zu lassen.

 

Ein freudiges Wiehern hallte ihnen entgegen.

 

„Komm Fredoc! Wir haben mindestens bis Mittag Zeit, bevor die Wagen kommen!“ rief Orgonas übermütig und lief hinter den galoppierenden Ponys her zum Fluß, wo er sich seiner Kleider entledigte und kurz darauf prustend und hustend im Bach verschwand. Das Gewässer war so seicht, daß es den kleinen Kerlen nur bis zu den Hüften reichte. Sehr vorteilhaft, wenn man bedachte, daß beide nicht schwimmen konnten.

 

Es dauerte nicht lange, bis die Tiere es ihren Herren gleich taten und sich rücklings im Wasser wälzten. Empörte Ausrufe kommentierten die große Flutwelle, die dadurch ausgelöst wurde und den Halblingen über den Köpfen zusammenschlug.

 

~*~

 

In der Ferne erschallte das Rumpeln der Karren, das Stimmengewirr der Hobbits und die mannigfaltigen Laute der Tiere. Orgonas und Fredoc hatten ihr Plätzchen unter der Weide so wohnlich eingerichtet, wie es selbst die Hand der geschicktesten Hobbit-Frau nicht gekonnter vermocht hätte. Sie erwarteten pfeiferauchend den Wagenzug. Das erste, das sie von diesem sahen, war die wahrlich gigantische Staubwolke, die ihn einhüllte. Als er näher gekommen war, löste sich eine einzelne Gestalt aus dem unübersichtlichen Haufen. Es war Taleras, der auf seinem Pony schnell heran kam, um die Lage zu erfragen. Die beiden Kundschafter hatten kaum Zeit, den Erfolg ihres Unterfangens auszurichten, als auch bereits das durstige Vieh auf sie zugestürmt kam, um erst am Bach wieder zu halten. Gelassen kratzte Orgonas sich hinter dem rechten Ohr und murmelte etwas, das sich wie >gut, daß die Weide abseits steht<, anhörte.

 

Zunächst lief es nicht viel anders ab, als bei ihren übrigen Mittagspausen. Die Karren wurden eilig abgestellt, die Ochsen ausgespannt. Hühner und Verletzte abgeladen. Lobelia stritt sich wie üblich mit den Handlangern und machte sie dafür verantwortlich, daß ihre Lieblinge keine Eier mehr legen wollten. Ein kleiner Junge schlich sich unauffällig an ihr vorbei. Sein Hemd war merkwürdig ausgebeult und sein Gang ausgesucht vorsichtig.

 

Alles Vieh hatte sich am Ufer des Baches verteilt, um zu saufen. Nachdem es getränkt war, gelang es den Leuten, ihrerseits das frische Naß zu genießen. Dabei wurde es ziemlich schnell deutlich, daß heute mit einer Weiterfahrt nicht zu rechnen war. Die Frauen begnügten sich nämlich keineswegs damit, sich den Staub aus dem Gesicht und von den Händen zu waschen. Schnell wurde bestimmt, daß der obere Bereich des Baches ausschließlich dem weiblichen Geschlecht vorbehalten sei. Hier gab es dichtes Gebüsch und wo dieses fehlte, wurden rasch ein paar Decken gespannt. Mit einem Blick, der selbst dem verwegensten Lüstling die Freude an seinem Vorhaben verleidet hätte, baute Lobelia sich vor dem Badebereich auf, ihren Gehstock angriffslustig geschultert. Nachdem die anfängliche Verwirrung von dem männlichen Teil der Bevölkerung abgefallen war, begab sich dieser schulterzuckend zum unteren Bachlauf, um sich dort, wenn auch weniger enthusiastisch und gründlich zu reinigen.

 

Natürlich alle außer Orgonas und Fredoc, die ihr Schwimmvergnügen längst hinter sich hatten. Amüsiert beobachteten die Freunde die achtsame Lobelia und schmiedeten ulkend und witzelnd unsittliche Pläne zur Umgehung oder Ablenkung des Wachhundes, die jedoch niemals in die Tat umgesetzt wurden.

 

Der Aktion Körperreinigung folgte das Unternehmen Wäschewaschen. Unter den protestierenden Wortmeldungen der Männer, die vergeblich versuchten ihre Weiber davon zu überzeugen, daß es völlig ausreichend wäre, den Staub auszuschlagen, und daß bei der Weiterfahrt ohnehin alles wieder schmutzig würde.

 

Außerdem wäre es ihnen jetzt weit lieber gewesen, wenn sie sich nicht eigenhändig um das Essen hätten kümmern müssen. Doch es half nichts. Die Hobbit-Damen ließen sich in ihrem Eifer nicht hemmen und schoben rüde beiseite, wer ihnen in den Weg kam. Schnatternd und plappernd machten sie sich an die Arbeit. Irgend jemand hatte sogar daran gedacht, einen Knäuel Schnur einzupacken und diese wurde nun zwischen den Wagen gespannt, um die Wäsche daran zu trocknen.

 

Vollkommen verdattert standen die Männer da und sahen ihnen zu, bis sich schließlich ihre Mägen zu Wort meldeten. Kurzerhand entschieden sie, sich selbst um das Essen zu kümmern. Immerhin waren sie im Kochen beinahe ebenso geschickt wie die Frauen, denn wer gerne ißt, kocht meistens gut.

 

„Orgo? Wo starrst du denn hin?“

 

Der Angesprochene ruckte aus seinen Gedanken hoch.

 

„Wie? Ich? Nirgends... Ich, ich hab nur gerade überlegt, daß unser letzter Imbiß auch bereits eine gute Weile her ist.“

 

Fredoc hob zweifelnd die Augenbrauen.

 

„Aha, dann war das eben der starre, alles um sich herum vergessende Blick eines dem Hungertod Geweihten?“

 

„Hm?“

 

„Ach, vergiß es“, murrte Fredoc. „Ich glaube tatsächlich du merkst es selbst nicht.“ Er wandte sich zum Gehen.

 

„Warte, Fred! Was soll das heißen? Was merke ich nicht?“ Mit hastigen Schritten schloß Orgonas zu ihm auf und zupfte ihn am Ärmel. Fredoc verdrehte die Augen.

 

„Da wirst du schon selbst draufkommen müssen. Hier, halt mal. Ich muß irgendwo noch einen Haken haben. So einen, den man zum Fischen gebrauchen kann.“ Besagter Haken hatte sich bis in die untersten Tiefen der reichgefüllten Hosentaschen des Halblings geflüchtet und Orgonas sah aus, wie ein Packesel, als Fredoc freudestrahlend das kleine metallene Ding in der Hand hielt.

 

„Wußte ich’s doch! Nun komm schon. Steh da nicht so herum. Hilf mir lieber eine Schnur zu finden.“

 

„Bei meinem Sattel liegt noch die Leine von gestern.“ Orgonas ließ resigniert den gesamten Stapel auf den Boden fallen und begab sich schmollend zu seinen Sachen. Hinter ihm hob Fredoc schimpfend seine Habseligkeiten wieder auf.

 

Kurz darauf saßen die Freunde sichtlich besser gelaunt, mit ins Wasser baumelnden Füßen, am Ufer des Baches, erzählten sich lachend lustige Anekdoten und wunderten sich, daß bei all dem Lärm kein einziger Fisch anbeißen wollte.

 

Nein, heute war an eine Weiterfahrt wahrlich nicht mehr zu denken.

 

 

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