Kapitel 2: Aufbruch

 

 

 

Das harte Rumpeln eines Ochsenkarrens erklang auf dem schmalen Weg, der von Wasserach kommend nach Breth führte. Ruhig und gemächlich zogen die beiden stämmigen Tiere das Gefährt voran und wirbelten dabei eine feine Wolke aus hellem Staub auf, die sich ausbreitete und erst als sie bereits einige Meter weiter waren, langsam wieder legte. Wobei, ziehen ist eigentlich nicht das rechte Wort, denn da den Ochsen das Joch nicht im Nacken, sondern auf der Stirn lag, stießen sie das Gewicht regelrecht vor sich her.

 

Auf das schwere Holzgerüst des Karrens war über ein eckiges Gestell aus kräftigen Stäben eine graubraune Plane gespannt. Diese war mit Bienenwachs getränkt worden, um sie wasserundurchlässig zu machen. Seitlich reichte sie bis zur Bodenplatte herab und war an dieser mit Riemen befestigt, welche man durch Löcher, die in kurzen Abständen in die Plane eingelassen und mit Leder verstärkt waren, gezogen hatte. Am vorderen und hinteren Rand hing sie nur ein wenig über. Im Karren selbst lagen zwei kleinere Planen, die man zur Not dort befestigen konnte, um die Ladung vor Nässe zu schützen. Für gewöhnlich benutzten die Hobbits solche Planen einfach als Überwürfe, um das eingebrachte Heu bei Bedarf auf dem Weg zum Vorratslager zuzudecken, bevor die ersten Regentropfen es verderben konnten.

 

Auf dem einfachen Brett, das als Kutschbock diente, saßen zwei Männer schweigend nebeneinander. Sie hatten beide dunkles lockiges Haar, einen wirren Vollbart und strahlten eine Gutmütigkeit aus, die woanders ihresgleichen suchte. Jetzt griff sich der eine an die mächtige Krempe seines Hutes, schob sich diesen ins Genick und seufzte leise.

 

„Weißt du, Fred, ich wünschte wirklich, sie wären einsichtiger. Aber was hätten wir sonst tun sollen? Ich meine, wir haben alles versucht, sie zu überzeugen, oder nicht?“

 

„Mach dir keine Vorwürfe, Orgo. Es ist nicht deine Schuld und meine auch nicht. Wir können sie schließlich nicht zwingen, mit uns zu kommen.“

 

„Immerhin, wir verdanken ihnen diesen Ochsenkarren, die beiden Tiere und die hervorragende Idee mit der Plane. So war unser Gang dennoch nicht vergeblich!“ versuchte Orgonas sich selbst aufzumuntern, seufzte noch einmal kläglich und fiel erneut in Schweigen. Lange Zeit war das eintönige Geklapper der Tiere auf der ausgedörrten Straße und das Poltern des Karrens das einzige, was sie hörten, nur unterbrochen von einem gelegentlichen gelangweilten Brüllen der Ochsen.

 

Als sie sich dem Dorf näherten, tönte ihnen geschäftiges Treiben entgegen. Synchron erhoben die beiden Wagenlenker ihre Köpfe, um besser sehen zu können, doch erst als sie um die nächste Biegung kamen, breitete sich die Geschäftigkeit vor ihren Augen aus.

 

Eine lange Reihe von Ochsenkarren stand fein säuberlich nebeneinander, die Hauptstraße entlang. Orgonas zählte 19 Stück. Er warf Fredoc einen bedeutungsvollen Blick zu. Albadoc war wohl erfolgreicher gewesen als sie, denn drei davon mußten aus Hügelau stammen. Die Hügelauer waren immer schon tatkräftiger gewesen, als die Wasseracher und Mühlentaler, und tatsächlich erblickten die Freunde auch einige Nachbarfamilien, die sich ihnen anschließen wollten.

 

Überall wuselten bunt gekleidete Gestalten emsig herum und schleppten mit Handkarren oder Tragen Lebensmittel herbei. Thain Taleras hatte darauf bestanden, daß diese als erstes einen Platz auf den Wagen finden sollten. Zwischendurch schlängelte sich das Oberhaupt mit einer Beweglichkeit, die man ihm bei seinem Leibesumfang nicht zugetraut hätte, wies jedem seinen Platz an und machte sich im Kopf Notizen über den Gesamtbestand der Ware.

 

„Zwei Sack Mehl? Hier her! Die Äpfel dort hinüber! Decken und warme Kleidung verteilt unter die Sitzbalken!“ dirigierte er die Ankommenden und wandte sich dann wieder dem Weib zu, das ihm seit geraumer Zeit nicht von der Seite gewichen war. „Nein, Meralda, du kannst unmöglich dein gesamtes Geschirr mitnehmen, wie oft muß ich dir das noch sagen. Bring es hinüber in den Lagerbau, und vielleicht können wir es später einmal abholen lassen.“

 

Jetzt hatten Orgonas und Fredoc das Dorf erreicht, brachten ihr Gespann mit einem lauten: „Ho! Haalt! Ho!“ zum Stehen und hopsten schwungvoll zu Boden.

 

„Ihr seid recht spät dran. Wir hatten euch bereits gestern zurückerwartet“, stellte Taleras zwischen zwei Anweisungen fest und begutachtete nebenbei neugierig die Vorrichtung auf dem Fuhrwerk der Neuankömmlinge. Er ließ sich jedoch keine Zeit, sich weiter mit ihnen zu befassen, sondern wandte sich sogleich wieder seiner Organisation zu.

 

„Nein, füllt die Wasserfässer im Brunnen, nicht im Bach. Wir wissen nicht, ob wir diesem schon trauen können. Gestern sind wieder ein paar Fische bäuchlings oben auf geschwommen“, rief er einer Gruppe zu, die sich soeben mit zwei leeren Fässern in Richtung des Gewässers hatte aufmachen wollen. Sie drehten sich wortlos auf der Stelle um und trotteten auf den Dorfbrunnen zu, der unweit des Platzes mit dem Apfelbäumchen stand. Quietschend ließen sie den Eimer an einem Seil mit der großen Kurbel nieder, während andere sich mit weiteren Wasserfässern hinzugesellten. Es würde eine lange Zeit dauern, sie alle aufzufüllen und anschließend an den Seiten der Fuhrwerke zu befestigen.

 

Orgonas und Fredoc hatten es inzwischen übernommen, die anderen über die Vorteile ihres Karrenaufbaus zu unterrichten und ein paar Kinder, die eifrig helfen wollten, losgeschickt, brauchbare Stöcke zu suchen und die Planen aus dem Vorratslager zu beschaffen.

 

Trotz der vielen mit zupackenden Hände dauerte es den gesamten Nachmittag, bis alle Ochsenwagen mit einem Verdeck ausgestattet waren und nun begaben sich die Freunde in ihre Höhlen, um ihre eigenen Sachen zusammenzuräumen. Schließlich wollten sie bereits am nächsten Morgen aufbrechen, da war nicht mehr viel Zeit dazu.

 

„Es bleibt zu hoffen, daß heute Nacht keine Orks angreifen, wo wir die Vorräte so schön auf einem Haufen beisammen haben“, bemerkte Orgonas noch, bevor er in seinem Smial verschwand.

 

~*~

 

Einige Minuten lang stand Orgonas einfach untätig am Eingang und betrachtete mit Wehmut die gemütliche Ausstattung seiner Höhle. Die massive Eichenbank-Sitzgruppe. Den aus hellgrauem Gestein gemauerten Kamin. Das Bücherregal, das sich unter der Last von allem möglichen bog, aber nicht ein einziges Buch beherbergte. Eine gepolsterte Fußbank, deren Bezug stellenweise schon recht dünn war. Die alte, verstaubte Truhe im Hinterraum. Sein bequemes Bett. Orgonas stöhnte. Letzteres würde er in den nächsten Wochen wohl am schmerzlichsten vermissen.

 

Er besaß nicht viel, von den zahllosen angehäuften und meist nutzlosen Kleinigkeiten, die die Brether sich gerne gegenseitig schenkten, einmal abgesehen. Die Speisekammer hatte man mit seiner Erlaubnis bereits geplündert. So blieb ihm nur noch, ein paar Kleider und persönliche Gegenstände zusammen zu packen. Zu letzteren gehörte jene zerbrochene Pfeife und natürlich die Landkarte.

 

Orgonas legte alles auf den großen Tisch zurecht und dachte gerade darüber nach, sich ein Abendessen zu bereiten – aus den Lebensmitteln, die sich nicht zum Verstauen für die Reise geeignet hatten wohlgemerkt – als es zaghaft an die Tür pochte.

 

Auf seine Einladung, streckte ein junges Mädchen vorsichtig den Kopf herein. Sie hatte goldbraunes, lockiges Haar, das sie zu zwei langen, dicken Zöpfen geflochten hatte, rote Pausbacken und strahlend blaue Augen, die nun schüchtern nach Orgonas suchten.

 

„Ah, Rosilot! Komm herein!“ begrüßte dieser sie fröhlich und begleitete seine Worte mit einer einladenden Geste. „Ich hab gesehen, du hast während meiner Abwesenheit gut für Ham gesorgt. Ich dank dir schön!“

 

Die roten Wangen des Mädchens wurden noch einen Ton dunkler. „Das hab ich gern getan“, hauchte es. „Du weißt doch, wie sehr ich dein Pony mag.“ Ihre Stimme fing leise an zu zittern und sie senkte beschämt den Blick.

 

Alarmiert weiteten sich Orgonas’ Augen.

 

„Rosilot, was hast du denn? Ist dir nicht wohl? So komm doch endlich herein“, forderte er sie noch einmal fürsorglich auf, trat flink auf sie zu, ergriff ihre beiden Hände und zog sie zu der bequemen Bank. „Und jetzt erzähl mal.“ Er schob sich einen Stuhl zurecht und ließ sich neben ihr nieder.

 

Das Mädchen kämpfte erst mit sich selbst, kniff mehrmals die Augen zusammen, um die Tränen zurückzudrängen, die ungebeten hervorströmten, zog undamenhaft die Nase hoch und schluchzte schließlich, als alles nichts half, verzweifelt los:

 

„Mama will nicht mitkommen. Sie sagt, jetzt, wo Papa hier liegt, gäbe es für sie nirgends anders Frieden. Und ich kann sie doch nicht alleine lassen. Aber ich möchte doch so gerne mit euch kommen.“ Dankbar ergriff sie das Taschentuch, das Orgonas ihr reichte, und putzte sich zunächst einmal kräftig die Nase, bevor sie versuchte, die Augen daran abzutrocknen, was ihr aber bei den immer wieder neu hervorbrechenden Bächen nicht gelingen wollte.

 

Erschüttert starrte Orgonas auf sie herab.

 

„Aber..., sie kann doch nicht..“, stotterte er und suchte vergeblich nach passenden Worten. Dann räusperte er sich energisch, zog nun seinerseits geräuschvoll die Nase hoch und fuhr mit dem Zeigefinger wischend unter ihr hindurch. „Wenn du möchtest, werde ich einmal mit ihr darüber reden“, bot er Rosilot mit nun wieder gefaßter Stimme an.

 

Augenblicklich flog der Kopf des Mädchens in den Nacken und ein flehender Blick aus wunderschönen Augen ließ seinen Atem kurz aussetzen.

 

„Das würdest du wirklich für mich tun? Oh, Orgonas, ich danke dir!“ Einen Moment lang hatte man das Gefühl, sie wolle sich ihm um den Hals werfen, doch dann besann sie sich anders und ließ die bereits erhobenen Hände wieder in den Schoß sinken. Der leicht verstörte Blick des jungen Hobbitmannes, der momentan nicht so recht er selbst zu sein schien, folgte dieser Bewegung.

 

„Natürlich werde ich das!“ bestätigte er lahm, schüttelte die Benommenheit von sich und sprang eifrig auf. „Komm, wir wollen sie sogleich aufsuchen!“

 

Doch das Mädchen wehrte ab. „Nein, ich glaube, es wäre nicht so gut, wenn wir gemeinsam zu ihr gingen“, wagte sie kaum auszusprechen und verbarg die aufkommende Röte unter dem gesenkten Kopf.

 

Orgonas verstand nicht. „Wenn du meinst.“ Sichtlich verwirrt ging er die paar Schritte auf die Türe zu.

 

Mit flinken Sprüngen huschte Rosilot an ihm vorbei, durch die Öffnung und hinaus. „Ich werde noch einmal nach Ham sehen, damit es ihm auch an nichts mangelt“, trällerte sie fröhlich.

 

„Rosilot, ich kann dir aber nicht versprechen...“ Orgonas konnte seine Erklärung nicht zuende führen, denn Rosilot war bereits seinen Blicken entschwunden.

 

~*~

 

Vor der Höhle angekommen, nahm Orgonas artig den Hut ab und klopfte behutsam an die saubere, schmucklose Tür. Unruhig die Kopfbedeckung in seinen Händen drehend, erwartete er die Aufforderung einzutreten. Doch nichts geschah. Als er bereits doppelt so lange ausgeharrt hatte, wie die gute Sitte es erforderte, pochte er noch einmal, diesmal etwas lauter.

 

Zwei dumpfe Schläge erklangen, der dritte ging ins Leere, da jemand just in diesem Moment die schwere Tür aufzog. So fand die erhobene Hand nur Luft, wo eben noch Holz gewesen war und vollführte eine eigenartig ruckende Bewegung, bevor Orgonas sie zurückzog, zu seiner anderen an die Krempe des Hutes legte und diesen hingebungsvoll durchzukneten begann.

 

„Ah, Orgonas“, erklangen die schwermütigen Worte einer Frau aus dem düsteren Inneren des Smials. „Komm herein, ich habe dich bereits erwartet.“ Sprachs, drehte sich um und ließ den verdutzten Kerl einfach stehen. Nach kurzem Zögern folgte er ihr vorsichtig tastend, da seine Augen sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen mußten.

 

„Setz dich.“ Sie wies nachlässig mit der Hand auf einen Stuhl, ohne ihn dabei anzusehen, trat zum Fenster und starrte hinaus. Noch immer herrschte im Dorf geschäftiges Treiben. Von hier aus hatte man eine gute Sicht auf die lange Wagenreihe und gelegentlich klang die laute Stimme des Thain herüber.

 

Orgonas rutschte verlegen auf den angebotenen Sitzplatz. Sein Hut hatte inzwischen eine recht wehleidige Form angenommen, und nach Worten suchend begann er damit, an seinen Rändern herumzuzupfen, um die ursprüngliche wieder herzustellen.

 

„Mir wurde gesagt, du willst dich uns nicht anschließen“, begann er nach einer Weile unsicher.

 

„Sie war bei dir“, stellte Rosilots Mutter nüchtern fest, wandte sich mit einer schwungvollen Bewegung um und sah Orgonas direkt in die Augen. „Nicht wahr?“

 

Dieser schluckte bei dem strengen Ton, der in dieser Frage mitschwang und nickte knapp. War es der Frau etwa nicht recht, daß ihre Tochter regelmäßig bei ihm vorbeischaute, um sich nach dem Befinden Hams zu erkundigen und das Pony nach Strich und Faden zu verwöhnen? Sie dachte doch hoffentlich nicht von ihm, er würde sie ausnutzen? Niemals hätte er ihre Hilfe angenommen, wenn sie ihm nicht immer wieder versichert hätte, wieviel Freude es ihr bereitete, dem treuen Tier Futter und Wasser zu bringen oder das Stroh zu richten!

 

„Ich weiß wohl, warum sie mit dir kommen will“, nickte die verhärmte Frau. Leises Zittern schwang in ihrer Stimme. Sie räusperte sich sogleich, um sich nichts anmerken zu lassen.

 

„Weil sie die Notwendigkeit begriffen hat!“ vollendete Orgonas mit Nachdruck die völlig mißinterpretierte Aussage.

 

Die Frau lächelte schmerzlich. Wissend. Und wandte sich erneut dem Getümmel auf der Straße zu. Nach und nach verschwanden die Dörfler in ihren Höhlen. Der Lärm ebbte ab.

 

„Niemand zwingt sie dazu, hier zu bleiben“, sagte die Frau tonlos.

 

Orgonas blickte auf und hielt erstmalig seit seiner Ankunft in der Bearbeitung seines Hutes inne. Ruhig, aber dennoch bestimmt, durchbrachen seine Worte die eingetretene Stille.

 

Du zwingst sie dazu!“

 

Bedrücktes Schweigen.

 

Endlich drehte die Frau sich unsagbar langsam um. Wasser schimmerte in ihren Augen und auch Orgonas mußte mit den Tränen kämpfen, als er ihrer ganzen Haltung die grenzenlose Trauer ansah. Er wußte, daß es nicht Selbstsucht war und auch nicht Herzlosigkeit, die sie so hatte sprechen lassen. Er schalt sich einen Trottel für seine scharfen Worte.

 

„Verzeih mir, Menegilda. Ich hatte kein Recht dazu, dir solche Vorwürfe zu machen. Glaub mir ich kann mir vorstellen, wie schwer es dir fallen muß. Nicht einmal Zeit zum Trauern hattest du.“ Er machte eine besinnliche Pause. „Aber um Rosilots willen bitte ich dich: Komm mit uns!“

 

Orgonas war längst aufgestanden. Flehentlich hob er ihr die Hände entgegen. Sein Hut fiel dabei achtlos zu Boden.

 

Eine ganze Flut von Gedanken schoß Menegilda durch den Kopf. Ihr Verstand hatte längst erkannt, daß ihre einzige Hoffnung in dieser Auswanderung lag. Doch der tiefe Seelenschmerz hatte sie gefühllos werden lassen für jede andere Empfindung. Was hatte es jetzt noch für einen Sinn? Vor wenigen Augenblicken hätte sie noch gesagt: „Gar keinen“. Aber jetzt? Was war mit Rosilot? Durfte sie ihr Leben oder Glück aufs Spiel setzen? Nur, weil sie nicht die Kraft fand, sich loszureißen? Rosilot war ihre einzige Tochter. Alles, was ihr geblieben war. Sollte sie diese auch noch verlieren? - Auf die eine oder andere Weise?

 

Ihr Rücken straffte sich und mit einigen trotzigen Bewegungen wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Mit leicht schiefgelegtem Kopf begutachtete sie dann nachdenklich ihr Gegenüber und stemmte die Hände in die Seite. Die Gerstenbräus galten in Breth seit jeher als Sonderlinge. Menegilda wußte nicht, was sie davon halten sollte, daß ausgerechnet ihre Rosi sich so offensichtlich für diesen jungen Mann interessierte.

 

Sie seufzte. Nun, man konnte über Orgonas sagen, was man wollte, zumindest war er ihr gegenüber stets freundlich und korrekt. Einfühlsam war er ebenfalls, wie er soeben bewiesen hatte. Und außerdem lag ihm ganz offensichtlich etwas an dem Mädchen, wenn er sich dessen auch noch nicht bewußt war.

 

Sie zuckte die Schultern, bückte sich betont lässig, hob den Hut auf und schwenkte Orgonas diesen so kraftvoll entgegen, daß er dabei einen tüchtigen Hieb in die Magengegend abbekam und sich mit einem halb erstickten Laut vornüber beugte.

 

„Und jetzt mach, daß du aus meiner guten Stube kommst! Ich habe eine Menge zu tun, wenn ich morgen früh fertig sein soll“, raunzte sie ihn an, um ihren Kummer zu verbergen und drängte die wieder aufkommenden Tränen gewaltsam zurück. Ungeduldig fuchtelte sie mit den Händen durch die Luft und schob Orgonas schimpfend zur Tür hinaus.

 

~*~

 

Die Nacht brach herein. Lange brannten heute noch die Kerzen in vielen Smials. Im Laufe des Nachmittages waren immer wieder Freunde und Verwandte aus den Nachbardörfern eingetroffen, die die Fortziehenden am nächsten Tag verabschieden und bei den Vorbereitungen helfen wollten. Daß die durch ihre Ankünfte ausgelösten ständigen Unterbrechungen bei den Begrüßungen, die Essenseinladungen und das angeregte Geplauder eher ablaufstörend als –fördernd gewesen waren, war nun wirklich nicht allein ihre Schuld.

 

Natürlich waren unter den Anteilnehmenden auch solche, die darauf spekulierten, sich irgendwelche Kostbarkeiten, die nicht auf den Wagen Platz finden konnten, anzueignen. Doch da es den Dörflern lieber war, ihr Eigentum in den Händen der Leute ihres eigenen Volkes, als denen der Orks zu wissen, und Hobbits ohnehin von jeher ebenso gerne Geschenke machten, wie annahmen, so waren selbst diese Schatzsucher heute willkommen. Nur einige wenige ausgefallene Familienstücke fanden in einer tief in den Hang gegrabenen Lagerhöhle Platz, vor deren relativ kleine Öffnung ein schwerer Stein gewälzt und gekonnt getarnt wurde. Irgendwie erhob es die Gemüter der kleinen Leute, sich der Hoffnung hinzugeben, diese Sachen einmal abholen zu können und so keinen allzu derben Schlußstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen.

 

Auch Orgonas war noch lange wach und versuchte vergeblich, seinen alten Oheim zu überreden, mit ihnen zu kommen. Doch dieser winkte zu allem nur müde ab und betonte immer wieder, er sei zu alt für eine Luftveränderung.

 

Dem jungen Mann wurde das Herz schwer, als er schließlich – es war bereits weit nach Mitternacht - einsehen mußte, daß es ihm nicht gelingen würde, ihn umzustimmen. Er schämte sich seiner Tränen nicht, die ihm ob dieser Erkenntnis ungehindert über die Wangen liefen.

 

Der Oheim schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich und wiegte ihn beruhigend wie einen kleinen Jungen, während er selbst bittere Tränen vergoß und gedankenverloren ein altes Kinderlied vor sich hinsummte.

 

In vielen Höhlen spielten sich ähnliche Familientragödien ab. Die Entschlüsse waren nun endgültig getroffen. In dieser Nacht sollte sich niemand mehr anders entscheiden. Auch zwei oder drei Familien aus Breth waren nicht willens, sich den Leuten anzuschließen. Sie würden in einer der umliegenden Ortschaften eine freundliche Aufnahme finden.

 

~*~

 

Eine strahlende Sonne verkündete den neuen Morgen. Ein wolkenloser Himmel versprach einen herrlichen Spätsommertag. Verschlafen plusterte der Dorfgockel sein Gefieder auf und blinzelte in das zarte, junge Licht, bevor er begriff, daß er heute erstmalig versäumt hatte, seine Pflicht zu tun. Erschrocken riß er die runden Äuglein auf. So etwas war zuletzt vor vielen Generationen seinem Urahnen passiert, als ein paar Dorflümmel ihm am Abend zuvor einen Becher dieses fürchterlichen Gerstenzeugs zu trinken gegeben hatten! Lang streckte er den Hals in den Himmel und ließ einen besonders lauten, klaren Schrei hören, als wolle er damit das Verpaßte wieder einholen.

 

Nahezu gleichzeitig wurden einige Türen aufgerissen und betriebsame Leute rannten heraus und hinüber und nach wenigen Minuten herrschte das selbe Getümmel, wie am Vorabend. Wildes Geschnatter erhob sich, als Lobelia auf Jagd ging, um ihre gefiederten Freunde für die Reise einzusammeln.

 

Boldegrin konnte es sich nicht verkneifen, sie dabei aus nächster Nähe zu beobachten und die ein oder andere spitze Bemerkung fallen zu lassen. Es sah aber auch zu ulkig aus, wie die alte Dame ihre Röcke gerafft hatte und hinter den verängstigten Hühnern herstob, die ihr stets einen Schritt, oder besser gesagt einen Flügelschlag voraus waren. Ihr zu Beginn ordentlich zusammengebundener Haarknoten löste sich dabei auf und lange Strähnen hingen ihr ins vor Eifer gerötete Gesicht. Dabei schnaufte sie, wie eine ganze Herde Rinder.

 

Gerade holte der Spötter zu einer erneuten frechen Äußerung aus, als Lobelia ihm in Ermangelung ihres Gehstockes mit der Faust entgegendrohte. Das Wort blieb ihm im Halse stecken und er gelangte zu der Überzeugung, daß es das beste war, sich ein wenig zurückzuziehen. Nur für den Fall. Aus sicherer Entfernung verfolgte er belustigt das Schauspiel weiter.

 

Thain Taleras trat bedächtig aus seinem Smial und stülpte den hohen Hut auf; den mit der langen Feder, dem Zeichen seiner Würde. Angemessen hoheitsvoll blickte er über das Dorfgeschehen und wies einen der Nachtwächter an, in sein Horn zu stoßen. Aller Aufmerksamkeit richtete sich nun auf das Oberhaupt. Um Ruhe bittend hob dieses die Hände. Es dauerte eine ganze Weile, bis auch der letzte verstummt war.

 

„Liebe Freunde“, begann Taleras feierlich, „heute ist der Tag, an dem wir unsere alte Heimat verlassen, um uns eine neue zu suchen. Laßt uns alle gemeinsam Abschied von unseren Toten nehmen, bevor wir die letzten Vorbereitungen zum Aufbruch treffen!“

 

Er winkte ein paar kräftige Burschen herbei, die die Verletzten, die sich noch immer in seiner Höhle befanden, stützen sollten, damit auch diese sich ihnen anschließen konnten. Zwei von ihnen mußten den sanften Hügel hinaufgetragen werden. Trotz ihrer Wunden hatten sie sich entschlossen, mit auf die schwere Wanderung zu kommen.

 

Taleras führte den langen, schweigsamen Zug an.

 

Bei den Gräbern angelangt, brachen einige Weiber schluchzend in die Knie, doch auch die Männer hatten feuchte Augen. Die kleinen Kinder erfaßten die Situation zum Glück noch nicht völlig. Sie blickten nur fragend zu ihren Eltern, lehnten die Köpfchen tröstend an deren Schultern oder fragten sie unschuldig, warum sie denn weinten. Es dauerte lange, bis sich die Dorfschaft wieder abwandte und nach und nach zurück in den Ort trollte. Selbst jetzt verharrten ein paar Frauen weinend an der Stelle.

 

Zurück im Dorf war es nun Orgonas’ Aufgabe, die Leute auf die Wagen zu verteilen. Neben den Lenkern fanden die Alten, die nicht mehr gut zu Fuß waren, und die Verletzten darauf Platz: Einige auf dem Bock, für andere hatte man gleich dahinter eine Sitz- oder Liegestatt geschaffen. Manchen reichte man Säuglinge und Kleinkinder hinauf, die sie sich auf den Schoß setzten oder in den Armen hielten. Die Planen wurden bei dem schönen Wetter bis zur Mitte nach hinten geschlagen, um den milden Sonnenstrahlen Einlaß zu gewähren.

 

Der Thain ging mit einigen Helfern von einem Fuhrwerk zum anderen und sah nach, was an persönlichen Gegenständen der Dörfler, die diese nun in Kisten, Körben und Kübeln herbeibrachten, noch Raum fand und sorgte dafür, daß niemand benachteiligt wurde.

 

Zwischenzeitlich spannten einige bereits die Ochsen ein. Andere schafften weitere Ochsen und Kühe herbei, Ziegen, Schafe. Selbst Lobelias Hühner wurden in einem käfigartigen Gestell auf einen der Karren verladen. Letztendlich hatte doch Boldegrins gutes Herz über seine Schadenfreude gesiegt, und er hatte seiner erklärten Lieblings-Feindin die Hand zur Versöhnung und zur Hilfe gereicht. Gemeinsam war es ihnen bald gelungen, die flüchtenden Tiere zu fassen.

 

Jetzt stand die alte Dame gewohnt kommandierend und mürrisch neben dem Fuhrwerk und scheuchte, ihren Gehstock schwenkend, die Aufladenden herum. Ihrer Meinung nach hatte nämlich keiner von ihnen wirklich Ahnung davon, wie alles richtig festgeschnallt werden mußte, und sie war besorgt, daß ihren Lieblingen auf der Fahrt ein Leid geschehen könnte.

 

Kinder sprangen spielend zwischen den arbeitsamen Erwachsenen herum.

 

Dies alles währte seine Zeit. Es ging bereits auf Mittag zu, als endlich alles verstaut war. Auch den ledigen Ochsen und Kühen hatte man Lasten aufgebunden und hauptsächlich die Männer, aber auch einige kräftigere Frauen, trugen wohlgefüllte Rücksäcke oder Umhängetaschen. Viele rannten noch einmal zu ihren Höhlen, sahen nach, ob sie auch nichts vergessen hatten. Hier schloß jemand mit Tränen in den Augen ein letztes Mal seine Höhle, dort streichelte jemand zärtlich den runden Knauf der Türe.

 

Orgonas hatte Ham gesattelt und sich ebenfalls seinen großen Rucksack umgeschnallt. Wie alle wehrfähigen Männer war er mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Den Köcher, den er bei dem Gepäck nicht auf die übliche Art umlegen konnte, hatte er dabei einfach an die obere Verschnürung der Tasche geknotet. Das Behältnis baumelte nun rechts daneben locker herunter.

 

Soeben hatte er eine hitzige Diskussion mit Albadoc begonnen, der trotz seines hohen Alters nicht bereit war, auf einen der Wagen zu klettern.

 

„Was soll das, Orgonas Gerstenbräu?“ empörte sich der Greis. „Es wurde ausdrücklich angeordnet, daß die Plätze auf den Wagen für die Verletzten und Alten sind“, gab er ihm unmißverständlich zu verstehen, daß er sich keinesfalls zu letzteren zählte. Tatsächlich verzog er ziemlich beleidigt ob dieses Ansinnens den Mund und tippte seinem Gegenüber zum Takt seiner Worte mit dem Zeigefinger gegen die Brust: „Oder willst du etwa andeuten, ich wäre nicht mehr gut zu Fuß?!“

 

„Ich will gar nichts andeuten, Albadoc!“ lachte Orgonas und hob ihm abwehrend beide Handflächen entgegen.

 

„Orgo?“ Fredoc trat in diesem Moment von hinten an ihn heran und zog mahnend die Augenbrauen hoch. „Menegilda und Rosi sind noch immer draußen.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung hinüber zu den Hügelgräbern. „Es ist wohl das beste, du siehst mal nach ihnen.“

 

Der Angesprochene nickte knapp und warf seinem Freund die Zügel des Ponys in die Hand. Er hatte sich bereits abgewandt, als er noch einmal inne hielt.

 

„Oh, und Fred? Dieser junge Mann hier“, er wies auf Albadoc, „wird unsere Führer am Anfang des Zuges verstärken. Wir brauchen dort jemanden, der die weniger Unermüdlichen anspornen kann“, zwinkerte er ihm zu, als würde er tatsächlich über einen Gleichaltrigen reden. Auf diese Weise konnte er den Alten wenigstens vor der dicken Staubwolke bewahren, die dem Wagentreck unweigerlich folgen würde.

 

Albadoc strahlte über das ganze Gesicht. „So ist es recht, mein Junge!“ lachte er. „Ihr grünes Gemüse werdet euch noch wundern, was ein Mann im besten Alter zu leisten vermag!“

 

Fredoc verschluckte sich bei dem Versuch ernst zu bleiben an dem Stückchen Apfel, das er soeben genüßlich abgebissen hatte. Den darauf folgenden Lachdrang verbarg er unter einem langen Hustenanfall.

 

Orgonas, immer hilfsbereit, klopfte ihm ironisch grinsend, kräftig auf den Rücken. „Also wirklich, Fred, du solltest nicht so gierig schlingen!“

 

Fredoc durchbohrte den Freund mit strengem Blick, doch erneuter Husten erstickte seine Antwort.

 

„Das ist gar nicht gesund, weiß du?!“ Im nächsten Moment ergriff Orgonas lachend die Flucht, als Fredoc Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen, wovon ihn dann auch nur ein mit unwiderstehlicher Macht wiederkehrender Hustenanfall abhielt.

 

„Orgonas hat vollkommen recht“, mußte er sich zu allem Überfluß auch noch von Albadoc anhören, der neben ihm stand und ihn besorgt beobachtete.

 

Mit eiligen Schritten lief Orgonas hinüber zu den Gräbern. Seine kurzen Beinchen bewegten sich dabei so schnell, daß man sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Erst kurz vor dem Ziel bremste er ab. Menegilda kniete stumm am Grab ihres Mannes. Mit trockenen Augen starrte sie abwesend auf den frischen Hügel. Neben ihr stand Rosilot, die Hand schwer auf die Schulter der Mutter gelegt, die Augen in die gleiche Richtung gewandt, mit dem selben ausdruckslosen Blick.

 

Zögernd trat Orgonas zu ihnen und zog umständlich seinen Hut vom Kopf. Ihr eigener Atem war eine zeitlang alles, was die drei wahrnahmen. Die Geräusche aus dem Dorf lagen hinter einem unsichtbaren Schleier und drangen nicht zu ihrem Bewußtsein vor.

 

„Es ist Zeit“, flüsterte er. Es mußte sein. Mutter und Tochter blickten gleichzeitig und mit der selben verlangsamten Reaktion zu ihm auf. Schienen erst jetzt seiner gewahr zu werden. Schwerfällig erhob Menegilda sich und senkte bestätigend den Kopf. Noch immer keiner Worte mächtig verabschiedete sie sich stumm von ihrem Gatten, bückte sich noch einmal und legte den Strauß Wiesenblumen, den sie verborgen vor Orgonas’ Blicken an ihr Herz gedrückt hatte, auf das einfache Grab. Müde schlich sie den grünen Hügel hinab. Rosilot hatte die Mutter mit beiden Armen umschlungen und vergrub das Gesicht in ihre Bluse. Leise begann sie, vor sich hinzuschluchzen. Dieser herzerweichende Laut ließ Menegilda endlich aus ihrer Geistesabwesenheit zurückfinden.

 

„Nicht doch, Rosi!“ Sie fuhr dem Kind mit der Hand durch die wirren Haare. Wuselte einige der Locken durcheinander, die frech ihr Gesicht umrahmten und sich nicht in dem dicken Zopf hatten bändigen lassen. „Es wird alles gut“, tröstete sie und zog das Mädchen fest in ihre Arme. Sich auf diese Weise gegenseitig stützend und einander Halt gebend, kamen die beiden im Dorf an und gesellten sich zu den Wartenden.

 

Orgonas kam sich unangenehm fehl am Platz vor, folgte in einigem Abstand und schlug dann sogleich den Weg zu Fredoc ein, der von einer ganzen Schar kleiner Kinder umlagert wurde.

 

„Guck mal! Ich hab Ham eine Möhre mitgebracht. Weil er doch jetzt so weit laufen muß!“ piepste ein Dickerchen aufgeregt.

 

„Darf ich auf ihm reiten, Herr Orgonas, ja?“ schmetterten gleich mehrere helle Stimmchen dem Näherkommenden entgegen, und erwartungsvoll blickten ihn die kleinen Strolche an.

 

„Langsam, langsam! Nicht alle auf einmal! Ihr macht mir sonst den alten Ham kaputt“, lachte er, froh darüber, aus seinen trüben Gedanken und der Unsicherheit gerissen zu werden. Die gute Laune stand ihm auch viel besser zu Gesicht, und die hellen Augen funkelten lustig.

 

„Du, Primula und du, Melilot, ihr seid als erstes dran und dann wird immer schön abgewechselt, in Ordnung?“

 

„Jaaa!“ Die beiden Mädchen klappten begeistert die Händchen aufeinander und machten kleine Luftsprünge, bei denen ihre Zöpfe auf und ab wippten.

 

„Och, immer dürfen die Weiber zuerst! Das ist ungerecht!“ maulte einer der Jungs.

 

„So ist das nun einmal.“ Orgonas bedachte ihn mit einem verständnisvollen Lächeln.

 

„Und warum ist das so?“ wollte der andere nun wissen.

 

Orgonas warf Fredoc einen hilfesuchenden Blick zu. Nur allzugut kannte er die nervtötende Macht des alles infrage stellenden Wortes >Warum<. Aber andererseits war dieser Einwand gar nicht so dumm. Wieso war das eigentlich so? Er zuckte die Achseln. „Weil ein sehr weiser Mann sich das einmal ausgedacht hat, damit sie zufrieden sind und uns Männer in Ruhe lassen“, raunte er schließlich dem kleinen Fragesteller augenzwinkernd zu. Der ließ sich die Worte einen Moment durch den Kopf gehen und grinste kurz darauf von einem Ohr zum anderen. Großzügig gewährte er beiden Mädchen nun den Vortritt.

 

Die hatten inzwischen enthusiastisch begonnen, das Pony zu erklettern, das bei dieser Attacke vollkommen gelassen stehen blieb und nur hin und wieder leicht irritiert die Ohren verdrehte. In der Tat bewies das Tier dabei, daß es Nerven besaß, die ebenso hart waren wie die kunstvoll gestalteten Mithrilnieten an Sattel und Zaum. Das helle Metall glänzte in der Mittagssonne und stach von dem dunkel gegerbten Leder ab wie Sterne in einer Neumondnacht. Mit einem Anflug von Stolz betrachtete Orgonas das gute Stück, das er erst im Frühjahr von einem Zwergenhändler erworben hatte und kraulte Ham, ihn liebevoll für seine Geduld lobend, zwischen den Ohren.

 

Fredoc zockelte los, um die wenigen Ponys des Dorfes ihren Besitzern auszuschwatzen und mit jeweils zwei weiteren Kindern zu besetzen.

 

Endlich war dann alles soweit. Allerletzte Überredungsversuche wurden gemacht, hier und da noch ein Riemen nachgezogen, ein Seil festgezurrt, ein frisch gebackenes Brot verstaut.

 

Dann trat erwartungsvolle Stille ein. Der dicke Kater drängte sich vorsichtig zu seinem Herrn durch und nicht einmal die Hunde wagten, das große Atemholen mit einem Laut zu unterbrechen, als er dabei recht nahe an ihnen vorüberkam.

 

„Laßt uns aufbrechen! Unserer neuen Heimat entgegen!“ erklangen die beinahe ehrfürchtigen Worte des Thain über den Platz. Schluchzen. Zetern. Leises Gewimmer. Dann griff jemand freudig die Parole auf: „Unserer neuen Heimat entgegen!“ und „Unserer neuen Heimat entgegen!“ antworteten mehrere und nacheinander fielen alle ein. Lustiges Peitschenknallen ertönte, Ochsen stemmten brüllend die Köpfe tief dem Joch entgegen. Polternd fuhren die Karren an. Schafe blökten, Hühner gackerten, Ziegen meckerten. Bellende Hunde begannen die Jagd auf den kreischenden Kater, der mit einem großen Satz Zuflucht in den Armen des Thain suchte. Die Leute riefen und schnatterten eifrig durcheinander, und allmählich setzte sich der gesamte Zug in Bewegung.

 

Männer, Weiber und Kinder liefen neben den Fuhrwerken und zwischen den Tieren her. Die Zurückbleibenden folgten ihnen noch einen guten Marsch und trennten sich nach und nach von ihnen. Immer wieder geriet der Zug an einzelnen Stellen ins Stocken, wenn die Verwandten und Freunde unter lautem Lamentieren verabschiedet wurden. Letztendlich war es ein Zug von gut 250 Leuten des kleinen Volkes, der Richtung Süden strebte, auf dem Nordweg der Alten Straße entgegen.

 

 

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