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Durch die großen Fenster des Arbeitszimmers fielen helle Sonnenstrahlen und ließen eine leichte Spur feinen Staubes auf den zahllosen Büchern, die in den deckenhohen Wandregalen standen, erkennen. Auf einem Ast, der sich über den Balkon beugte, sangen zwei Vögel um die Wette. Die Luft war erfüllt von dem lieblichen Duft der Rosenranken. Doch der Hohe König der Noldor schien keinen Sinn für all die Schönheit zu haben. Er saß an dem großen, kunstvoll verzierten Schreibtisch und hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte und den Kopf in die Hände gestützt.

 

„Noch immer keine Nachricht vom Grünwald, mein Herr?“ Der junge, dunkelhaarige Elb, der soeben nach einem kurzen Anklopfen eingetreten war, ließ sich ohne Aufforderung ihm gegenüber nieder. Eine Geste, die deutlich besagte, daß er den anderen zwar ‚Herr’ genannt hatte, sich aber mehr als seinen Vertrauten, denn als Untergebenen betrachtete.

 

„Nein, nichts“, seufzte Gil-galad ohne aufzublicken.

 

„Du solltest die Nandor um Hilfe bitten!“

 

„Pfff...!“ Gil-galad schnaufte zornig aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Die Nandor!“ Er stand auf und ging unmutig im Zimmer auf und ab. „Die Nandor begreifen meine Sorgen nicht. Orks und Wölfe – die gab es zu jeder Zeit. Im Grünwald und auch anderswo!“ Er blieb direkt vor dem jungen Elben stehen. „Sie wollen einfach nicht begreifen, daß sich das Böse wieder in Mittelerde rührt! Daß Morgoth geschlagen wurde, aber sein böser Geist weiterlebt!“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Irgend etwas haben wir übersehen. Irgend jemand gibt diesen Bestien Kraft und eint sie.“

 

Der junge Elb sah nachdenklich vor sich hin. „Irgend jemand? Du meinst, es ist nur ein einzelner, dem sie gehorchen? Glaubst du zu wissen, wen oder was wir übersehen haben?“

 

Gil-galad nickte. „Ein einzelner, der in vielen Gestalten auftritt.“ Er begann wieder seinen unruhigen Gang durch das Zimmer. „Morgoth hatte einen mächtigen Diener und es gibt Gerüchte darüber, daß er dem Sturz seines Herrn entkommen ist.“

 

Entsetzt blickte der junge Elb den König an. „Du denkst...?“

 

Gil-galad blieb ruckartig stehen. „Ja, genau das denke ich“, sagte er tonlos. „Und ich denke, daß er vom Grünwald aus agiert, denn nirgendwo sonst in Mittelerde scheint das Böse so rege.“

 

Er ging zu seinem Schreibtisch und blickte über die Unterlagen, die er dort ausgebreitet hatte. Landkarten, in denen Orte markiert und Bemerkungen eingetragen waren, und Pergamentbögen vollgeschrieben mit Notizen.

 

„Ich hatte gehofft, diese Fremden würden mir Nachricht bringen. Auch wenn nicht alle meinen Worten geglaubt hatten, so waren sie doch begierig die Wahrheit zu erfahren, jeder aus einem anderen Grund.“ Gil-galad seufzte, ließ sich in einen Sessel fallen und beschattete die Augen mit einer Hand. „Wenn ich nur wüßte, was aus ihnen geworden ist!“

 

Schweigen breitete sich aus. Durch das Fenster drang jetzt geschäftiges Treiben. Hufgeklapper, Stimmengewirr.

 

„Du mußt neue Kundschafter ausschicken!“, sagte der junge Elb plötzlich energisch und richtete sich auf. „Schicke mich!“

 

Gil-galad blickte ihn wehmütig lächelnd an. Dieser Elb liebte seine Studien weit mehr als seine Waffen. Dennoch konnte er mit letzteren besser umgehen als die meisten seiner Leute. Und er wäre für seinen König in den Tod gegangen. Gil-galad wußte das. „Ja, ich werde wieder jemanden schicken. Aber nicht dich. Dich brauche ich hier an meiner Seite. Ich brauche deinen Rat, Elrond.“

 

Es klopfte an die Tür und gleich darauf trat ein Bediensteter ein. „Ein Brief von Herrn Celeborn und Frau Galadriel, mein Herr. Er wurde soeben von einem Boten abgegeben.“ Auf eine Handbewegung Gil-galads verließ er mit einer leichten Verbeugung den Raum.

 

Der Hohe König brach das Siegel und vertiefte sich in den Brief. Als er fertig war, ließ er ihn mit der Hand, die ihn hielt auf seinen Schoß sinken. „Immer mehr der verstreut lebenden Eldar schließen sich Eriador an. Es sieht so aus, als ob es uns gelingen sollte, die Erstgeborenen westlich des Nebelgebirges zu einen.“

 

„Was ist mit den Nandor im Osten?“, hakte Elrond wieder nach. „Wir müssen versuchen auch die Nandor Lórinands, zu einen! Nur wenn wir alle zusammenhalten, können wir dem Bösen entgegentreten. Wir müssen sie von unserer Sache überzeugen!“ Elronds Augen glühten vor Eifer.

 

Gil-galad nickte und wies auf den Brief.

 

„Celeborn und Galadriel wollen im nächsten Frühjahr Kontakt zu den Eldar im Osten aufnehmen.“

 

Elrond atmete zufrieden die angehaltene Luft aus. „Wieso erst im nächsten Frühjahr?“, warf er dann ein.

 

„Nun, im Moment können sie Eriador noch nicht verlassen. Zuviel gibt es noch zu regeln und dann können sie Lórinand über den Weg südlich um das Nebelgebirge herum nicht eher erreichen.“ Ein leises Lächeln huschte trotz aller Sorgen über Gil-galads Gesicht. „Celeborn weigert sich standhaft, den Weg durch die Minen von Hadhodrond * zu gehen.“

 

„Das ist nur zu verständlich“, murmelte Elrond abwesend. „Mich wundert es schon lange, daß er es in ihrer direkten Nähe überhaupt aushält und seine Gemahlin in ihren Bestrebungen die Zwerge mit uns zu vereinen, so sehr unterstützt, auch wenn er sich selbst von ihnen fernhält.“

 

Gil-galad war wieder an seinen Schreibtisch getreten und schien die letzte Bemerkung Elronds nicht gehört zu haben. Nachdenklich glitt sein Blick über die detaillierte Karte. Jede noch so kleine Örtlichkeit, die dort eingezeichnet war, kannte er genau, und er hätte dieser Gedächtnisstütze nicht bedurft. Langsam folgten seine Augen der Hand, die leicht über das feine Pergament strich. Östlich der Hithaeglír verweilte er.

 

„Morgoth hat diese Gebiete kaum beachtet. Er hielt sie und ihre Bewohner für zu unbedeutend, solange die alten Reiche und Bündnisse Beleriands noch bestanden, gegen die sich sein ganzer Haß richtete. Die Nandor kennen die Tücke des Feindes nicht. Sie sind wie Kinder. Leichtgläubig und vertrauensselig.“ Er hatte leise und bedauernd, ohne Groll, gesprochen.

 

Elrond schwieg lange Zeit, während Gil-galad immer wieder aufs Neue seine Notizen durchlas und immer wieder zu dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis kam.

 

Die Sonne folgte weiter ihrem Lauf und als ihre warmen Strahlen ihn im Gesicht kitzelten, blickte Elrond blinzelnd auf. Er trat zu einem der Bücherregale und schien etwas Bestimmtes zu suchen. „Morgoths Diener war einst einer der Maiar Aules, nicht wahr?“

 

Gil-galad antwortete nicht auf diese rhetorische Frage und sah nur forschend von seinen Unterlagen auf.

 

 

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*Sindarin für Khazad-dûm, später Moria genannt

Avorninnas hat mich darauf hingewiesen, daß die Aufschrift „Moria“ über dem Eingang des Westtores eigentlich nicht korrekt ist. Zu dieser Zeit hatte (wieder „eigentlich“) noch niemand einen Grund die Minen als „Schwarze Kluft“ zu bezeichnen. Die Zwerge nannten sie „Khazad-dûm“, die „Zwergengrotten“, das elbische Wort dafür ist „Hadhodrond“.

Vermutlich bekamen die Minen erst nach dem Auftauchen des Balrogs, im Jahr 1980 des Dritten Zeitalters, offiziell diesen Namen. Da muß die Inschrift aber schon lange dort angebracht gewesen sein, da Celebrimbor, der sie geschrieben hatte, schon im Jahr 1697 des Zweiten Zeitalters Sauron zum Opfer fiel.