„Ihr wart also schon einmal hier?“ fragte Taurfaron
beiläufig und nur um überhaupt etwas zu sagen, nicht in der Absicht, seinen neu
gewonnenen Freund auszuhorchen.
Hamfast nickte. „Ja. Bôr ist hier geboren.“ Er rieb
das Pony mit einer rauhen Bürste ab, was diesem sichtlich behagte. Es kratzte
den Kopf an der weißen, niedrigen Steinmauer, die seine Abteilung von der von
Taurfarons Pferd trennte und ließ ein zufriedenes Grunzen hören. Hamfast hielt
einen Moment in seiner Arbeit inne und sah den Elben mit leicht schief gelegtem
Kopf an.
„Ihr habt mich nicht ein einziges Mal gedrängt Euch
zu sagen, was mich eigentlich hierherführt“, sagte er in dankbarem Tonfall.
„Dabei ist der letztendliche Grund meiner Reise hierher so unbedeutend, daß Ihr
meine Zurückhaltung kaum begreifen werdet. Es ist nämlich so, daß ich nur mein
Pony...“
Hamfast wurde unterbrochen, als ein schwer
bewaffneter Elb hereintrat, der seiner funkelnden Rüstung und dem feinseidenen,
weiß-silbrig glänzenden Stoff nach zu urteilen, zur Palastgarde gehören mußte.
Er verneigte sich leicht vor dem kleinen Mann, dem vor Verlegenheit die Röte
ins Gesicht trat und warf einen flüchtigen und etwas abwertenden Seitenblick
auf die beiden Grauelben.
„Edler Herr Hamfast Gerstenbräu“, sagte er mit
militärischem Schneid. „Gil-galad, Hoher König der Noldor und Herr von Lindon,
wünscht Euch auf der Stelle zu sprechen.“ Er trat schwungvoll einen Schritt
beiseite, um die Türöffnung freizugeben und deutete dem verdutzten Männlein mit
einer knappen Handbewegung an, daß er vorangehen solle.
Taurfaron hob überrascht die Augenbrauen und sah zu
seinem Kameraden hinüber, den dieser Vorfall endlich aus seiner Lethargie
gerissen hatte, und der jetzt hellwach und forschend zwischen dem Noldo und
Hamfast hin und her blickte.
Gerne hätte Hamfast die beiden Elben gebeten, ihn
zu begleiten und ihm seelische Unterstützung zu bieten, doch bei einer
Aufforderung des Hohen Königs, die sich eindeutig nur auf ihn bezog, verbot
sich das von selbst. Und so tapste er mit hängenden Schultern durch das Tor und
in Richtung Palast, dicht gefolgt von dem Gardisten.
>Hoher
König... nein. Ehrwürdiger Herr König... nein, nein...<, übte er in
Gedanken.
Wie um alles in Mittelerde sprach man einen König
an? Bei seinem letzten Besuch war er nur ein stummer Beobachter gewesen. Der kleine
Mann griff mit beiden Händen nach seinem Hut, zog ihn vom Kopf und begann aufs
Neue ihn zusammenzuknüllen, den Blick energisch darauf gerichtet.
Vor den Stufen des Palastes angekommen, trat der
Elb an ihm vorbei und zwischen den beiden Ehrenwachen hindurch, denen er mit
einer zackigen Handbewegung klar machte, daß das so seine Richtigkeit hatte,
und stieß das schwere mit Eisen beschlagene Holztor auf.
Sie kamen in eine große Vorhalle, der Elb bedeutete
ihm dort zu warten und trat durch eine weitere Tür. Hamfast blieb alleine
zurück und kam sich ziemlich verloren vor.
>Mein
König... Hoher Gil-galad, König... nein, nein, nein...<, machte er einen
erneuten Versuch und schüttelte mit einem abgrundtiefen Seufzer den Kopf.
Irgendwann dachte er es wäre eine gute Idee, zumindest seinen Hut wieder
glattzustreichen und aufzusetzen, bevor er vor den König trat.
„Tretet ein!“ forderte der Gardist Hamfast auf und
schloß, nachdem dieser zögerlich hineingegangen war, die Tür von außen.
Der Kleine Mann stand nun an der Stirnseite eines
langgestreckten Saales. An beiden Seiten waren große Fenster. Neben jedem
Fenster befanden sich vielarmige Kerzenleuchter, die zu festlichen Anlässen
nach dem Untergang der Sonne den Raum erhellten. In der Mitte stand eine mächtige
Tafel, beinahe ebenso lang wie der Raum, und daran viele Stühle nebeneinander
ordentlich in Reih und Glied.
Auf einem schweren, thronartigen Sessel am anderen
Kopfende des Tisches, dort wo jetzt der einzige Kandelaber entzündet worden war
und diesen Teil des Saales in ein warmes Licht tauchte, saß Gil-galad, der sich
nicht die Zeit genommen hatte seine kostbare Robe anzulegen und noch die
bequeme, schlichte aber dennoch edle Tunika trug.
Er erhob sich und winkte Hamfast freundlich
lächelnd näherzutreten.
Bei diesem warmherzigen Empfang, verlor der Hobbit
seine Hemmungen. Er riß den Hut vom Kopf und vollführte eine weit ausholende,
eigenartige Verbeugung. „Hamfast Gerstenbräu, zu Euren Diensten!“ strahlte er
den Hohen König an.
Irgendwo hinter einem Vorhang erklang das
unterdrückte Glucksen eines Dienstboten.
Der junge, dunkelhaarige Elb, der neben dem König
stand, zog befremdet die Augenbrauen hoch. Dieser winzige Mensch, der da vor
ihnen stand, entsprach in seiner schlichten, bäuerlichen Kleidung, seinem
biederen Auftreten und seiner offensichtlichen Friedfertigkeit ganz und gar
nicht dem, was er erwartet hatte. Er beugte sich leicht zu seinem König hinüber
und sagte, leise genug, daß Hamfast ihn nicht hören konnte:
„Dies ist einer Deiner Kundschafter?“ wobei eine
besondere Betonung auf ‚dies’ lag und seine Stimme einen Klang hatte, der
irgendwo zwischen Verwunderung und Entsetzen lag.
„Willkommen in Mithlond, Herr Hamfast!“ Gil-galad
warf seinem Ratgeber einen kurzen Blick zu. „Setzt Euch hier zu uns.“ Und mit
einer vornehmen Handbewegung stellte er vor: „Elrond, Sohn Earendils, mein
Freund und Berater.“
Hamfast verneigte sich, immer noch freudig
strahlend, vor Elrond und kletterte auf den ihm zugewiesenen Stuhl.
„Ihr seid sicher hungrig und müde von der Reise.“
Gil-galad versuchte seine Ungeduld zu beherrschen. „Ich habe bereits befohlen
Euch ein Essen und eine Unterkunft zu richten.“
Bei diesen Worten erstrahlte der kleine Mann noch
mehr. Dieser König war ihm bereits jetzt äußerst sympathisch.
„Doch bis es soweit ist, bitte ich Euch, uns in
kurzen Zügen von Eurem Auftrag zu berichten. Morgen wird mehr Zeit sein,
ausführlich darüber zu sprechen.“
Da war es wieder. Das ungute Gefühl, das ihn in den
letzten Wochen und Monaten im Gedenken an diesen Augenblick stets überkommen
hatte. Hamfast drehte verlegen den Hut in seiner Hand und blickte zu Boden.
Die beiden Elben hielten die Luft an. Was auch
immer dieses Verhalten zu bedeuten hatte, es war sicher nichts Gutes.
„Nunja...“, begann Hamfast nach einer Weile. Dann
nahm er all seinen Mut zusammen und sprudelte heraus: „Nunja, ich muß gestehen,
daß ich Euch nichts über das Ergebnis des Auftrages erzählen kann, weil ich
nicht bis zum Ende mitgeritten bin. Oder vielleicht bin ich auch bis zum Ende
dabeigewesen, und dies war einfach das Ende, oder vielleicht bin ich sogar
weiter geritten als die anderen und habe nur nichts davon bemerkt, oder...“
Gil-galad winkte energisch ab. „Erzählt so, daß ich
Euch folgen kann“, sagte er mit mühsam bewahrter Gelassenheit.
Erzählen! Das war etwas anderes als ein kurzer
Bericht! Hamfast rückte sich auf dem Stuhl zurecht, überlegte eine Weile und
begann dann ihre Reise zum Grünwald zu schildern, und dies tat er so
ausführlich, daß die Geduld der beiden Zuhörer auf eine harte Probe gestellt
wurde.
Keine Einzelheit ließ der kleine Mann aus, und mehr
als einmal gelang es Elrond nur im letzten Moment ein Stöhnen oder Augenrollen
zu unterdrücken und eine vornehme Gleichgültigkeit zu bewahren.
Endlich, der Abend war inzwischen schon weit
vorgerückt, kam Hamfast an die Stelle, die für die beiden interessant war. „Wir
ritten also in den Wald und sogleich umfing uns eine Dunkelheit, die so
erdrückend war, daß einem das Atmen schwerfiel“, deklamierte er theatralisch.
„Kennt Ihr diesen Ausläufer des großen Waldes, etwa
zwei Tagesritte von hier?“ fragte er und schalt sich selbst, daß er seine
Begleiter nicht nach dem Namen gefragt hatte. „Es war eine ganz ähnliche
Finsternis, und doch, irgendwie beklemmender. Dabei hatte ich dort nicht das
Gefühl, daß die Bäume sprechen oder sich bewegen können“, überlegte er und
genoß heimlich den Blick, den die beiden Elben sich zuwarfen, und der ihm
deutlich sagte, daß sie ihm eine solche Kenntnis ihres Waldes gar nicht
zugetraut hatten.
„Nun, bin ich kein Elb, wie Ihr sicher wißt...“
Trotz seiner Unruhe mußte Elrond sich die Hand vor
den Mund halten, um wenigstens dem sichtbar bleibenden Teil seines Gesichtes
den Ausdruck der Ernsthaftigkeit zu erhalten.
„...und deshalb kann ich bei einer solchen
Finsternis auch nichts sehen. Ich mußte mich vollkommen auf die Augen der
Pferde und Elben verlassen. Ich hielt mich also tapfer auf meinem Pony fest und
versuchte das seltsame Gefühl der Gefahr, das sich in mir ausbreitete zu
ignorieren. >Das ist nur die
Dunkelheit!<, redete ich mir ein, doch je weiter wir in den Wald
hineinritten, desto müder und schläfriger wurde ich.
Oh, ich bitte Euch jetzt nicht schlecht von mir zu
denken! Es war keine normale Müdigkeit, wenn Ihr versteht, was ich meine, es
war irgendwie... hm, ja, eben unnatürlich. So sehr ich mich auch dagegen
wehrte, irgendwann bin ich eingeschlafen.“
Hamfast räusperte sich unsicher und warf einen
scheuen Blick auf den König, doch dieser sah ihn interessiert an und war
keineswegs so ungehalten, wie er befürchtet hatte, also fuhr er fort: „Als ich
aufwachte, lag ich an einem kleinen Bach am westlichen Rande eines großen,
dunklen Waldes, des Großen Grünwaldes, wenige Tagesreisen von meinem Dorf
entfernt, wie ich aber erst später erfuhr.
Mein treuer Bôr stand neben mir, stupste mich mit
der Nase und schnaubte mir ins Gesicht, als ob nichts gewesen wäre. Ich blickte
mich um und versuchte mich zu orientieren.
Es war Mittag und die Sonne schien hell und klar.
Nirgends war eine Spur meiner Begleiter zu sehen, nicht einmal von mir selber
konnte ich Spuren entdecken. Es sah gerade so aus, als ob ich und mein Pony vom
Himmel gefallen wären. Keiner von uns war verletzt und auch alle unsere
Habseligkeiten waren noch an ihrem Platz.“
Hamfast hielt einen Moment inne, dann zuckte er die
Schultern.
„Was hätte ich machen sollen? Zuerst machte ich mir
einmal etwas zu Essen, denn mein Magen knurrte ganz fürchterlich, und dann
machte ich mich auf die Suche nach dem Heimweg, da es mir unmöglich erschien,
meine Reisegefährten wiederzufinden. Da ich nun aber auch nicht wußte, wohin
ich mich wenden sollte, um in dieser fremden Gegend den richtigen Weg nachhause
zu finden, so folgte ich einfach auf gut Glück dem kleinen Bach.
Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte,
denn da Bäche ebenso wie Flüsse die Eigenart haben, immer bergab zu fließen, so
floß dieser eine Strecke weiter in den Anduin und von dort fand ich meinen
Weg.“
Wieder drehte er den Hut in seiner Hand.
„Ich weiß, daß ich Euch Euer Pony schon früher
hätte zurückbringen sollen...“ Er brach ab und blickte nervös auf.
Gil-galad und Elrond sahen nachdenklich vor sich
hin und sagten kein Wort.
Als das Schweigen länger anhielt, interpretierte
Hamfast es dahingehend, daß sie auf eine Fortsetzung warteten und führte seine
Geschichte an der Stelle weiter, an der unsere beginnt.
„Und jetzt bin ich hier!“ schloß er sehr sinnig.
Gil-galad atmete tief durch.
Elrond war schon vor einer ganzen Weile
aufgesprungen und mit unruhigen Schritten hin und her gegangen. Dahin war seine
Gelassenheit. Der Hohe König warf ihm einen tadelnden Blick zu. Dieser junge
Elb würde noch eine Menge zu lernen haben.
Dann erhob auch er sich, nickte Hamfast freundlich
zu und winkte einem der Diener, die unauffällig neben der Türe warteten, ihn in
den Speisesaal zu begleiten.
Der Hobbit hopste von seinem Stuhl und schickte
sich bereits an, ihm zu folgen, hielt aber plötzlich inne. „Verzeiht, Herr
Gil-galad“, sagte er, unwillkürlich die ihm geläufige Anrede verwendend, „aber
wie ich Euch erzählt habe, hatte ich noch zwei Gefährten auf meinem Weg
hierher...“
Gil-galad neigte bestätigend den Kopf. „Auch sie
sind eingeladen, meine Gäste zu sein. Ihr werdet sie bereits im Speisesaal
vorfinden.“
Er blickte ihm sinnend nach. Elrond trat an seine
Seite und beobachtete, wie das kleine Männlein mit flinken Schritten dem Diener
folgte. Geräuschvoll schloß sich die schwere Tür hinter ihnen. Dumpf ertönte
das Echo in dem großen Raum.
„Was ist er?“ fragte Elrond verwirrt. „Ein Mensch?“
Er sah Gil-galad zweifelnd an.
Der Hohe König überlegte einen Moment. „Ich denke
schon...“
~*~
Der große Saal, in dem sie sich eben noch befunden
hatten, schien eine Art Empfangszimmer gewesen zu sein, vermutete Hamfast, da
er sich in der unmittelbaren Nähe des Eingangs zum Palast befand. Er folgte dem
Diener durch die langen und breiten Flure. Der Hobbit hatte dies alles schon
einmal gesehen, dennoch war er noch genauso beeindruckt wie beim ersten Mal
über die wundervollen Fresken und Ornamente, mit denen die Wände und sogar die
Decken verziert waren. Er drehte bewundernd den Kopf nach allen Seiten und
achtete nicht darauf, in welche Gänge der Elb abbog, da er von seinem letzten
Aufenthalt her nur zu gut wußte, daß er sich den Weg zum Speisesaal ohnehin
nicht würde merken können.
Eine Tür ging auf und Hamfast wurde höflich gebeten
einzutreten. Der inoffizielle Speisesaal verdiente diesen Namen eigentlich
nicht. Es war ein eher kleiner Raum, der praktischerweise direkt neben der
Küche lag, und der von Gil-galad und seinen engsten Vertrauten und Freunden
außerhalb der öffentlichen Anlässe genutzt wurde. Der Tisch war reichlich, mit
allen möglichen Köstlichkeiten gedeckt.
Taurfaron und Galadhion begrüßten ihn gut gelaunt.
Sie waren längst fertig mit dem Essen und widmeten sich bereits seit geraumer
Zeit dem schweren Rotwein, was sich sehr positiv auf Galadhions lädiertes
Nervenkostüm ausgewirkt hatte. Er wirkte gelassen, hatte bequem ein Bein über
das andere geschlagen, sich zurückgelehnt und einen Arm über die Rückenlehne
gelegt.
Hamfast erklomm einen der Stühle und langte
ungeniert nach den saftigen Weintrauben. „Nun?“ fragte er kauend.
„Nun?“ lachte Taurfaron. „Das hofften wir
eigentlich von Euch zu erfahren. Kurz nachdem dieser...“, er verdrehte die
Augen, „feine Gardeoffizier Euch abgeholt hatte, erschien er wieder.“
„Freundlicher diesmal“, konkretisierte Galadhion.
„Und bat uns ihm zu folgen. Der Hohe König gäbe
sich die Ehre und ersuche uns, seine Gäste zu sein.“ Es folgte eine kurze
Pause. „Also es ist ja nicht so, daß ich neugierig wäre...“ Taurfaron blickte
betont gelangweilt zur Decke.
Hamfast hatte soeben mit einem leisen Freudejauchzer
eine ganze Schüssel Pilze entdeckt, die sich aber außerhalb seiner Reichweite
befand. Galadhion grinste boshaft und rückte sie noch ein wenig weiter von ihm
fort. Er hoffte wohl, ihn auf diese Weise erpressen zu können und endlich zu
erfahren, was hier vor sich ging. Doch ehe sie sich versahen, stand der Hobbit,
ohne die beiden verdutzt dreinblickenden Elben zu beachten, auf seinem Stuhl
und zog die Schüssel zu sich heran. Galadhion seufzte enttäuscht. Taurfaron
lehnte sich zurück und wappnete sich für eine lange Zeit des Wartens.