Es war noch früh am Morgen. Dichter Nebel stieg von
dem ziemlich stattlichen Flußlauf auf, den sie soeben an einer seichten Furt
überquert hatten und hüllte das Land vor ihnen in einen feuchten Schleier. Doch
an einigen Stellen durchströmten ihn bereits die goldenen Sonnenstrahlen und
erfüllten alles mit einem unwirklichen Licht. Die vielen Vogelstimmen, die den
kommenden Tag begrüßten, drangen wie aus einer anderen Welt an die Ohren der
Reisenden.
Es war, als ob sie in einem Traum auf Wolken
ritten. Sie tauchten in diesen Traum ein und ließen sich von ihm tragen. Die
ganze Natur schien den Atem anzuhalten, alles wirkte sonderbar gedämpft und die
feuchte Luft übertrug den Gesang der Vögel besonders klar und deutlich.
Während die Elben andächtig lauschten, strahlte
Hamfast vor Wonne. Die Pferde hoben freudig die Köpfe und traten auf dem
weichen Gras, das ihre Schritte ohnehin bereits auffing, so sachte und leise
auf, wie es ihnen nur möglich war.
Langsam nur kamen sie deshalb voran. Doch das
störte sie nicht. Allmählich lichteten sich die Nebelschleier, jetzt gewann die
Sonne die Oberhand und ihre Strahlen verscheuchten schlagartig die letzten
Dunstfäden.
Hamfast hielt abrupt sein Pony an und starrte
fasziniert auf die Landschaft, die sich vor ihnen ausdehnte. Saftige grüne
Weiden. Sanfte Hügelketten. Direkt vor ihnen murmelte ein kleiner, klarer
Quell. Laubbäume in voller Blätterpracht umrahmten und belebten das Bild, das
sich ihnen bot.
Ein leises „Oh!“ war alles, was der kleine Mann von
sich gab. Seine Augen glitten beinahe zärtlich umher. Schließlich rutschte er
gemächlich aus dem Sattel und ließ sich wortlos auf der Wiese nieder.
Vorsichtig tastend strichen seine Hände darüber. Er schien alles um sich herum
zu vergessen.
Die beiden Elben sahen sich fragend an. Dann
stiegen auch sie von ihren Pferden, gesellten sich zu ihm und warteten geduldig
darauf, daß er aus seinem geistesabwesenden Zustand erwachte.
Die Tiere trabten zum Wasser, tranken und zupften
genüßlich an dem frischen Grün. Eine lange Zeit verging, in der weder die Elben
noch der Hobbit etwas sagten. Bis dieser endlich mit einer ehrfürchtig
gesenkten Stimme, ohne seinen Blick von der Landschaft ab und den Gefährten
zuzuwenden sagte:
„Wenn mein Volk wüßte, wie schön es hier ist,
würden sie scharenweise herkommen und hier neue Siedlungen gründen!“ Plötzlich
sprang er auf und jauchzte übermütig: „Laßt uns weiterreiten! Ich möchte mehr
von diesem herrlichen Land sehen!“
Die Elben schmunzelten und folgten dem kleinen
Mann, der zu seinem Pony gestürmt war und bereits wieder aufsaß.
Je weiter sie in das Land hineinkamen und je weiter
der Tag fortschritt, desto begeistertere Reden mußten die beiden Erstgeborenen
über sich ergehen lassen. Hamfast entdeckte immer wieder neue Schönheiten. Eine
Wiese, die mit kleinen, goldgelben Blumen übersät war; einen alten, knorrigen
Baum, in dessen hohlem Stamm eine Eule nistete, die bei dem fröhlichen Ausruf
des kleinen Männleins verschlafen diese seltsame Reisegruppe anblinzelte; einen
klaren, seerosenbestandenen Weiher.
„Oh, wenn ich daran denke, daß ich all diese
Schönheiten bereits im letzten Frühjahr hätte sehen können! Aber da bin ich
weiter nördlich an jenen Menschensiedlungen am See entlanggereist, den Ihr
gestern erwähntet.“
Die Elben hatten den ganzen Tag noch kein Wort
gesprochen. Jetzt beugte Galadhion sich ein wenig zu seinem Freund hinüber und
sagte amüsiert und in der elbischen Sprache: „Er scheint vor lauter
Begeisterung sogar das Mittagessen vergessen zu haben.“
Doch da sollte er sich gewaltig täuschen. Als ob er
nur auf dieses Stichwort gewartet hätte, deutete Hamfast nach rechts, wo eine
kurze Strecke weiter eine Silberweide an einem klaren Bach stand, die ihre
Wurzeln an der Uferböschung entlang und ihre Äste wie ein schützendes Dach
teils über den Wasserlauf, teils über die mit Moos bestandene Mulde zu ihren
Füßen ausstreckte.
„Das ist ein sehr geeigneter Platz für die
Mittagsrast“, rief er aus.
Taurfaron verdrehte die Augen. „Bist du sicher, daß
er unsere Sprache nicht versteht?“
Galadhion zuckte resignierend die Schultern und
grinste dann breit, als er sah, wie Hamfast sein Pony zu einer schnelleren
Gangart antrieb und mit einem weiteren begeisterten „Oh!“ in Richtung der
besagten Weide trabte.
Die Elben drehten gleichzeitig die Köpfe
zueinander, sahen sich eine Weile belustigt in die Augen. „Was sagtest du, wie
lange wir noch durch diese Landschaft reiten müssen, bevor wir Mithlond
erreichen?“ stöhnte Taurfaron gequält und erwiderte das breite Grinsen seines
Freundes.
Galadhion blickte in die Ferne und wurde mit einem
Mal ernst und still. Schweigend trieb er sein Pferd wieder an, sprang, bei der
Silberweide angekommen, von dessen Rücken und trat ans Ufer.
Taurfaron war ihm zögernd gefolgt. Jetzt trat er zu
Hamfast, der bereits wieder eifrig mit seinem Kochgeschirr herumhantierte und
half ihm, etwas dürres Geäst zusammenzusuchen und ein Feuer anzuzünden. Immer
wieder glitt sein Blick dabei zu seinem Freund hinüber, der unbeweglich dastand
und einen Punkt im Westen fixierte.
Als eine Flamme aufloderte und knisternd von dem
kleinen Holzstapel Besitz ergriff, stand der Elb auf und trat beiseite. Hamfast
hatte es nicht gern, wenn man ihn beim Kochen störte oder ihm dabei im Weg
stand, das hatte er bereits erfahren. Schmunzelnd sah er ihm noch eine zeitlang
zu, dann gesellte er sich schweigend zu seinem Freund. Sein Blick folgte dem
Galadhions. Dort, etwa zwei Tagesritte entfernt, lag Mithlond.
~*~
Es war kurz vor Sonnenuntergang, als sie auf einer
kleinen Anhöhe anhielten. Im Tal blickten sie auf die hohen, schlanken Türme
Mithlonds, der Grauen Anfurten, die zwischen den Ered Lhûn am gleichnamigen
Golf lagen. Dahinter konnten sie die ferne See erkennen, rötlich schimmernd,
als Anor weit im Westen in sie eintauchte. Nicht lange verweilten sie, dann
ritten sie hinunter in die Stadt.
Kaum hatten sie deren Tore passiert, so wurden sie
von neugierigen Blicken erfaßt. Dabei waren es weniger die beiden Elben, die so
sehr die Aufmerksamkeit der Bewohner erregten, wie man sich wohl denken kann.
Doch Hamfast kümmerte es nicht, daß er plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen
Beachtung stand. Er war bereits einmal in dieser Stadt gewesen, was ihn jedoch
nicht davon abhielt, ihre Schönheit zu bewundern. Hell klapperte das weiße
Pflaster unter den Hufen der Pferde, als sie langsam die Straße entlangritten,
vorbei an blühenden Gärten, wundervoll angelegten Springbrunnen und gewaltigen,
künstlerisch gestalteten Bauwerken.
„Und was habt Ihr jetzt vor, Herr Hamfast?“ fragte
Taurfaron, während er grinsend seinen nervösen Freund im Augenwinkel
betrachtete.
Hamfast kratzte sich so energisch hinter dem Ohr,
daß sein Hut vorne herunterrutschte und er ihn gerade noch im letzten Moment
mit beiden Händen fassen konnte, bevor er zu Boden fiel. Unschlüssig knautschte
er seine arme Kopfbedeckung, bis sie völlig ruiniert zu sein schien. Doch als
er sie dann wieder zurechtstrich und dorthin zurückstülpte, wo sie hingehörte,
konnten seine Begleiter kaum einen Unterschied an ihr erkennen. Genau genommen
sah der Hut jetzt ebenso zerknittert aus wie vorher. Er war diese Behandlung
scheinbar gewöhnt.
„Nun, hm...“, war alles, was Hamfast zu Taurfarons
Frage bemerkte. Wie hatte er sich das eigentlich gedacht? Er konnte schließlich
nicht einfach vor den Hohen König treten und sagen: >Hier bringe ich Euer Pony zurück!<
Während sein Herr noch mit sich zu Rate ging,
trottete Bôr ganz selbstverständlich zu den ihm wohlbekannten Stallungen. Die
Elben folgten ihm. Der eine schmunzelnd, der andere sichtlich ungeduldig und
mit unruhig durch die Gegend schweifenden Augen.
Als sie vor dem Stall hielten – ein prachtvolles
Gebäude aus weißem Stein, das man andernorts für die Wohnung der Obersten der
Stadt hätte halten können – trat ein blonder Elb dienstfertig heraus und blieb
überrascht stehen.
„Bôr!“ Freudig ging er auf das Pony zu und
tätschelte ihm den Hals. Bôr ließ ein wohliges Schnauben hören. Auch er hatte
den Elben erkannt. „Alter Junge! Schön dich wiederzusehen!“ Dann erst wandte er
sich mit einem entschuldigenden Lächeln an den Reiter, der inzwischen
abgestiegen war.
„Verzeiht, das war nicht besonders höflich von mir.
Willkommen in Mithlond, Herr...“
„Hamfast Gerstenbräu, zu Euren Diensten, werter
Herr Elb“, sagte der kleine Mann, bevor der Elb zuende sprechen konnte, und schwenkte
seinen großen Hut durch die Luft.
Der Elb nickte ernst und deutete eine Verbeugung
an. „Ja, ich kenne Euren Namen. – Mae govannen!“ wandte er sich nun an die
beiden Elben. „Wollt Ihr Eure Tiere bei mir unterstellen? Ich werde gut für sie
sorgen.“
Taurfaron nickte. Galadhion schien mit seinen
Gedanken völlig wo anders zu sein und erhielt von seinem Begleiter einen
freundschaftlichen Stoß in die Rippen, der ihn für einen Moment zurück in die
Gegenwart rief. „Wir danken Euch. Wir sind es gewohnt, unsere Tiere selbst zu
versorgen. Wenn Ihr uns nur einen Platz zuweisen wolltet?“
Der blonde Elb nickte und winkte ihnen ihm zu
folgen. Im Stall führte er jeden der Drei in eine mit duftendem, sauberen Stroh
ausgelegte Abteilung und zeigte ihnen, wo sie alles finden konnten. Dann trat
er mit einem Eimer in der Hand hinaus, um frisches Wasser für die Tiere zu
holen und hielt einen jungen Burschen, der gerade vorbeistürmen wollte, an
seiner Tunika fest.
„Lauf sofort zum Hohen Herrn! Sag ihm: Einer der
Fremden, die im letzten Frühjahr hier waren, ist zurückgekehrt. Beeil dich!“
raunte er ihm zu.
Der Junge nickte etwas verstört, war aber im
nächsten Augenblick in Richtung Palast verschwunden. Zufrieden trat der blonde
Elb zum Brunnen und ließ den Eimer mit der Seilwinde hinab.
~*~
Gil-galad hatte sich mit einem Buch in der Hand vor
dem Kamin in der großen Halle niedergelassen und versuchte für einen Moment
seinen trüben Gedanken zu entfliehen. Die Dienstboten waren angewiesen, sich in
den Fluren vor seinen Gemächern still zu verhalten und ihn nur in äußerst
dringenden Angelegenheiten zu stören.
Es wurde düster im Raum. Die Sonne war
untergegangen und kein Feuer brannte. Gil-galad stand auf und zündete eine
Kerze an. Verträumt betrachtete er die kleine Flamme, dann wandte er sich
wieder seinem Sessel und dem Buch zu.
Im Gang wurden Stimmen laut und gleich darauf
klopfte es an der Tür.
Er seufzte. Konnte man ihm nicht ein wenig Ruhe
gönnen? Einen Moment lang war er verleitet, so zu tun, als sei er gar nicht da.
Dann gab er sich einen Ruck und klappte geräuschvoll das Buch zusammen. Es gab
Dinge, denen mußte man sich stellen, ob es nun notwendige Höflichkeitsbesuche
oder unzeitige Bittsteller waren.
„Minno!“