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Ein paar Tage später saß ich mit Bilbo an einer kleinen Tischgruppe in der wundervollen Parkanlage Bruchtals. Die Sonne schien warm auf uns herab und in den Bäumen zwitscherten die Vögel um die Wette als ginge es darum, mit ihrem Lied den Winter noch rascher zu verscheuchen.

 

Mit meiner Ankunft in Bruchtal hatte es einen markanten Wetterumschwung gegeben. Eben noch war der Erdboden bei klirrenden Temperaturen hart gefroren und der Geruch von Schnee und Kälte lag in der Luft. Doch hier herrschte der reinste Bilderbuchlenz. Erst hatte ich daran gedacht dies könne an der berühmten Aura Bruchtals liegen, doch dann war mir eingefallen, daß Vilya nicht länger der Grund dafür sein konnte, denn die Elbenringe hatten mit der Vernichtung des Einen ihre Macht verloren.

 

Wohlig räkelte ich mich. Es war mir lieb, daß der Frühling Einzug hielt. So brauchte ich zum Beispiel nicht nach dickerer Kleidung zu fragen, von der keine in meinem Wunderschrank hing. Überhaupt war das Klima äußerst angenehm. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Von mir aus konnte es das ganze Jahr über so bleiben.

 

Bilbo hatte wie jeden Nachmittag ein paar Leckereien für uns zusammengemopst. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß das Küchenpersonal ihm die feinen Sachen bereitstellte und absichtlich wegsah, wenn er hereinschlich. Der kleine Mann konnte sich ebenso lautlos bewegen wie die Elben, hatte ich festgestellt und er besaß ein wirkliches Talent darin, den Blicken anderer zu entgehen, wenn er nicht gesehen werden wollte. Aber das Geschirr und Besteck mit dem er stets zu entkommen suchte, klirrte selbst bei der vorsichtigsten Bewegung und der geringsten Erschütterung ganz leise. Wenn selbst ich den hellen Klang vernahm, wenn ich nur angestrengt genug hinhörte, um wieviel mehr mußten ihn dann die feinen Ohren der Elben erlauschen!

 

Zu meiner Freude hatte der kleine Mann es sich zur Aufgabe gemacht, mich in die Tiefen der elbischen Sprache einzuweihen und da ich sonst nichts zu tun hatte und fleißig lernte, machte ich erstaunlich schnell Fortschritte.

 

Ich hatte um ein paar Bögen Pergament und Schreibzubehör gebeten und notierte mir die neuen Vokabeln und die grammatikalischen Strukturen, die ich zu erkennen glaubte. Dabei hatte unsere lateinische Schrift großes Interesse bei Bilbo gefunden und ich vergalt ihm seine Freundlichkeit indem ich meinerseits versuchte, ihm diese beizubringen.

 

Mittlerweile beherrschte ich einen ziemlichen Wortschatz rund um das Thema Essen und Trinken und konnte mich problemlos nach dem Weg zum Speisesaal oder dem nächsten Imbiß erkundigen.

 

Wenn ich in meinen Notizen stöberte und die zurechtgeschnittenen Papierstückchen mit den Vokabeln paukte, schrieb Bilbo eifrig in einem mächtigen, mit rotem Schutzleder eingebunden Buch. Er hatte mir nach einigem Zögern erlaubt, einen Blick hineinzuwerfen, doch konnte ich nicht wirklich viel damit anfangen. Zwar waren mir die meisten Tengwar vertraut, doch die Worte völlig fremd. Ich hätte ihn bitten können, sie mich zu lehren, doch mein minderbemittelter Verstand war mit einer Fremdsprache erst einmal völlig ausgelastet.

 

Ich liebte diese gemeinsamen Stunden, die wir an immer neuen Plätzen verbrachten. Bilbo war wirklich ein liebenswertes Männchen und wir hatten eine Menge Spaß bei unseren Studien. Das war etwas ganz anderes als die langweilige Paukerei in der Schule, und ich genoß diese Zeit.

 

Gerade schob ich den Pergamentbogen mit den unterschiedlichen Personenendungen für Verben beiseite und lehnte mich zurück. Genug für heute. Mir qualmte bereits sprichwörtlich der Kopf. In etwa einer Stunde war die Zeit fürs Abendessen. Man gewöhnte sich daran den Tag nur noch nach Morgen, Mittag, Abend und Essenszeiten einzuteilen. Bis zur elbischen Zeitrechnung war ich in meiner Lernerei noch nicht vorgedrungen.

 

Ich nahm eine süße, rote Kirsche aus dem Schälchen und betrachtete sie nachdenklich, bevor ich sie zwischen die Zähne schob. Woher bezogen die Elben nur in dieser Jahreszeit Früchte, die eigentlich erst später reiften? Ob es hier eine Art Importhandel mit südlichen Ländern gab? Ich öffnete bereits den Mund, um Bilbo danach zu fragen, schloß ihn aber sogleich wieder. Er schien gerade so inspiriert und ich hatte selbst genug Geschichten geschrieben um zu wissen, daß es für einen eben aufflackernden Einfall tödlich sein kann, wenn man dabei unterbrochen wird. Also begnügte ich mich damit, mir das Obst schmecken zu lassen und verschob meine Frage auf später.

 

Träumend beobachtete ich eine Libelle, die wie ein Miniaturhubschrauber mit leichtem Gebrumm über die Wasseroberfläche des nahen Teiches schwirrte. Ihre Flügel schimmerten bunt in dem sanften Sonnenlicht. Regenbogen-Libelle hieß diese besondere Art, hatte Lindor mir erklärt.

 

Ich grinste. Lindor... Er hatte mir meine rauhe Behandlung gnädigerweise vergeben, mir jedoch unmißverständlich klar gemacht, daß ich das nächste Mal selbst zusehen konnte, wie ich auf mein Zimmer kam. Seither wachte er wie ein Luchs darüber, daß ich meinen Alkoholkonsum auf zwei Becher Wein pro Abend reduzierte. Ob er befürchtete, daß er es sonst doch nicht übers Herz brächte, mich hilflos mir selbst zu überlassen? Ich schnaufte belustigt aus. Da kam man sich ja wie ein Gewohnheitssäufer vor. Nun, so tief war ich, Eru sei Dank, dann doch noch nicht gesunken.

 

Ein Buchfink stimmte direkt über meinem Kopf ein so lautes, schrilles Lied an, daß ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen wurde.

 

„Na du? Hast es wohl auf die Kirschen abgesehen?“ Ich warf ihm großzügig eine Frucht zu und staunte nicht schlecht, als der Piepmatz sie aus der Luft heraus auffing. Er tschilpte dankbar – natürlich nachdem er sie aufgefuttert hatte - und flog davon. Ich rieb mir die Augen. Waren hier denn selbst die Vögel elbisch?

„Bilbo, hast du das gesehen?“

 

Nein, dumme Frage. Er reagierte nicht einmal auf meine Worte so konzentriert bearbeitete er die Seite mit der Feder. Dabei hatte er die Zungenspitze im Eifer seitlich ein Stück zwischen den Lippen durchgeschoben und selbst seinen Tee kalt werden lassen.

 

„Unser Herr Bilbo hört und sieht selten etwas, wenn ihn die Muse küßt.“

 

Ich fuhr herum. Natürlich hatte ich den Satz nicht vollständig verstanden, aber die Worte waren deutlich genug gesprochen worden, daß ich mir die fehlenden Vokabeln ergänzen konnte. Nun gut, es war äußerst fraglich, ob es in Mittelerde Musen gab, aber mir fiel auf die Schnelle keine andere Übersetzung ein.

 

Von den melodischen Vogelstimmen und unbedeutenden Geräuschen der Natur abgesehen war es absolut still um uns herum. Niemand außer einem Elben vermochte es, sich so leise heranzuschleichen, daß ich ihn nicht gehört hätte. Na gut, ein Hobbit vielleicht. Um so erstaunter war ich, als ich einen Menschen erblickte.

 

Ein feines Lächeln spielte um seine Züge und das häusliche Gewand paßte irgendwie nicht so recht zu seiner wettergegerbten Haut. Er mochte etwa gegen Ende Dreißig sein, groß und schlank, beinahe hager. Kummer oder Entbehrungen hatten ihre charakteristischen Zeichen seinem Gesicht eingeprägt, ohne es dabei nachteilig zu entstellen. Im Gegenteil verliehen sie seiner Ausdruckskraft dadurch ein Gewisses Maß an Weisheit und Stärke. Das dunkle Haar fiel ihm leicht gewellt bis auf die Schultern herab und auch die frische Rasur war nicht seine übliche Gesichtstracht, wie die geringfügig hellere Haut an dieser Stelle verriet.

 

Neugierig betrachtete ich ihn, als er leise näher trat. Ein katzenartiger, lautloser Schritt. Er begrüßte mich mit einem stummen Nicken und räusperte sich nachhaltig in Richtung meines arbeitsamen Gefährten.

 

„Grüße von Gandalf. Er läßt dir ausrichten du sollst die Nase nicht zu tief ins Tintenfaß stecken.“

 

„Gandalf?“ Bilbo fuhr kerzengerade in die Höhe. „Dúnadan!“ Er strahlte vor Glück und steckte die Feder beiseite. „Du kommst gerade recht. Ich habe das Gedicht beinahe fertig, aber es fehlt noch die letzte Korrektur.“

 

Während die beiden ungleichen Männer sich freundschaftlich umarmten, kam ich mir vor als säße ich im falschen Film. Gandalf? Was um alles in Mittelerde machte der denn ebendort? War er etwa mit Elrond zusammen zurückgekommen? Wieso? Ich dachte, seine Aufgabe hier war erledigt!

 

„Elanor, das ist mein Freund der Dúnadan!“ quakte Bilbo und ich nahm automatisch die mir dargebotene Hand. Ein Waldläufer also. Das paßte zu seinem Erscheinungsbild. Schon seltsam, daß dieser Bilbo sich der selben Anrede für einen der Westmenschen bediente, wie sein Namensvetter vor... ja, wie lange war das jetzt eigentlich her? Ich hatte keine Ahnung, in welcher Zeit wir uns befanden. Viertes Zeitalter? Oder bereits Fünftes?

 

Ich lächelte geistesabwesend. Was machte das schon für einen Unterschied. Wenn ein uhrenabhängiger Eigenbrödler wie ich lernte, ohne die minutengenaue Zeit auszukommen, dann kam es ja wohl auf ein paar Jahrhunderte oder –tausende nicht an. Oder? Na also.

 

Jedenfalls stopfte ich mir jetzt erstmal ein Pfeifchen, wobei ich geflissentlich Dúnadans verwirrten Blick ignorierte. Jaja, ich weiß. Das tun Damen in Mittelerde nicht. Das hatte Radagast mir gesagt. Mich kümmerte es wenig. Als es mir nach einigen vergeblichen Versuchen gelungen war, mit dieser mittelalterlichen Zunderbüchse den Tabak anzuzünden, warf ich Bilbo einen triumphierenden Blick zu, den der Hobbit mit einem lehrmeisterlich-gütigen Nicken quittierte. Immerhin war dies das erste Mal, daß ich mir dabei nicht den Daumen verstaucht oder einen Fingernagel abgebrochen hatte!

 

Bilbo holte nun ein Stück Pergament hervor und begann Dúnadan sein Gedicht vorzutragen, von dem ich nicht allzuviel verstand. Meine Aufmerksamkeit richtete sich von den beiden weg den Schönheiten der Natur und der Gartengestaltung zu. Darüber verging die Zeit und mit einem Anflug von Stolz gelang es mir dieses eine Mal, noch vor dem – allerdings abgelenkten Hobbit – auf das bevorstehende Abendessen aufmerksam zu machen.

 

Ich schob meine Lernutensilien zusammen und packte sie mit auf das Tablett, damit ich beides zusammen tragen konnte. Die Überreste unserer täglichen Gelange abzuräumen und zurückzubringen war nämlich der undankbare Part unserer Symbiose, der mir zugefallen war.

 

Zunächst hatte ich noch versucht, das leergeputzte Geschirr heimlich an den Küchenelben vorbei zu schmuggeln, doch ich hatte recht bald gelernt, daß ich ebenso gut wie ein ausgewachsener Olifant trampeln konnte. Nicht, daß ich das tat, aber es hätte den selben Effekt gehabt. Diesen Ohren entging einfach gar nichts. Ich preßte die Lippen resignierend aufeinander und zuckte die Schultern, wodurch ich zwei fragende Augenpaare auf mich lenkte.

 

Uups. Jetzt begann ich schon wieder Selbstgespräche zu führen, wenn auch nur auf unterster Stufe.

 

Wie immer, wenn ich dabei erwischt wurde, erwiderte ich die forschenden Blicke mit einer Mimik, die soviel heißen sollte wie: Hä? Habt ihr was gesagt? Von sich selbst auf andere ablenken nennt man das wohl. Üblicherweise entging ich damit unangenehmem Bohren. Man hatte sich verhört oder versehen und die Sache war erledigt. Bilbo ging auch nicht weiter darauf ein. Nur Dúnadan lächelte geheimnisvoll. Konnte der Mensch Gedanken lesen?

 

An der Abzweigung zur Küche trennten wir uns. Bilbo mit Dúnadan in die eine und ich mit den Beuteresten in die andere Richtung. In der Küche herrschte reges Treiben. Die letzten Obstschalen und Weinkrüge wurden durch die hintere Tür in den praktischerweise gleich nebenan liegenden Speisesaal getragen. Nein, halt, das stimmt nicht ganz. Dazwischen befand sich noch ein kurzer Gang, der als Luftabzug diente, damit nicht die ganzen Kochdünste in den Saal drangen, sobald jemand die Tür öffnete. Ich war noch nicht dazu gekommen, mir die Vorrichtung genauer anzusehen, da meine Besuche in diesem Teil Bruchtals bisher eher heimlicher Natur gewesen waren.

 

Im hinteren Bereich lag die Backstube, aus der all die vorzüglichen Plätzchen und Kuchen kamen, an denen Bilbo und ich uns so freizügig bedienten. Sechs Elbinnen und zwei Elben kneteten dort den Teig, legten ihn in Laiben auf Bleche oder formten daraus Plätzchen und Kuchenböden. Ich schnupperte schwärmerisch den Duft der frischen Backwaren, die bereits fertig zum Abkühlen auslagen oder noch im Ofen steckten.

 

Am gegenüberliegenden Ende, einem abgetrennten Bereich, hatten die zurückgekehrten Jäger ihre Tagesbeute auf einem massiven Steintisch abgelegt und wieder andere Helfer hatten bereits begonnen, die Tiere zu häuten und auszunehmen. Ich wandte mich unauffällig ab. Seit ich hier war machte ich mir Gedanken darüber, wie ich mich nützlich machen konnte. Eins stand fest: Dabei nicht! Ich konnte weder ein Lebewesen töten, noch ihm das Fell abziehen. Mir wurde schon bei der bloßen Vorstellung schwindlig. Ich schluckte energisch, um den unangenehmen Geschmack zu vertreiben, der meine Kehle hinaufkroch.

 

An dem eleganten Schreibtisch im Eingangsbereich - der Kommandozentrale, wie ich ihn bei mir nannte - stand der Küchenchef und beriet mit seinen ersten Offizieren soeben das Menu für den kommenden Tag. Es war mir lieb, daß die Elben die selbe Ordnung einhielten, die ich von zuhause aus gewöhnt war, nämlich mittags warmes Essen und nicht etwa morgens oder abends.

 

Ich grüßte freundlich, als ich mit meinem Tablett hereintrat und der Chef unterbrach für eine Sekunde seine Ausführungen, um mir verschwörerisch zuzuzwinkern. Also doch! Ich hatte gewußt, daß das ein abgekartetes Spiel war! Ich grinste und stellte meine Sachen an dem dafür vorgesehenen Platz gleich neben der Spülvorrichtung ab. Wie immer standen hier bereits einige andere Teller und Tassen, die mir bewiesen, daß auch Elben zwischen den Mahlzeiten gerne ein wenig naschten. Und wozu hätte es sonst auch all des feinen Gebäcks bedurft! Ich sortierte Geschirr und Besteck dazu und schob das Tablett auf den Stapel. Dann drehte ich mich um und verließ zügig die Küche, weil ich sonst doch nur im Weg gestanden hätte.

 

Apropos Weg. Es war erstaunlich leicht, den Speisesaal zu finden, wenn man dabei den direkten solchen nahm und sich nicht unsinnigerweise auf bedeutungslosen Nebengängen verlief. Außerdem hatte sich herausgestellt, daß Bilbos Zimmer nur eine Treppe und zwei Flure von meinem entfernt lag. Wie ich so lange hatte brauchen können, bevor ich an jenem ersten Tag in Bruchtal auf ihn getroffen war, war mir heute schleierhaft. Ich mußte mehrmals im Kreis herumgelaufen sein und selbst dann war es beinahe unmöglich, so lange keiner Seele zu begegnen.

 

Im Schlendergang bog ich in den Gang ein und an der nächsten Verzweigung gleich wieder links. Leises Stimmengewirr umgab mich und automatisch schaltete ich meine Wahrnehmung auf Sparflamme zurück. Es fiel mir immer schwer, mich in Gegenwart so vieler Leute zu konzentrieren, selbst wenn es Elben waren. Wie in einem Traum liefen sie neben mir her und an mir vorbei, unwirklich, wie lichte Schatten. Ich nahm sie nicht bewußt wahr, nur daß sie da waren. Bisher hatte ich wenige von ihnen persönlich kennengelernt. Aber selbst wenn jetzt ein bekanntes Gesicht zwischen all den Gestalten aufgetaucht wäre, hätte ich es nicht erkannt, denn ich war mit meinen Gedanken irgendwo in weiter Ferne.

 

So kam es, daß ich die kleine Gruppe am Kopfende der beiden langen Reihen nicht bemerkte, aus deren Mitte ein enthusiastischer Hobbit mir vergeblich signalisierte. Zielstrebig steuerte ich auf meinen Platz an der Tafel zu. Derselbe, an dem ich stets gesessen, seitdem Bilbo ihn für mich geräumt hatte. Erst als ich dort ankam und das Fehlen des Hobbits bemerkte, blickte ich mich um. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken, was mich nicht wunderte. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, die Welt nur noch verschleiert zu sehen und mein Blickfeld auf einen Radius von fünf Metern zu beschränken.

 

Nun, weit konnte er nicht sein. Immerhin lag seine letzte vollständige Mahlzeit bereits zwei Stunden in der Vergangenheit. Er würde schon auftauchen, sagte ich mir, zog den Stuhl zurück zögerte aber, mich hinzusetzen. Galion fehlte ebenfalls auf dem Platz zu meiner rechten Seite und überhaupt ballte es sich ein wenig am anderen Ende des Saales. Erst ganz allmählich verteilten sich alle auf übliche Weise. Galion erschien neben mir und grüßte nachlässig.

 

„Wo ist Bilbo?“ Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich machte mir langsam Sorgen um ihn. Dabei war er sicher mit seinem Freund anderen Freunden begegnet und nun standen sie irgendwo herum und unterhielten sich angeregt. Natürlich. Deshalb auch die Verzögerung. Dúnadan schien hier eine Menge Leute zu kennen. Aber es machte mich ganz gribbelig, daß ich sie nirgendwo erkennen konnte, und ich hatte keine Lust, suchenderweise durch den ganzen Saal zu tigern.

 

Galion deutete mit der Hand in die Richtung, aus der er soeben gekommen war. Das wenigstens war unmißverständlich. Doch was meinte er mit >Er hat Hoffnung<? Ich zog die Augenbrauen angestrengt zusammen und überflog im Geiste meine ungenauen Notizen. Es gab in diesem Satz eine grammatikalische Konstruktion, die ich noch nicht kannte. Nun, es wäre auch sehr verwunderlich gewesen, wenn ich innerhalb dieser kurzen Zeit die komplette grauelbische Sprache beherrscht hätte, nicht wahr?

 

Also dachte ich mir nichts dabei und ließ mich mit einem unzufriedenen Seufzen auf meinen Stuhl sinken. Ohne die Gesellschaft des freundlichen kleinen Mannes schmeckte das Essen irgendwie fade. Die Elben zu meinen Seiten beachteten mich wie üblich kaum und so saß ich ein wenig verloren und ziemlich gelangweilt herum, bis die ersten sich erhoben und nach draußen strebten.

 

Bilbo war noch immer nicht aufgetaucht und überflüssigerweise meldete sich nun mein gekränktes Selbstwertgefühl. Ich zog ein Gesicht, als hätte jemand meinen Lembas-Keks geklaut - einen besonders leckeren mit Schokostreuseln - und klemmte die geballten Fäuste unter meine Achseln.

 

Alle ließen sie mich im Stich! Ich war nun schon fast drei Wochen hier in Bruchtal und weder war Radagast zurückgekehrt, noch hatte mein werter Herr „Du-wurdest-mir-vor-dreitausend-Jahren-versprochen“ es für nötig befunden, sich zu melden. Was dachte der sich eigentlich dabei? Daß ich ebenfalls dreitausend Jahre auf ihn warten wollte? War das seine Rache? Konnte ich vielleicht dafür, daß an der Zahl meines Lebensalters hinten zwei Nullen fehlten? Und jetzt war Bilbo auch noch verschwunden!

 

Oh, allmählich kam ich richtig in Fahrt! Ich fing an, das edle Messer mit der verschlungenen Blütengravur auf die Tischplatte zu hämmern und es interessierte mich nicht die Bohne, was mein Umfeld darüber dachte. Ich fühlte mich zurückgesetzt und allein gelassen. Ich hätte vielleicht noch damit leben können, daß sich niemand um mich kümmerte, behauptete der Gesprächspartner in meinem Kopf, aber nicht zu wissen, was nun weiter geschehen sollte, war für mich einfach unerträglich. Und niemand da, der Auskunft geben konnte oder wollte!

 

Als Galion sich vorwurfsvoll räusperte, merkte ich auf. Mein Verstand schaltete sich wieder ein und ich erkannte, wie unrecht ich allen getan hatte. Naja, mit Ausnahme von Radagast und Galvorn! Immerhin hatte man mich hier aufgenommen, mir ein Zimmer und Kleidung gegeben und mich ohne jede Gegenleistung durchgefuttert. Darüber hinaus waren alle zumindest distanziert freundlich zu mir. Ich hatte wirklich keinen Grund mich zu beklagen.

 

Beschämt tastete ich mit den Augen meine Umgebung ab und war mir sicher, daß mehr als ein bedauernder Blick, wie man ihn etwa für einen Geisteskranken erübrigte, auf mich gerichtet war. Ich lächelte schmal und legte möglichst unauffällig mein Messer ab.

 

Langsam leerten sich die Bänke und ich war unentschlossen, was ich nun tun sollte. Wie jeden Abend in die Kaminhalle gehen, mit Lindor und seinen Kameraden plaudern und scherzen und den Vorträgen lauschen? Irgendwie war mir nicht danach.

 

Zögernd schlängelte ich mich auf die Tür zu, vorbei an den schlanken Gestalten, die mir entgegen kamen, weil sie den hinteren Ausgang zur Halle nahmen. Wieder versagten meine Augen im Dämmerlicht. Wieder blendete ich meine Aufmerksamkeit ab und Tagträumereien ein. Äußerst unvorteilhaft, wenn man dabei darauf achten soll, niemanden anzurempeln. So gewahrte ich auch im letzten Moment die kleine Gestalt und streckte reflexartig beide Hände zu ihrer Rettung aus. Glücklicherweise war Bilbo geistesgegenwärtiger als ich und wich mit einer geschickten Bewegung aus. Ich war mir nicht sicher, ob ich den kleinen, aber recht korpulenten Hobbit hätte auffangen können.

 

Er lachte mich unternehmungslustig an und ich spürte, wie sämtliche Depressionen von mir abfielen. Ich hatte ihn ehrlich vermißt!

 

„Wo warst du?“ Es gelang mit nicht völlig, den Vorwurf in der Klangfarbe meiner Stimme zu unterdrücken. Doch Bilbo ließ sich davon nicht beirren. Strahlend erzählte er mir, daß er Hoffnung hege heute sein Gedicht vorzutragen. Derweil musterte ich mit zusammengekniffenen Augen seine Begleiter.

 

Hinter ihm standen Dúnadan und die Zwillinge. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Ich hatte mich seit meiner Ankunft auf Distanz gehalten und gehofft, daß sie das ungeschickte Menschenkind längst vergessen hatten. Ihr unverschämtes Grinsen erinnerte mich daran, daß >Vergessen< zu den wenigen Fähigkeiten gehört, die Elben nicht beherrschen.

 

Bilbo ergriff meine Hand und lenkte mich herum. Damit war die Entscheidung wie ich den Abend verbringen würde getroffen. Obwohl ich darüber eigentlich recht zufrieden war, fühlte ich mich doch unbehaglich mit den Elrondsöhnen in meinem Rücken. Die folgten uns nämlich in kurzem Abstand mit Dúnadan in ihrer Mitte.

 

Unverschämt und neugierig wie ich war, versuchte ich, ihr Gespräch zu belauschen. Ich weiß, daß sich das nicht gehört, aber hier glaubte ich eine Ausnahme machen zu dürfen. Schließlich war ich selbst das Objekt ihrer Spötteleien, wenn ich mich nicht täuschte. Leider drangen nur wenige verständliche Gesprächsfetzen bis an meine Ohren. Außerdem war mir nicht ganz einleuchtend, wieso sie immer wieder von Hoffnung sprachen. Was hatte die denn mit meiner Flapsigkeit zu tun? Hofften sie auf meine baldige Besserung? Na, danke auch!

 

Wir hatten das erste Drittel der Kaminhalle durchquert, als ich plötzlich wie vom Donner gerührt stehen blieb.

 

Hoffnung! Natürlich! Das war es! Auch wenn es das eigentlich gar nicht sein konnte. Theoretisch zumindest...

 

Ich trat ganz vorsichtig von meiner elendiglich langen Leitung herunter, so als hätte ich Angst, sie für alle Zeiten zu zerreißen und damit den besten meiner Entschuldigungsgründe zu verlieren. Mit offenem Mund bestaunte ich sodann den mehrstufigen Kronleuchter, der über meinem Kopf aufging.

 

Hoffnung! - Estel!

Niemand hatte oder hegte Hoffnung. Dúnadan war die Hoffnung. Nämlich Estel. Streicher. Aragorn Arathornion, der sich jetzt nicht Elessar nannte und auch nicht auf dem Thron Gondors saß, wo er eigentlich hin gehört hätte. Nein, genau genommen sollte er längst tot sein. Eigentlich.

 

Ich blinzelte verstört. Nein, das war kein böser Traum. Das war ebenso real wie die große rosa Blüte genau vor meiner Nase... Moment mal. Rosa Blüte?

 

Kurz davor in hysterisches Kreischen auszubrechen, setzte ich die Puzzleteilchen in meinem Kopf zusammen, die mir beweisen konnten, daß ich nicht am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand und halluzinierte.

 

Der Düsterwald. Bilbo. Elrond in Bruchtal. Der Dúnadan. Gandalf. Estel!

 

Irrte ich mich? Ich mußte mich einfach irren. Aber da waren zu viele andere Kleinigkeiten, die in dieses Bild paßten, und an die ich mich ganz entgegen meiner sonstigen Vergeßlichkeit plötzlich schmerzlich genau erinnerte.

 

Wie hatte Radagast gesagt? >Es ist nötig, daß du jetzt mitkommst.< Es hatte nach einer Bitte um Verzeihung geklungen und die hatte sich nicht darauf bezogen, daß er mich so plötzlich aus der mir vertrauten Umgebung reißen mußte!

 

Größer noch als mein Entsetzen, war die Verwunderung darüber, daß ich so lange für diese Erkenntnis gebraucht hatte. Aber mal ganz ehrlich! Wer bitteschön rechnete schon mit einer Zeitverschiebung? Diese blöde Idee stammte doch nur aus hunderten Mary-Sues, deren meist überdrehte Heldinnen unbedingt im Ringkrieg mitmischen wollten! Oder etwa nicht? Eben!

 

Es war an und für sich schon unvorstellbar genug, daß Mittelerde überhaupt existierte. Um wieviel phantastischer war es dann anzunehmen, daß die mittelirdische Zukunft in detaillierter Form in einem irdischen Roman beschrieben wurde?!

 

Ich taumelte und hielt mich an irgend etwas fest, das gerade in die Nähe meiner Hände kam. Meine Gedanken überschlugen sich. Was wußte Radagast davon? Weshalb hatte er mir geboten zu schweigen? Er kannte Tolkien. Er hatte meine Bücher gesehen. Hatte er sie auch gelesen? Er hatte eingeräumt, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich sie nicht kennen würde...

Hatte er mir deshalb das Versprechen abgenommen, den Unwissenden zu mimen? Weil ich die Geschichte nicht verändern durfte?

 

Die verschwommenen Bilder flohen vor meinem Geiste und ich blickte in ein paar sorgenvolle, stahlgraue Augen.

„Alles in Ordnung?“

Wie? Nein, nichts ist in Ordnung. Absolut gar nichts!

„Ja, danke, es geht schon. Mir war nur etwas schwindlig.“

Hättest du nur ein kleines bißchen mehr Ähnlichkeit mit dem Film-Aragorn, hätte ich dich früher erkannt. Aber das wäre dann wirklich und wahrhaftig unlogisch!

 

Mit mittelmäßigem Erfolg kämpfte ich um meinen inneren und äußeren Halt und stützte mich unbewußt schwer auf Estels hilfreich dargebotenen Arm. Erst als er mich setzen hieß fiel mir auf, an welchem Tisch ich angekommen war. Jeden Moment mußten hier Elrond mit seinen beiden Beratern und den Honoratioren erscheinen. Bestürzt drehte ich mich um. Wäre die Entfernung nicht zu groß, hätte ich sicher den forschenden Ausdruck in Lindors Gesicht bemerkt. So sah ich lediglich, daß er mich beobachtete.

 

„Ich will lieber dahin!“ piepste ich ängstlich, als wolle mir jemand ans Leben. Ich deutete mit dem Finger auf meinen Freund und flehte ihn stumm an, mir zu helfen. Es war nicht so, als hätte ich mir die ersten Familien nicht gerne einmal aus der Nähe betrachtet. Aber das hieß noch lange nicht, daß ich mit ihnen an einem Tisch sitzen wollte. Ich hätte vor Befangenheit gar nicht gewußt, wie ich mich benehmen sollte!

 

Also nichts wie weg hier! Ich geriet in Panik und wartete Estels Reaktion gar nicht erst ab, schob ihn fast rüde beiseite und flüchtete wie ein verängstigtes Reh. Schwer atmend versteckte ich mich hinter Lindors Rücken und hielt mit beiden Händen seine Oberarme fest, um ihn daran zu hindern, seine Position zu verlassen.

 

„Ähm. Elanor?“

„Sag Elli zu mir!“

„Was ist mit dir?“

„Hab was Schlechtes geträumt.“

„Mitten am Tag?“

„Ja... bleib wo du bist! Schauen sie noch her?“

 

„Was denkst du?“ Lindor mußte an sich halten, um nicht lauthals loszulachen, wie ich deutlich aus seiner Stimme heraushörte. „Hör endlich auf, dich hinter mir zu verstecken! Das ist sowieso sinnlos. Sie wissen, wo du bist.“

 

Ich wimmerte und ließ die Arme sinken. Lindor wandte sich fast zeitgleich zu mir um, drückte mich sanft auf einen Platz und setzte sich auf den Stuhl, der zwischen mir und dem Ehrentisch stand, wofür ich ihm sehr dankbar war. Ich lächelte in schwach an.

 

„Was bringt dich so aus der Fassung?“

„Weißt du, wer das ist?“ Ich winkte mit den Augen hinter ihn.

„Estel? Ich kannte ihn schon als Knaben. Er ist hier aufgewachsen, weißt du.“

„Ja, ich weiß.“ Hastig griff ich nach dem nächststehenden Weinkrug und leerte ihn zur Hälfte. Lindor beobachtete mich prüfend von der Seite, mit hochgezogenen Augenbrauen. Natürlich konnte er sich nicht erklären, was plötzlich in mich gefahren war.

 

„Lindor?“

„Ja?“

„Kannst du mich lehren, mit dem Schwert zu kämpfen?“ Bogenschießen würde sich ohne Brille als äußerst kompliziert erweisen.

„Wenn du das möchtest.“ Er klang wenig begeistert.

„Du mußt nicht, wenn du nicht willst“, schnappte ich.

„Wieso willst du das lernen?“

Ich dachte immer, bei den Elben könnten auch die Frauen ganz selbstverständlich mit Waffen umgehen. Mußte wohl ein Irrtum sein.

„Ich will...“ Was hieß nur >sich wehren können<? Ich brummte unzufrieden. „Radagast hat gesagt, ich könnte das hier.“ Ungeschickt formuliert. Aber das mußte als Erklärung erstmal reichen.

 

„Gut. Wann?“

„Morgen?“

Lindor machte ein zustimmendes Geräusch und ich atmete erleichtert auf. Das würde mich ablenken und wer weiß, vielleicht konnte ich es noch gebrauchen, auch wenn ich mich nicht in den Ringkrieg einmischen durfte.

 

Bilbos kräftige Stimme erklang von der Mitte des Saales. Der kleine Mann hielt ein leicht mitgenommen aussehendes Stück Pergament in der Hand und trug sichtlich stolz sein Gedicht vor. Die Elben applaudierten zuvorkommend, auch wenn seine Kunst sich sicherlich nicht mit der ihren messen konnte. Er verneigte sich gespielt herablassend und trippelte freudestrahlend auf unsere Gruppe zu.

 

„Laineth erwartet dich morgen nach dem Frühstück“, erinnerte Liriel mich. Ich sah überrascht auf. Laineth hatte die Schneiderei unter sich, wobei dieses Wort bei den Elben nicht nur das Nähen sondern auch sämtliche anderen Arten der Handarbeit mit inbegriff. Ich hatte bereits erwähnt, daß ich mich hier ein wenig nützlich machen wollte, zumindest soweit ich das vermochte, und ich hatte Liriel gebeten, sich ein wenig für mich umzuhören.

 

„Ich führe dich hin und Laineth wird dir alles zeigen.“

 

Ich nickte. Ganz wohl fühlte ich mich nicht dabei, wenn ich an die Kunstwerke dachte, die aus dieser Werkstatt kamen. Doch Liriel versicherte mir, daß ich zunächst nur leichte Arbeiten verrichten sollte und mich mit der Zeit schon eingewöhnen würde.

 

Liebe Liriel, du hast ja keine Ahnung von meiner Ungeschicklichkeit!

 

~*~

 

 

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