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Das blanke Metall der Schwerter glitzerte in der Sonne und verschmolz in den fließenden Bewegungen derer, die sie führten, zu einer flächigen, spiegelnden Masse... Also gut, ich geb’s zu, ich konnte erst überhaupt keine Einzelheiten auseinanderhalten. Aber als wir näher kamen, klärte sich das Bild allmählich und es gelang mir, den Takt der aufeinanderprallenden Waffen mit dem, was sich meinen Augen bot zu vereinen.

 

Ich hatte keine Ahnung von der Schwertkunst, unterstellte den beiden aber einfach mal, sie meisterhaft zu beherrschen. Schließlich sah es nicht nur wahnsinnig beeindruckend aus, es handelte sich bei den Waffenführenden außerdem um Elronds edle Söhne. Am Rand des Geschehens stand ein Elb mit goldblonden Haaren, die Unterarme vor der Brust aufeinandergelegt, und entdeckte mit kritischem Blick jeden noch so geringen Fehler.

 

Es war das erste Mal, daß ich Glorfindel aus der Nähe sah. Der berühmte Krieger sah einfach atemberaubend gut aus. Dennoch irritierte mich etwas an ihm, ohne daß ich sagen konnte, was es war.

 

Elladan und Elrohir wirbelten herum wie zwei Tänzer bei einer besonders kniffeligen Kür. Da konnte ich gar nicht hinsehen! Jeden Moment mußte einer von ihnen den anderen verletzen. Ich schloß die Augen und wandte den Kopf ab.

 

„Keine Angst. Dies ist eine ihrer leichtesten Übungen und die Zwillinge sind wirklich gut.“

Eine der leichtesten? Am liebsten hätte ich Lindor diese Frage ins Gesicht geschrieen. Statt dessen starrte ich ihn nur entgeistert an. Eine der leichtesten?

„Wie gut?“

„Die besten, die ich kenne. Abgesehen von Fürst Glorfindel.“

 

„Aahh...“

 

„Man sagt, Meister Elrond in seinen besten Zeiten wäre ihm ebenbürtig gewesen. Aber er hat seit langem keine Waffe mehr geführt.“

 

Mitten in den Wirbel erklang ein strenger Ruf und augenblicklich standen die Kämpfenden still. Der goldblonde Krieger trat vom Rand des Übungsplatzes heran und korrigierte seine Schüler mit anschaulichen Gesten.

 

„Du erwartest jetzt nicht von mir, daß ich so etwas hinbekomme, oder?“

„Heute? Nein!“ Lindor lachte vergnügt und legte mir eine beruhigende Hand auf die Schulter. „Selbst ein Elb braucht mehrere Jahre dafür.“

 

„Aber du sagtest...“

„Die Zwillinge üben seit mehreren Jahrhunderten!“ schulmeisterte er mich mit aufsteigender Stimme. Es fehlte eigentlich nur noch der Zwickel auf der Nase und der Pädagoge wäre perfekt.

„Das beruhigt mich. Wirklich! Bis dahin werde ich dir diese Übung dann vorführen können. Versprochen!“ Meine Worte trieften vor Sarkasmus. Das hieß mit anderen Worten: niemals.

 

Ich erstarrte. Falsch. Es hieß: üben, üben und nochmals üben! Du bist jetzt unsterblich. Schon vergessen? Unsinnigerweise zuckte meine Hand zu meinem Ohr. Natürlich war es nicht plötzlich spitz. Wieso sollte es auch. Radagast hatte mir doch gesagt, daß ich mich nicht verändern würde. Dennoch, es konnte nichts schaden, sich zu vergewissern. Ob die Elben mir irgendwie ansahen, daß ich kein so richtiger Mensch war? Ich hoffte nicht und sandte ein kurzes Gebet zum Himmel. Bitte, laß Radagast zurückkommen bevor es hier irgend jemandem komisch vorkommt, daß ich nicht altere!

 

Inzwischen war ich nämlich zu der Erkenntnis gelangt, daß >eine kurze Zeit< bei jemandem, der bereits drei Jahrtausende in der Welt lebte, sich durchaus auf mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte beziehen konnte.

 

Und Galvorn? Langsam bezweifelte ich, daß der überhaupt von meiner Ankunft hier wußte. Vielleicht wollte ich das aber auch einfach glauben, weil mich der Gedanke schmerzte, meine Anwesenheit in Bruchtal könne ihn so dermaßen kalt lassen, daß er es nicht für nötig hielt, herzukommen. Es waren wieder einige Wochen ins Land gezogen, ohne daß ich etwas von den beiden Herren gehört oder gesehen hatte.

 

Wenn ich wenigstens wüßte, wie lange es noch bis zum Ringkrieg dauerte! Aber schließlich konnte ich schlecht jemanden fragen, oder?!

 

Seit ich Lindor gebeten hatte, mich unter seine Fittiche zu nehmen, war ich keinesfalls müßig gewesen. Unter seiner Anleitung hatte ich jeden Nachmittag Übungen für meine Kondition gemacht, die sich auf einem bedauerlichen Tiefstand befunden hatte. Schließlich war nach und nach ein wenig Muskelaufbau gefolgt. Heute sollte ich erstmalig ein Schwert in die Hand nehmen.

 

„Glorfindel ist der beste Schwertkämpfer, den ich jemals gesehen habe!“ Die bewundernden Worte kamen von Liriel, die neben mir stand und den Blonden anhimmelte wie ein verliebtes Kätzchen.

 

Der Balrogtöter hatte sein eigenes Schwert gezogen und demonstrierte soeben einige Finten, wobei er einen der Zwillinge als Kampfpartner zu Erklärungszwecken heranzog. Mit leicht schief gelegtem Kopf beobachtete ich die Unterrichtslektion und wußte mit einem Mal, was nicht ins Bild paßte.

 

Glorfindel war ein gewaltiger Krieger. Er war außerdem ein mächtiger Fürst. Ein Elbenfürst aus Gondolin. Gefürchteter Balrogtöter und so weiter. Nicht wahr? Aber so gefährlich sah er eigentlich gar nicht aus. Zwar war er fast ebenso groß wie die Elrondsöhne, wirkte jedoch etwas zierlicher. Sein Gesicht war jugendlich weich und aus seinen Augen blitzte der Schalk. Die Lippen waren selbst bei den streng angewiesenen Verbesserungen entspannt und zu einem leichten Lächeln bestrebt. Glorfindel sah ganz aus wie jemand, mit dem man Pferde stehlen konnte.

 

Ich kicherte und erntete einen vorwurfsvollen Blick meiner neuen Freundin.

„Ich habe schon eine Menge Schwertkämpfer gesehen!“ trumpfte sie auf.

„Hä?“

„Glorfindel ist einfach unschlagbar mit dem Schwert!“ Ihre Wangen waren im Eifer leicht gerötet. Vielleicht aber auch deshalb, weil sie versehentlich ein wenig zu laut gesprochen hatte.

 

Ich zuckte nachlässig die Schultern. „Von mir aus.“

„Jeder weiß es. In keinem anderen Elbenreich gibt es einen Schwertkämpfer gleich ihm!“

„Dafür ist Legolas der beste Bogenschütze!“ grinste ich ironisch.

Lindor schürzte süffisant die Lippen. „Des Düsterwaldes, meine Liebe, der beste Schütze des Düsterwaldes.“

 

„Und wer ist deiner werten Meinung nach der beste Schütze Mittelerdes?“ zog ich den arroganten Elben auf. „Du?“

„Bewahre!“ Er lachte, nicht im mindesten beleidigt.

„Wer dann?“

„Du siehst ihn vor dir.“

„Glorfindel?“

Lindor nickte und Liriel platzte fast vor Stolz.

 

Der Übungsplatz war gut besucht, sowohl von Trainierenden als auch von Zuschauern und so fiel es nicht weiter auf, daß die Elbin in der Nähe ihres Angebeteten blieb, um seinem Unterricht weiter zu folgen. Auffälliger waren dann schon die giftigen Blicke, die sie auf seinen kleinen Fanclub abschoß, der den strategisch günstigeren Platz innehatte.

 

„Ist sie ihm versprochen?“ erkundigte ich mich bei meinem Lehrer, als er mir ein Schwert in die Hand drückte.

„Wie meinst du das?“

„Naja, ich meine...“

Moment mal. Eigentlich müßtest du viel besser wissen als ich, was ich meine! Oder? Natürlich! Du bist doch hier der Elb!

„Ich denke, Eru selbst sucht euch Elben bei eurer Geburt eure zukünftige Braut aus.“

Und sag mir jetzt bloß nicht, daß das nicht stimmt!

 

„Ach so, das.“ Lindor machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es wird behauptet.“

„Ah, ja?“

„Was allerdings die Frage aufwirft, was Eru sich bei manchen Verbindungen gedacht hat.“ Er grinste anzüglich.

„Aber es stimmt doch, oder? Lindor, bitte! Halte mich nicht zum besten!“ Mein klägliches Wimmern erregte nun doch seine Aufmerksamkeit. Ernst und viel zu nahe, daß selbst ich die kleinen Sprenkel in seiner Retina erkennen konnte, sah er mir in die Augen.

„Es dauert manchmal etwas länger bis zwei Seelen zueinander gefunden haben“, flüsterte er geheimnisvoll. „Aber sie finden sich.“

 

Ahnte er etwas? Mir stieg das Blut in die Wangen und ich riß mich mit einem gekünstelten Lachen los.

„Dann ist ja gut. Können wir?“

Wir konnten und ich mußte enttäuscht feststellen, daß nicht alle Klingen aus Mithril waren. Diese hier war so schwer, daß ich mich nicht länger fragte, wozu die dämlichen Fitneßübungen gut sein sollten. Nachdem Lindor meine Haltung soweit korrigiert hatte, bis sie ihm zusagte, konnte ich das Schwert kaum noch halten, so weh taten mir die Arme bis in die Schultern hinauf.

 

„Sag mal, ist Glorfindel wirklich so gut oder hast du das nur wegen Liriel gesagt. Sie betet ihn ja geradezu an.“ Ich versuchte den Hieb nach rechts so auszuführen, wie er ihn mir gezeigt hatte.

 

„Er ist gut. – Etwas mehr Schwung.“

„Ich meine, er sieht eigentlich gar nicht so kriegerisch aus.“ Das war zuviel Wucht und ich wurde vom Gewicht der Waffe beinahe zu Boden gezogen.

 

Lindor lachte. Wegen meiner Ungeschicklichkeit oder meiner Bemerkung. Wahrscheinlich beidem.

„Irgendwie hatte ich ihn mir anderes vorgestellt.“ Uups. Jetzt war es heraus. Dabei sollte ich hier doch niemanden kennen! Glücklicherweise wunderte es Lindor nicht.

„Wie denn?“ begehrte er nur zu wissen.

 

„Weiß nicht. Einfach anders.“ Mein Schulterzucken versagte unter der stählernen Last. „Er sieht so so...“

„...unkriegerisch aus?“ Lindor nahm mir das Schwert ab. „Na, du wirkst aber auch nicht wie ein orkschlachtendes Ungeheuer.“

„Sehr witzig.“

„Ich denke es reicht für heute. Sonst kannst du morgen den Brokat nicht mit deiner Nadel erstechen.“

Es dauerte drei Schrecksekunden, bis ich begriff. „Gib mir sofort das Schwert zurück!“ bettelte ich.

 

„Das könnte dir so passen!“ Lindor schob es fließend in die Scheide an seinem Gürtel wie jemand, der mit dieser Waffe bestens vertraut ist. „Laineth sagt, sie ist sehr zufrieden mit dir.“

Ich beäugte ihn kritisch, konnte aber keine Ironie erkennen. „Wirklich?“

„Sie sagt du lernst schnell.“

„Für einen Menschen?“

„Für einen Menschen.“

 

Puh! Also schien er doch nichts bemerkt zu haben. Gut. Meine Chancen nicht als Hexe verbrannt zu werden, waren soeben um zehn Punkte gestiegen.

 

„Ihr sprecht zu anderen Völkern nicht darüber, oder?“

„Für gewöhnlich nicht“, antwortete Lindor ohne zu zögern und mir fiel auf, daß er meinen Überlegungen nahtlos gefolgt war.

„Kannst du Gedanken lesen?“

Er schmunzelte. „Das sagt man den Noldor in der Tat nach.“

Oh-oh! Ich sollte zukünftig endlich versuchen, meine Selbstgespräche in den Griff zu bekommen. Auch wenn ich die noch in meiner Muttersprache führte. Wer konnte schon wissen, ob die bei der Telepathie nicht in Sindarin umgewandelt wurden?!

 

„Es war nicht schwer zu erraten. Du hast das Thema praktisch gar nicht verlassen.“

Hab ich nicht? Ich staunte den Mann neben mir an. Hey, ich meine, das war schließlich ein Mann, oder? Und seit wann sind die dafür bekannt, etwas verwickelten Gedankengängen folgen zu können? Ich meine, ich hatte mal nen Freund, der konnte nicht mal den Zusammenhang zwischen >Mir ist kalt< und >Kannst du mir die Füße massieren< nachvollziehen...

 

„Warum nicht?“

„Weil es etwas sehr persönliches ist.“ Lindor sprach plötzlich sehr leise. Sein Blick glitt in die Ferne, während wir langsam nebeneinander zurück zum Haus schlenderten.

 

„Wo ist sie?“ flüsterte ich und meine Stimme zitterte, weil ich wußte, daß mich das eigentlich gar nichts anging und weil ich befürchtete, daß die Antwort ihm Leid bereiten würde.

Er schluckte. „In Mandos’ Hallen.“

„Tut mir leid.“ Ich ergriff seine Hand und drückte sie vorsichtig.

Unerwartet lächelte er mir zu und die Trauer wich aus seinen Zügen. „Wieso? Du kannst doch nichts dafür. Es war ein Orküberfall. Vor fast einem Jahr, als sie ihre Verwandten in Lórien besuchen wollte.“

 

Lórien... Hätte ich noch Zweifel gehegt, jetzt wäre der Punkt erreicht, an dem mein rosarotes Kartenhaus zusammenstürzte. Lórien... Ich fühlte mich hilflos und preßte Lindors Hand fester. Ich fürchtete mich. Fürchtete mich vor einer Zukunft, die ich kannte!

 

„Was ist mit dir?“

„Nichts“, log ich. „Sag mal, kennst du eigentlich auch Elben, die, nunja, wie soll ich sagen? Nicht aus Bruchtal sind?“ Ich stotterte leicht, so wie jedes Mal, wenn ich etwas spontan sagte, ohne mir die Worte zuvor zurechtzulegen.

 

„Denkst du ich habe in den letzten dreitausend Jahren keinen Fuß aus dem Tal gesetzt?“ Lindor wirkte amüsiert. Drei-tausend-Jahre? Ich sah ihn scheel von der Seite her an. „Du willst doch etwas über jemand Bestimmten wissen, oder? Ich warne dich! Ich sage kein schlechtes Wort über die beiden Herrscherhäuser. Für das eine erschlägt mich meine Frau, wenn ich sie eines Tages in Valinor treffe und für das andere mein Sohn.“

 

„Du hast einen Sohn?“ Das war mir neu.

„Er lebt im Düsterwald.“

„Ähm... er heißt nicht zufällig Galvorn?“

„Wie kommst du darauf?“

„Och, öhm, naja... nur so. Er scheint ein Noldo zu sein, gleich dir und ich kann mir nicht vorstellen, daß König Thranduil so vielen von ihnen ein Heim gewährt.“ Noch ein Name, den ich nicht kennen sollte. Ich biß mir auf die Zunge.

 

„Das würde ich nicht tun.“

„Was?“

„Es hinterläßt unliebsame Prellungen.“

„Lindor!“

„Ich habe nicht in deinen Gedanken spioniert.“ Er hob feixend beide Hände.

 

„Also. Wer ist Galvorn?“

„Dein Sohn?“

Er wiegte den Kopf. „Erst deine Antwort.“

„Das ist Erpressung!“ empörte ich mich.

Lindor überlegte kurz. „Ja.“

„Was >ja<? Ja, er ist dein Sohn?“

„Ja, es ist Erpressung.“

 

„Lindor!“ Ich boxte dem Elben aufgebracht in den Bauch und zog die Faust jammernd zurück. Mußten diese Kerle alle so durchtrainiert sein? Da brach man sich ja fast die Hand!

 

Also gut. Ich kapituliere.

„Radagast hat von ihm erzählt.“

Lindor nickte bedächtig und wartete.

 

„Er soll Thranduils Heiler sein.“

Ein weiteres Kopfneigen.

 

„und, und...“ Ich kratzte mich hinter dem Ohr. Kindermädchen? Babysitter? Mein Gesichtsausdruck durchmaß verschiedene Emotionsstadien. „...und die Kinder bewachen.“

Lindor lachte. „Behüten. Es heißt >behüten<.“

„Also gut.“

„Und?“

Ich war stehen geblieben und verschränkte die Arme vor der Brust. Wippte mit einem Fuß den Takt zu meiner Ungeduld auf den grasigen Boden. So leise, daß ich mich selbst kaum hörte, gab ich schließlich zu: „Ich bin ihm versprochen.“

 

Das nächste das ich hörte, war nicht Lindors Körper, der der Länge nach auf den Boden aufschlug. Es war auch nicht sein ungläubiges oder ironisches Lachen. Es war nicht einmal das Herunterfallen seines Kiefers.

 

Ich stand da, mit gesenktem Kopf, studierte den Boden vor meinen Füßen und fühlte mich unendlich nackt. Bloßgestellt vor aller Welt – öhm, ich meine natürlich vor ganz Mittelerde...

 

Lindor trat lautlos näher und legte mir die Hand schwer auf die Schulter.

„Er ist mein Sohn!“

 

Äh! Moment! War das jetzt nicht ein bißchen zu viel der Zufälle? Andererseits... wenn ich alles, was ich für Zufälle gehalten hatte strich, kam ich zu dem Ergebnis, daß dies hier der erste war.

 

„Wirklich?“ Dumme Frage. Aber mir fiel keine intelligentere Bemerkung ein, und ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

 

Ich blinzelte ein paarmal und musterte den hochgewachsenen Mann eindringlich. Unwillkürlich versuchte ich mir vorzustellen, wie sein Sohn wohl aussehen würde. Das Resultat trieb mir das eben wieder abgeflossene Blut zurück in den Kopf.

 

„Du hast blaue Augen.“

„Galvorn hat die Augen seiner Mutter.“ Lindor sprach sehr leise. „Es ist eine sehr ungewöhnliche Farbe in ihrer Intensität.“

 

Jetzt fiel mir auf, daß Lindor mich gleichfalls abschätzend betrachtete und nur langsam begriff ich, daß ich da gerade meinem zukünftigen Schwiegerpapa gegenüberstand! Ich schloß die Augen und quietschte hilflos. Alle meine großen und kleinen Sünden der letzten Wochen stürzten gleichzeitig auf mich ein.

 

„Wußtest du die ganze Zeit, wer ich bin?“

„Nein. Woher sollte ich? Radagast hat es uns nicht gesagt.“

„Aber jetzt weißt du, woher ich komme?“

Der verständnislose Blick sagte mir, daß dem nicht so war. Hatte hier überhaupt jemand den Überblick? Doch, ja. Elrond hatte etwas gewußt. Aber wieviel?

 

„Ich, ich weiß nicht, ob ich darüber reden darf. Radagast scheint ein ziemliches Geheimnis darum zu machen, und ich möchte nicht gerne was Falsches sagen, verstehst du?“

 

So selbstverständlich diese Entscheidung für den erfahrenen Fantasy-Leser vielleicht sein mag, sie zwang mir meine ganze Opferbereitschaft ab. Ich sehnte mich so sehr danach, endlich mit jemandem darüber zu reden. Und der einzige mit dem ich dies gefahrlos tun konnte, war verschwunden. Es gab nur eines was größer war als mein Bedürfnis mich mitzuteilen, das war die Angst davor, die Zukunft zu verändern, die Zukunft wie ich sie kannte. Doch war dies auch die Zukunft, die tatsächlich eintreten würde? Was würde passieren, wenn jemand davon erführe, über welches Wissen ich verfügte?

 

Ein leichter Schwindel ergriff mich und ich fuhr mit der Hand über die Stirn, um ihn zu vertreiben. Lindor beobachtete mich die ganze Zeit über stumm. Ihm kam das alles wohl mehr als seltsam vor.

 

„Gut, laß mich zusammenfassen. Du hattest keine Kenntnis davon, daß dein Sohn einer Menschenfrau versprochen ist und jetzt bist du verständlicherweise enttäuscht, wenn dieser Ausdruck stark genug ist für das, was du empfinden mußt.“

 

Lindor antwortete nicht sofort und auch dann kam seine Antwort so lahm, daß sie deutlicher nicht hätte sein können: „Es ist der Wille Erus...“

 

Kraftlos sackten meine Schultern ab und meine Gesichtsmuskeln verloren jeglichen Halt. Ich zögerte noch etwa zwei Sekunden, dann rannte ich los. Am Übungsplatz vorbei und den plötzlich so kahl und kalt wirkenden Gebäuden, immer weiter, durch einen kleinen Buchenhain, eine blühende Rhododendrenhecke entlang und stürzte um ein Haar in einen Gartenteich. Schnaufend blieb ich stehen und blickte mich um, wie ein gehetztes Wild. Niemand war mir gefolgt. Hoffte ich. Aber da die Büsche und Bäume meinen Blick versperrten, konnte ich es nicht mit Sicherheit sagen. Ich ließ mich zu Boden sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

 

„Radagast. Wo bist du? Bitte! Ich brauch dich! Ich halte diese Ungewißheit nicht länger aus!“

 

Natürlich kam keine Antwort. Außer man wollte das muntere Gezwitscher dieses kleinen gefiederten Kerls als solche deuten. Es war ein Vogel wie ich ihn bisher noch nie gesehen hatte. Ungefähr so groß wie eine Amsel, aber von rundlicherem Körperbau. Er leuchtete in allen Farben des Regenbogens: Kehle und Bauch waren blaßrot wie das Fleisch einer Wassermelone. Die Oberseite der Flügel und das Köpfchen schimmerten hellblau, der Rücken in der selben Farbe, die zu den Schwanzfedern hin erst in ein dunkles Blau überging, dann ins Orangefarbene wechselte und schließlich an den zwei munter in die Höhe gestreckten Spitzen gelb auslief. Er hatte ein keckes Häubchen in einem kräftigen Karminrot, und als er für einen kurzen Moment den linken Flügel hob, um sich ungezwungen darunter zu putzen, erkannte ich an dessen Unterseite mehrere grasgrüne Federn.

 

Da kam mir ein verrückter Gedanke.

„Weißt du wo Radagast ist?“ Er legte den Kopf schief und schwieg. Vielleicht sprach er kein Deutsch... Also stellte ich die Frage auf Sindarin. Ein zweimaliges kurzes Tschilpen war die Antwort. War das ein >ja<? Um sicher zu gehen, wiederholte ich meine Worte ein weiteres Mal. Die gleiche Reaktion.

 

„E – lli - hi? Jetzt fängst du wirklich und wahrhaftig an zu spinnen!“ Wieder dieser verständnislose Blick auf die in fremder Sprache gesprochenen Worte. Ich schüttelte den Kopf und zuckte resignierend die Schultern. Was soll’s.

 

„Kannst du ihm eine Botschaft von mir bringen?“ Nein? Mir stiegen die Tränen in die Augen.

„Warum nicht?“ Falsche Frage. Zumindest verstand ich die Antwort nicht. Ich war nicht Radagast...

 

Frustriert feuerte ich einen kleinen, flachen Stein in den Teich. Er hüpfte nicht mehrmals über die Wasseroberfläche wie ich gehofft hatte, sondern versank gleich beim ersten Auftreffen. Das hatte ich noch nie fertiggebracht.

 

Neben mir raschelte es leise und ich staunte nicht schlecht, als der kleine Vogel auf mich zugehüpft kam und unmittelbar neben meiner Hand sitzen blieb. Ich wagte es nicht, mich zu rühren. Schließlich wollte ich ihn nicht erschrecken. Er piepste eifrig, als wolle er mir etwas mitteilen, aber ich schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich versteh dich nicht.“

 

„Er sagt, Radagast sei auf dem Weg hierher. Wenn ich seine blumige Beschreibung richtig deute, befindet er sich im Gebiet um Lórien und beabsichtigt über den Rothornpaß nach Bruchtal zu kommen.“

 

Ich hatte Lindor nicht kommen hören und erschrak fürchterlich bei diesen Worten. Dabei zuckte ich so heftig zusammen, daß der kleine Sänger panisch die Flucht ergriff. Bedauernd sah ich ihm nach, bis er meinen Augen entschwunden war.

„Du hast ihn verscheucht!“ schmollte ich und rang mit den aufsteigenden Tränen.

 

„Darf ich mich setzen?“

„Wenn’s sein muß...“

„Es muß.“ Lautlos setzte er sich an den Platz, an dem eben noch mein kleiner gefiederter Freund gesessen hatte. Ich starrte traurig neben meine Hand und wünschte ihn mir zurück.

 

„Ich wollte dir nicht wehtun.“

Ich hatte bereits eine gereizte Antwort auf der Zunge. Etwas wie >Hast du aber!< Doch ich schluckte sie hinunter. Es half niemandem, wenn ich mich wie ein beleidigter Teenager benahm. Außerdem konnte ich ihn eigentlich nur zu gut verstehen, wenn ich mal meine persönliche Voreingenommenheit beiseite schob.

 

„Hast etwas an mir auszusetzen? Ich meine, abgesehen davon, daß ich ein Mensch bin?“ Ich staunte selbst darüber, wie neutral ich klang.

 

Lindor schmunzelte. „Du meinst abgesehen davon, daß du keinen Rotwein verträgst und im Falle seines übermäßigen Genusses zu Gewalttaten gegenüber deiner zukünftigen Verwandtschaft neigst?“

 

„Ich dachte, die Sache wäre bereinigt?“ Erst jetzt bemerkte ich den Schalk in seinen Augen. „Verwandtschaft? Soll das heißen, du du du... du hast nichts gegen mich?“ fragte ich eifrig.

 

Lindor setzte bereits zu etwas an, das vermutlich aufs Neue den Willen Erus herauskehren sollte und die Feststellung, daß er ohnehin nichts daran ändern könnte. Doch er besann sich und versicherte schlicht: „Hab ich nicht.“ Und diesmal klang es ehrlich. So ehrlich, daß ich nun meinerseits bereit war, einen Kompromiß einzugehen, ohne mir über mögliche Folgen Gedanken zu machen.

 

„Lindor“, begann ich etwas unsicher, wie ich es am besten erklären sollte, „wenn es dich beruhigt... Ich bin kein richtiger Mensch. Nicht mehr. Ich meine...“

Selbst die Natur um uns herum hielt den Atem an. Bildete ich mir zumindest ein. Wahrscheinlicher war es der Schwindel, der meine Ohren vor allen Geräuschen rundum verschloß.

 

„Ich bin nicht sterblich.“

 

Jetzt war es heraus, und ich konnte die Worte nicht mehr zurücknehmen. Aber wollte ich das eigentlich? Nein. Ich stellte fest, daß ich mich unglaublich erleichtert fühlte. Und was konnte es schaden, wenn ich Lindor erzählte, woher ich kam und wie ich um meine Sterblichkeit gekommen war? Einmal würde er es ja doch erfahren und so lange ich nichts sagte, was sich auf die Zukunft Mittelerdes bezog oder einen Schluß dahingehend zuließ, daß ich darüber Bescheid wußte, war doch eigentlich alles in bester Ordnung? Oder? Ja. War es, beteuerte ich mir und schüttete meinem Schwiegervater in spe mein Herz aus.

 

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