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Von der anderen Seite des Holunderbusches störte affektiertes Gerede meine Sammlung. Eine Elbendame kicherte kokett und eine zweite fiel mit ein. Sie deutete ganz offen hinüber zu den Übenden. Lachte abfällig. Die lästerlichen Laute mehrten sich. Zwar waren auch ein paar aufmunternde und anspornende Äußerungen – ausschließlich männlicher Herkunft – zu vernehmen. Doch die hörte ich kaum. Keine fünf Meter entfernt und nur durch das Gebüsch von mir getrennt, standen die Dämlichkeiten beisammen und kritisierten – nein – machten sich richtiggehend lustig über Galvorns Ungeschick!

 

Schlagartig schoß mir das Blut ins Gesicht. Nicht aus Scham diesmal, sondern vor Wut. Wut über soviel Gemeinheit! Gefühllosigkeit. Unverständnis. Deshalb waren sie also gekommen? Um Galvorn zu sehen?! Pah! Um sich über ihn zu amüsieren! Aber hätte ich es nicht wissen müssen? Hatte Radagast mir nicht seinerzeit zu erklären versucht, wie wenig Verständnis die elbischen Damen Galvorns Schwäche entgegen brachten? War nicht dies der Grund, weshalb ich überhaupt hier war?

 

Und dann passierte es. Natürlich. Jeder hatte darauf gewartet, daß es passieren würde.

 

Auch wenn Galvorn offenbar bestrebt war, sich nicht von jenen blöden Zicken ablenken zu lassen, saßen alte Erinnerungen und Schmerz tief. Er war unachtsam. Schlug wohl etwas zu hoch und vielleicht auch zu hart. Jedenfalls war Glorfindel aus irgend einem Grund nicht auf eine solche Attacke vorbereitet. In einem Reflex blockte er den Hieb, der seinem Hals gefährlich nahe kam, konnte in dieser brenzligen Situation aber nicht zugleich auf Galvorns Sicherheit achten und ritzte leicht dessen Unterarm gleich oberhalb der Handwurzel.

 

Erschrocken hielt ich den Atem an. Galvorn stand wie eingefroren. Wider besseres Wissen starrte er die unbedeutende Wunde an. Das Schwert entglitt seiner Hand. Er schwankte.

 

Ängstlich schrie ich auf. Er würde doch jetzt nicht in Ohnmacht fallen? Ich hastete zwei Schritte auf ihn zu. Besann mich eines besseren. Das durfte ich ihm jetzt nicht auch noch antun. Die Situation war schon demütigend genug für ihn, auch ohne daß ein besorgtes, hysterisches Frauenzimmer sich einmischte.

 

Aus den Rängen der impertinenten Weiber erklang Jubel. Einige klatschten. Entrüstet begriff ich, daß sie genau dies beabsichtigt, daß sie es provoziert hatten. Die aufbrandende Begeisterung kostete mich den letzten Rest meiner noch spärlich vorhandenen Selbstbeherrschung. Wutentbrannt stürzte ich um den Busch herum und mitten hinein in die johlende Meute.

 

Zornig funkelte ich jede einzelne von ihnen an und brüllte meinen Frust von der Seele mit allen Schimpfwörtern des elbischen, deren ich mächtig war. Als sie mir ausgingen, fauchte ich auf deutsch weiter, wobei >billige Schlampen< noch der vornehmste Ausdruck war, der mir einfiel. Und als auch in meiner Muttersprache die Obszönitäten zur Neige gingen, kramte ich ein paar wenige englische Vokabeln hervor, um schließlich gar noch jene Basteleien anzufügen, die in jedem Internetforum für elbische Sprachen irgendwann einmal aus Mangel an attestierten Kraftwörtern ersonnen werden. Wobei die berühmten >dicken Orkleichen< selbstverständlich nicht fehlen durften.

 

War es Verwunderung über meine Grobheit? Die Elbenfrauen unterbrachen mich mit keinem Wort. Sahen erst pikiert, dann verständnislos und schließlich so aus, als hätte ich total den Verstand verloren. Nun, das mochte zum Teil stimmen. Jedenfalls sprach meine Wortwahl dafür. Ich machte mir gar keine Gedanken darüber, wie unsere irdischen Eigenkreationen wirken mochten oder verstanden werden konnten, schrie sie einfach hervor, selbst die, von denen ich inzwischen längst wußte, welche grammatikalischen Irrtümer sie enthielten. Es kümmerte mich nicht. Ich mußte meiner Wut ein Ventil verschaffen. Und wenn dies nur durch die ergänzende Inanspruchnahme unsinniger Wortgebilde möglich war... Sei’s drum. Es störte mich nicht. Nicht im geringsten.

 

Nach ungefähr fünf Minuten gingen mir Puste und Ideen aus. Schwer atmend guckte ich mich im Kreis um. Doch keine der Gescholtenen sah mich mehr an. Ihre Blicke glitten unisono an mir vorbei, dahin, wo der Übungskampf stattgefunden hatte und Galvorn um seine Fassung rang.

 

Galvorn... Ich traute mich gar nicht, mich umzusehen. Daß ich die Aufmerksamkeit des „Fan“-clubs verlor, konnte eigentlich nur bedeuten, daß sie sich statt über meine Flegelhaftigkeit zu mokieren, lieber weiter an dem blutscheuen Heiler ergötzen wollten. Doch wie konnte ich das verhindern? Wenn ich sie nicht vom Platz schimpfen und schreien konnte, welche Möglichkeit hatte ich sonst, sie zu vertreiben?

 

Ich war nahe dran, handgreiflich zu werden, als mir ihr Schweigen dann doch etwas seltsam erschien. Vor allem viel zu ernst. Vorsichtig drehte ich den Kopf herum, um den Grund zu erfahren. Langsam. Gaaanz langsam.

Ebenso zögernd wichen die Elbenfrauen zurück. Eine nach der anderen. Stumm. Und irgendwie schockiert.

 

Was war geschehen? Mutlos nahm ich wieder meine Ausgangsposition ein, bevor ich die Wendung vollendet hatte.

 

Eine Hand legte sich beruhigend auf meine Schulter. Ich spürte den warmen Atem ganz dicht an meinem Ohr und hörte die Belustigung in der leisen, fast flüsternden und ach so vertrauten und geliebten Stimme:

 

„Du fluchst wie ein Ork.“

 

Nach Luft schnappend fuhr ich herum und fand mich im nächsten Augenblick in Galvorns Armen wieder.

 

Schluchzend verbarg ich mein Gesicht an seiner Brust. Der Geruch von warmem Schweiß erfüllte meine Nase. Gierig sog ich ihn ein. Lauschte auf seinen starken, rhythmischen Herzschlag und genoß mit allen Sinnen die innige Berührung.

 

So hätte ich ewig stehen bleiben können. Eine sehr lange Weile sprach auch gar nichts dagegen. Nur einmal, gleich zu Beginn, mußte ich meiner Neugierde nachgeben und schielte flüchtig über Galvorns Schulter.

 

Hinter ihm stand Glorfindel. Jetzt nicht mehr schelmisch und kumpelhaft. Nein. Hochaufgerichtet und stolz. Jeder Zentimeter an ihm der heldenhafte, sagenumwobene Balrogtöter.

 

Daher also das Entsetzen! dachte ich bei mir.

 

Vor dem bösen Funkeln in seinen Augen erbebte sogar ich innerlich, obwohl sein Zorn doch nicht auf mich gerichtet war. Schnell kuschelte ich mich zurück in Galvorn Umarmung. Hier war Sicherheit. Geborgenheit. Hier konnte mir nichts geschehen.

 

Die Welt um mich herum verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Was kümmerten mich die vielen Elben in der Nähe? Und was machte es schon, wenn mein Betragen in aller Öffentlichkeit als unschicklich galt? Und tat es das überhaupt? Da Galvorn sich offensichtlich nicht daran störte, konnte es mir wohl ebenfalls gleichgültig sein.

 

Er hielt mich fest umschlungen, seinen Kopf zärtlich auf den meinen gelegt. Sein Atem ging schwer und nicht einmal ich konnte so blind sein, diesen Umstand noch dem eben absolvierten Training zuzuschreiben. Es gab in diesen glückseligen Minuten nicht die geringste Spur eines Zweifels daran, welch starke Gefühle er für mich hegte.

 

Es war berauschend. Und irgendwie beängstigend. Ich wünschte, der Moment würde nie vorübergehen und fürchtete mich zugleich vor den Konsequenzen. Unsicher wie ich war, getraute ich mich nicht, den Blick zu heben. Ihm in die Augen zu sehen.

 

Dann war es ausgerechnet Galvorn, der die Verbindung löste. Widerstrebend gab ich nach, als er sich langsam zurückzog. Erst jetzt bemerkte ich, daß unsere Nähe keine rein körperliche gewesen war. Es kam mir vor, als hielte sein Geist noch immer den Kontakt zu mir. Nicht so spürbar wie die erste Berührung, dafür flächiger, erfüllender. Beklommen sah ich zu ihm auf.

 

Eine Haarsträhne hing mir wie so oft ins Gesicht. Galvorn strich sie behutsam hinter mein Ohr und ließ seine Hand eine Weile auf meiner Wange ruhen. Er sagte nichts, aber seine Augen leuchteten voller Liebe und – Schuldgefühl?

 

Mit gesenktem Kopf wandte er sich ab. Überrascht und fassungslos folgte ich seinen Bewegungen. In verlängerter Linie dazu rückte Lindor in mein Blickfeld; in seiner Miene ein Ausdruck des Bedauerns. Liriel trat an seine Seite, umfaßte seine Hand und sprach ernst zu ihm.

 

Meine Augen füllten sich mit Tränen und fingen an zu schmerzen. Ich kniff sie energisch zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten. Nach den hochragenden Glücksgefühlen war der Absturz in die Traurigkeit erstickend. Ich verstand nicht, was hier geschah, nur, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Am liebsten wäre ich einfach fortgerannt, hätte ich nicht befürchten müssen, von meinen Beinen nicht mehr getragen zu werden. Sehen konnte ich mit den geschlossenen Augen ebenfalls nicht.

 

Mein Gehör hingegen funktionierte noch, und wenn es auch keine elbischen Qualitäten erreichte, so vernahm ich dennoch das kurze Streitgespräch zwischen Vater und Sohn. Leider nicht deutlich genug, um den Inhalt zu verstehen.

 

„Du bist ein Esel, Galvorn!“ schimpfte Liriel ihn erheblich lauter und zu meiner Genugtuung hörte ich keinen Widerspruch. Ich lächelte freudlos. Oder zumindest hätte man es ein Lächeln nennen können, hätte ich meine Mundwinkel zu guter Kooperation bewegen können. Sie zuckten krampfhaft und rutschten wehmütig in die Anfangsposition zurück.

 

„Komm, laß uns einen Spaziergang machen!“ Liriel legte den Arm um meine Schultern und drehte mich herum. Ich ließ es einfach geschehen.

 

„Männer!“ seufzte sie und ich war ihr dankbar, daß sie es bei dieser einzigen Andeutung auf das eben Geschehene beließ.

 

Um mich abzulenken, ging Liriel auf meine grandiose Schimpfpredigt ein. Doch nur kurz und nur um sie als Übergang zu einer Lobeshymne auf Glorfindel zu nutzen. Eine seltsame Taktik, aber sie wirkte. Liriels Begeisterung war so rein, soviel echter und unverdorbener als die Verehrung der liebestollen Weiber, die ihn ständig umgurrten – ich konnte nicht anders, als mich von ihr anstecken lassen. Schwärmerisch lauschte ich ihren Worten. Wagte nicht, sie zu unterbrechen, und aus Scham, meine eigenen Gefühle zu offenbaren, hielt ich den Blick gesenkt. Lächelte glücklich in mich hinein.

 

Interessanterweise konnte ich für mich alle jene Vorzüge, die Liriel Glorfindel zuschrieb, meinem Galvorn anhängen. Lächerlich! Die Charakteristika eines furchtlosen Recken, meinem blutscheuen, lustigen Kindermädchen!

 

Ich lachte hell auf und bedeutete Liriel mit einer wedelnden Handbewegung, weiterzusprechen. Wir gingen Arm in Arm, und erst als wir einen jener wundervollen Gartenteiche erreichten, schwieg Liriel, um den beruhigenden Anblick ganz in sich aufzunehmen.

 

Das Gewässer war nicht groß. Nur etwa fünf Meter im Durchmesser. Am Ufer standen junge Weiden und beugten ihre Äste bis auf die Oberfläche herab. Hier links gab es dichtes Schilf und ein Teichrohrsänger hatte sein Nest darin gebaut. Er piepste uns ein Willkommen und kümmerte sich nicht weiter um die beiden Besucher. Das Wasser schimmerte leuchtend grün. Der ganze Teich war so angelegt, daß nur an einer Seite genügend Platz für eine sehr niedrige Bank war, die hauptsächlich dazu diente, ein trockenes Sitzen in diesem Feuchtbiotop zu ermöglichen. Die übrigen Seiten waren mit dichten und blühenden Pflanzen bewachsen, die ich nicht benennen konnte. Sie verbargen den Ort vor allen Blicken von außen und gaben ihm einen märchenhaften, verwunschenen Ausdruck.

 

Behutsam ließ ich den Zweig einer Weide durch meine Finger gleiten. Die kleinen, länglichen Blätter waren pelzig und samtweich. An den Rändern zeigten sie eine helle gelbliche Färbung.

„Sie welken“, wunderte ich mich. „Sieh doch nur! Sieh!“

 

„Selbst hier in Bruchtal muß sich das Laub hin und wieder erneuern. Dachtest du, es hätte etwas Schlimmes zu bedeuten? Beruhige dich. Du bist zu aufgewühlt und legst nun, was du dir nicht erklären kannst, zum Schlechten aus. Hab Mut, Elanor. Es ist kein leichter Weg, den du für dich gewählt.“

 

„Wie, wie meinst du das?“ Ja wirklich. wie meinte sie das? Sie sprach beinahe so, als wüßte sie von meiner Herkunft und Bestimmung. Dazu sah sie so wissend drein, daß mir ein Schauer über den Rücken fuhr. Liriel, liebe Liriel. Auch du bist mehr als zweitausend Jahre älter als ich und besitzt als Elbenfrau Fähigkeiten, die ich mir nicht vorstellen kann. Unser freundschaftliches Beisammensein und ihre mädchenhafte Art, hatten mich das ganz vergessen lassen. Doch wieviel ahnte sie tatsächlich? Und wieviel gab ich ihr unwissentlich gerade von meinen Gedanken preis?

 

Schnell wandte ich mich ab.

 

„Du liebst ihn.“

 

Ich bemühte mich vergeblich, ihre Meinung dazu aus der neutralen Feststellung zu lesen. Ebenso erfolglos, wie ich zu widersprechen versuchte.

 

„Und er liebt dich.“

 

Das war zuviel. Kraftlos sank ich auf die Bank, welche sich glücklicherweise gerade in passender Linie zu meinem herunterplumpsenden Hinterteil befunden hatte, und stützte mein Gesicht in die Hände.

 

Ich spürte an der Belastung, wie Liriel sich ebenfalls setzte.

 

„Liriel? Warum ist Galvorn so traurig?“

 

Der Teichrohrsänger schlug ein melancholisches Lied an. Hatte er unser Gespräch verstanden? Verstand er vielleicht gar besser als ich, was hier vor sich ging?

 

Eingelullt in seine Melodie, fast wie in den schweren Rausch eines kräftigen Rotweins, starrte ich auf die Oberfläche des Teiches. Doch nicht das Wasser war es, das meine Augen fokussierten, sondern ein Etwas, das weit weit dahinter lag, in der Unendlichkeit des Meeres, dessen Teil es war und noch darüber hinaus.

 

Für weniger wohlgeneigte Leser hätte ich auch einfach sagen können: Ich starrte Löcher in die Luft. Aber weder hätte dies annähernd so wohlformuliert geklungen – immerhin bemühte ich mich redlich, mich den Lebens- und Sprachgewohnheiten der Elben anzupassen – noch wäre es der Wahrheit so nahe gekommen.

 

Denn ich starrte nicht wirklich und schon gar keine Löcher. Ich hatte wahrhaftig das Gefühl, ein Bild zu betrachten. Ein Bild, von den klagenden Lauten des Singvogels gemalt, das keine rechte Gestalt annehmen wollte. Und je mehr ich versuchte, es zu ergreifen, um so eiliger entfloh es meinem Blick.

 

„Warum ist Galvorn traurig?“ wiederholte ich.

 

Liriel sah hinaus auf den Teich. Ich kannte diesen Blick, wenn Elben sich auf dem Pfad ihrer Träume bewegten, der für sie oft den eigentlichen Schlaf ersetzte. Ungeduldig scharrte ich mit den Füßen im feuchten Gras. Ob es ihnen schadete, wenn man sie dabei störte? Schlafwandler sollte man ja angeblich nicht aufwecken. Aber ob dies nur ein Gerücht war oder medizinisch belegt, wußte ich nicht.

 

~*~

 

 

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