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Eine Zeitlang starrte ich weiter auf das Wasser in dem Bemühen, mir selbst eine Antwort auf meine Frage zu geben. Das Teichrohrsängerweibchen kehrte ins Nest zurück, warf lautstark schimpfend etwas über den Rand, was das Männchen in seiner Abwesenheit herangeschleppt hatte, und der folgende, melodiöse Ehestreit störte meine Konzentration. Ich ertappte mich dabei, mich beschämt zu fühlen, da ich – nicht in Worten, sondern in einer Ahnung so stark, als müßte sie sich gleich zu solchen formen – ein intimes Gespräch belauschte, welches nicht für meine Ohren bestimmt war.

 

Verlegen wandte ich mich von ihnen ab und Liriel zu, die selbstvergessen und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen dasaß.

 

Eine letzte Scheu, die ich noch immer vor diesem eigenartigen Zustand empfand, ließ mich einen Moment zögern. Dann siegte meine bekannte Neugier. Langsam streckte ich meinen Zeigefinger aus und näherte ihn vorsichtig ihrer Schulter.

 

„Tu das nicht!“

 

Erschreckt zog ich die Hand zurück und fuhr zusammen wie ein gescholtener Hund.

 

„Lindor!“ zischte ich. Der Genannte hatte sich leise wie ein Schatten neben mich gesetzt. Er blickte drein wie die beleidigte Unschuld, zog seinen Schuh aus und schüttelte ein Steinchen heraus, bevor er ihn wieder überstreifte.

 

„Wieso trägst du Schuhe?“ murmelte ich und winkte sogleich ab, weil mich die Antwort überhaupt nicht interessierte. „Ist es gefährlich, einen Elben in diesem Zustand zu stören?“ erkundigte ich mich statt dessen und deutete mit dem Finger auf Liriel.

 

„Nein. Ist es nicht. Mit dem wachen Teil ihres Bewußtseins, nimmt sie uns ohnehin wahr und versteht sogar, was wir sagen.“ Lindor hob dazu warnend eine Augenbraue.

 

Aha. Ehrfürchtig betrachtete ich Liriel, die so gar nicht den Eindruck in mir erweckte, als sähe sie irgend etwas außer dem verklärten Bild eines verwegenen goldblonden Kriegers vor ihrem inneren Auge...

 

„Ich will mit dir alleine sprechen. Laß uns ausreiten!“ Lindor erhob sich so geräuschlos, wie er sich gesetzt hatte und bedeutete mir, ihm zu folgen.

 

Unsicher sah ich mich um. „Wir können sie doch nicht einfach so sitzen lassen“, wandte ich ein, doch Lindor zuckte nachlässig die Schultern. Wieso nicht? Da ist gar nichts Ungewöhnliches dabei, sagte sein Blick.

 

„Aber wenn du schon mal da bist...“ Oh, es war gar nicht leicht, seinem schnellen Schritt zu folgen, dabei zu reden und nicht aus der Puste zu kommen. Mußte denn jeder hier in Mittelerde davonlaufen, wenn ich solch brennende Fragen auf dem Herzen hatte?! „Weißt du, daß ich seit gestern Morgen versuche, dich allein zu sprechen? Ich hab ’ne Menge Fragen an dich. Und nicht eine von ihnen konnte ich dir stellen, solange jemand anderes in der Nähe war. Schließlich...

Sag, hörst du mir eigentlich zu?!“

 

Lindor zügelte seine Schritte. Natürlich hatte er mich gehört. Ich schrie schließlich laut genug in meiner Aufregung. Warnend legte er einen Finger an die Lippen. Sein begütigender Blick ließ mich Wut und Enttäuschung vergessen, die sich wie giftige Nattern in meiner Seele festgebissen hatten, seit ich der Traurigkeit in seinen Augen gewahr geworden, und ich erinnerte mich daran, daß er mein Verbündeter war.

 

Ich nutzte die Gelegenheit an seine Seite zu spurten und ihn am Ärmel zu fassen, so daß er mir nicht gleich wieder entrinnen konnte. Sorge lag in seinem Blick. Aber auch etwas wie väterliche Liebe und Verständnis. Es kostete mich einige Überwindung mir selbst einzugestehen, wie ungewöhnlich eine Verbindung, wie die zwischen Galvorn und mir, ihm vorkommen mußte – trotz meiner Unsterblichkeit und dem Willen der Valar...

 

„Lindor, ich...“, begann ich und brach sogleich wieder ab.

 

Er drückte meine Hand und schloß kurz zum Zeichen des Verstehens die Augenlider. Ich hätte schreien mögen! Warum mußte das alles so kompliziert sein? Konnte ich nicht einfach zu Galvorn gehen und ihm alles erzählen? Einfach so? Und konnte Lindor meine Geschichte nicht bestätigen? Mir auf diese Weise den Rücken stärken? Und alles würde gut werden. Einfach so. Nicht wahr?

 

Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Brust. Nein. Ich wußte selbst, daß es so nicht funktionieren würde. Im günstigsten Fall – und ich meine wirklich den günstigsten aller Fälle – würde Galvorn alles für einen schlechten Witz halten. Einen gemeinen, hinterhältigen Versuch, seine Gefühle lächerlich zu machen und ihm das Herz zu brechen.

 

Denn über all diesem Sinnen hatte ich endlich selbst die Antwort gefunden auf das, was verantwortlich für die Unsicherheit und den Schmerz war, die meinen Geliebten quälten: Ich war ein Mensch!

 

Hatte ich nicht oft genug in Tolkiens Schriften gelesen, wie problematisch eine Verbindung wie die war, welche ich anstrebte? Die ich so sehr wünschte, daß ich an nichts anderes mehr denken konnte? Die mein ganzes Wesen eingenommen hatte und umklammerte, als hätte es nie einen anderen Lebenssinn gegeben?

 

Ich stolperte zurück, als ich alle meine Vermutungen in Lindors Augen bestätigt sah.

 

Konnte die Macht der Valar, der Wille Erus, oder wer und was immer dafür verantwortlich war, tatsächlich so stark sein, daß es mein ganzes bisheriges Sein derart überwucherte?

 

Vor zwei Jahren noch war ich eine emanzipierte, selbstbewußte Frau des 21. Jahrhunderts unserer Erde gewesen. Nun ja... selbstbewußt in Grenzen, in sehr engen Grenzen zugegebenermaßen, aber das hier... war das wirklich noch ich? Verwirrt senkte ich den Kopf und rang nach Atem. Mein Herz schlug viel zu heftig und zu schnell. Ich preßte eine Hand darauf und versuchte tief und ruhig zu atmen.

 

„Komm!“ Nur dieses eine Wort sagte er. Komm. Mir aber war, als sei dieses eine Wort der Schlüssel zu einer schweren, dunklen Tür, die mir den Weg versperrte. Als müßte dieser Schlüssel nicht nur jene Tür mühelos öffnen, sondern gleichzeitig den Weg ebnen, der dahinter lag.

 

Bei der weitläufigen Koppel trennten wir uns. Mindestens fünfzig Pferde tummelten sich auf dem malerischen Fleckchen, das geradewegs aus einem Bilderbuch zu stammen schien. Eine saftig grüne Wiese, nicht höher als meine Fußknöchel, umrahmt von einem schicken Gatter aus Rundhölzern so frisch und blank, als wären sie in diesem Herbst erst geschlagen worden. Es wirkte nicht so sehr als Mittel, die Pferde innerhalb eines begrenzten Raumes zu halten, auch wenn dies letztendlich sein Zweck war. Es schränkte nicht ein und legte keinen Zwang auf, als wäre es nur da, weil zu einer ordentlichen Koppel nun mal eine Einfriedung gehört und lud dazu ein, sich auf die obere Planke zu setzen, die Beine herunterbaumeln zu lassen, und die Pferde zu beobachten.

 

Im hinteren Bereich schmiegte die Koppel sich dicht an die steil aufragende Felswand und dort, zur linken Seite, waren auch die Stallungen und Vorratskammern. Sie schienen aus dem Berg herauszuwachsen und mit ihm zu verschmelzen, als könnte nichts von Elben erschaffen sein und nicht eins werden mit der Natur.

 

Dorthin begab sich Lindor, um mir so einen spinnfädigen Zaumersatz zu suchen, der dort irgendwo herumliegen müsse, wie er nachdenklich vor sich hinmurmelte. Meine Bemerkung, meine eigenen Bindfäden lägen oben auf meinem Zimmer, winkte er ungeduldig ab.

 

„Was sagt man dazu. Ein hastiger Elb!“ staunte ich.

 

Auf der Koppel galoppierten drei Einjährige übermütig am Zaun entlang, schleuderten mit ihren Hufen kleine Lehmklümpchen hoch und vollführten wilde Bocksprünge nach ihrem abrupten Stop in der Ecke. Auffordernd wieherten sie mir zu, schüttelten die seidigen Mähnen und schlugen ihre Schweife.

 

„Na, wollt ihr mir etwas mitteilen?“ Ich lachte. Erwartete ich allen Ernstes, sie nun ebenso deutlich zu verstehen, wie die Vögel? Ich dummes, dummes Menschenkind! Ihre Laute blieben ein schrilles Wiehern und ihre Gesten vermochte ich auch mit schief gelegtem Kopf nicht zu enträtseln.

 

Aus dem Stall hörte ich etwas zu Boden poltern. Lindor fluchte leise und es klang, als ob er diesem Etwas einen frustrierten Fußtritt verpaßte. Unwillkürlich zog ich den Kopf zwischen die Schultern und starrte angestrengt auf die bunt gemischte Herde. Die Einjährigen wieherten herausfordernd. Ich duckte mich zwischen den beiden Querbalken hindurch und sah mich augenblicklich von den Dreien umringt. Sie stupsten mich an und schnupperten an meinen Händen, vergruben ihre Nasen in meiner Hose und bettelten so rührend um eine Leckerei, daß ich mich der leeren Taschen schämte.

 

Aiwendil ließ sich unauffällig auf meiner Schulter nieder. Ich bemerkte ihn erst, als er mir grell ins Ohr pfiff und erschrak so sehr darüber, daß ich sicherlich umgekippt wäre, hätten die Jungpferde nicht dicht um mich herumgestanden.

 

„Ja ja, ich weiß, er ist ein dummer Elb“, murmelte ich abwesend. „Sag ihm das. Nicht mir!“

 

Es war heraus, bevor ich überhaupt begriff, was vor sich ging.

 

„Mist!“ schimpfte ich. Aiwendil sah mich mit seinen schwarzen Knopfaugen fragend an. Ich schob einen elbischen Kraftausdruck hinterher, wurde nun zwar verbal verstanden, wie mir Aiwendils vorwurfsvolles Tschilpen verriet, aber der Hintergrund meines Ärgers blieb dem bunten Vogel nach wie vor verborgen.

 

„Kommt es dir nicht gleichfalls seltsam vor, wenn ich dein Zwitschern verstehe? Nein? Hey... ich meine, ich bin ein Mensch!“ Ich betonte das letzte Wort übertrieben und klopfte mit der Faust bekräftigend gegen meine Brust.

 

Aiwendil betrachtete mich wie jemanden, der das Offensichtliche feststellte.

 

„Menschen verstehen keine Vögel!“

Tun sie nicht?

„Nein! Das tun sie ganz und gar nicht!“

 

Die Jungpferde hatten sich nach ihrer erfolglosen Inspektion von mir abgewandt und galoppierten längst wieder ausgelassen über die Weide.

 

„Gleichfalls...“ Ich spuckte das Wort aus, wie eine faule Kirsche. Mißmutig schob ich beide Hände in die Hosentaschen und schlurfte dorthin, wo Brasfaloth zwischen all den fremden Pferden weidete. „Gleichfalls!“ Wann hatte ich angefangen, mich so antiquiert auszudrücken? Oh ja! Auch im Elbischen gab es moderne und veraltete Sprechformen. Diese hier hörte sich so an, als hätte Radagast sie aus den tiefsten Tiefen seiner Mottenkiste hervorgeholt, um Gandalf höchstpersönlich zu beeindrucken...

 

Brasfaloth hob den Kopf stolz in die Höhe, tänzelte selbstverliebt auf der Stelle und schnaubte feurig, als ich mich ihm näherte.

„Ist ja schon gut. Ja, ich weiß. Ich hab dich gestern vernachlässigt. Aber es hat dir doch an nichts gemangelt, oder? Also sieh mich nicht so vorwurfsvoll an!“

Doch Brasfaloth schnaubte nur noch lauter. Warnend. Drohend. Er wich nicht einen Schritt zurück, aber seine ganze Körperhaltung schien zu sagen: Geh weg! Oder ich stampfe dich in den Boden!

 

Unschlüssig blieb ich stehen.

„Was ist denn los mit dir? Also gut, es tut mir leid! Es tut mir wirklich leid! Ich hätte gestern nach dir sehen sollen. Ich hätte mich mit eigenen Augen davon überzeugen sollen, daß es dir gut geht und mich nicht auf die Aussage irgend eines Elben verlassen sollen. Ich habe einen Fehler gemacht...

Ist jetzt wieder alles gut?“

 

Nein. Nein, scheinbar war es das nicht. Brasfaloth bleckte nur noch feindseliger die Zähne und scharrte mit den Vorderhufen.

 

„Ich meine... es war ein Elb! Ein Elb hat mir beteuert, daß es dir gut geht, und daß ich mich nicht um dich zu sorgen brauche! Ein Elb! Kein Ork oder Zwerg. Nicht einmal ein Mensch. Also, wenn man nicht einmal den Worten eines Elben trauen darf...“

 

Brasfaloth grunzte so bösartig, daß ich drei Schritte zurückwich.

 

„Brasfaloth?“ piepste ich. Der Hengst machte mir Angst.

 

Meine Furcht beruhigte das angriffslustige Biest weit mehr als meine guten Worte. Hoheitsvoll senkte es den schlanken Hals und zupfte wählerisch ein paar Grashalme. Kaum versuchte ich aber, einen Fuß vor den anderen zu setzen, schon ruckte der Kopf ein Stück weit nach oben, die klaren Augen blitzten warnend und das tiefe Grollen in seiner Kehle verhieß nichts Gutes. Ein paar Mal wiederholte ich den Versuch. Schließlich genügte es bereits, wenn ich nur die Ferse vom Boden hob, um diese Reaktion bei ihm auszulösen.

 

„Bei allen neun Katzen der Königin Berúthiel!“ platzte mir der Kragen und ich wußte selbst nicht, ob und wieso es ausgerechnet neun sein sollten. „Entweder du benimmst dich jetzt oder ich sperre dich in den Stall bei... bei Wasser und Brot. Jawohl!“ Trotzig stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden.

 

Brasfaloth beäugte mich und gab einen belustigten Kehllaut von sich. >Dazu mußt du mich erst einmal einfangen!< sagte er auf seine Art.

 

Hinter mir lachte jemand leise. „Schimpf nicht so mit dem armen Asfaloth.“

„Schimpf nicht? Sagtest du nicht?“ Vor Empörung bekam ich kaum genug Luft für meine zornigen Worte. Ich atmete tief durch und die Erkenntnis rastete in meinem Kopf ein.

„ASfaloth?“

 

Ich wandte mich um und sah mich dem echten BRASfaloth gegenüber, keinen halben Meter entfernt stand er da, drehte die Ohren in alle Richtungen und beobachtete mich interessiert.

 

„Ha--- hast du was gesagt?“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und gerade als ich mich einer Ohnmacht nahe fühlte, entdeckte ich Lindor neben ihm. Der Elb grinste von einem Ohrläppchen zum anderen.

„Was machst du da? Willst du Glorfindels Pferd stehlen?“

 

„Ich... ähm...“ Na großartig! „Aber ja. Ja, ich wollte Asfaloth stehlen. Weißt du, das macht man so als Mary-Sue...“ Ungeniert mischte ich den bekannten irdischen Begriff in mein Sindarin. Lindor verstand es ohnehin so oder so nicht.

 

Echt toll, Elli. Gaaanz toll! Du läßt aber auch wirklich gar kein Klischee aus! Was kommt als nächstes? Krempeln wir Elronds Rat um und schließen uns den Neun Gefährten an?!!

 

Oh, warte! Du könntest Boromir vor dem Tod bewahren! Oder vielleicht Gandalf? Nein, nein. Der muß schließlich als Weißer Zauberer wiedergeboren werden. Aber Boromir... Niemand hat einen Nutzen von seinem Tod, nicht wahr...?!

 

Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten. Das war eigentlich gar nicht mal so eine schlechte Idee. Obwohl... Nein, nein, nein. Das ging nun auch wieder nicht. Oder doch?

 

Ich unterbrach meine Grübeleien erst, als Lindor mir mit einem hellen Lachen mein Zaumzeug in die Hand drückte.

 

„Du solltest dir diese Selbstgespräche abgewöhnen.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Es wirkt ein wenig seltsam, dich so intensiv mit einem nicht sichtbaren Etwas diskutieren zu sehen.“

 

Peinlich berührt hustete ich in die flache Hand. Verbarg so wenigstens einen Teil meines hochroten Gesichts.

 

„Dennoch würde es mich interessieren, wer von beiden die Auseinandersetzung gewonnen hat.“

 

„Die Vernunft...“ Ich seufzte. Schade eigentlich. Es war so langweilig, vernünftig zu sein. Besonders, wenn man ein unsterbliches Leben damit füllen sollte.

 

Doch die Vergangenheit hatte mich gelehrt, wie viele Puzzleteilchen oft an einem einzigen Detail hingen, und so verfolgte ich den Gedanken nicht weiter. Im Gegenteil. Ich nahm mir fest vor, mich so unsichtbar wie möglich zu machen, sobald die zukünftigen Gefährten eintreffen würden.

 

Im Gegensatz zu seinem angriffslustigen Bruder, ließ Brasfaloth mich geduldig gewähren, als ich ihm umständlich das Halfter anlegte. Er gab sogar ein freudiges, blubberndes Geräusch von sich und stupste mich aufmunternd und so energisch, daß ich ein paar Schritte zurückstolperte und die Enden der Bindfäden neu sortieren mußte. Oh, ich war nicht wenig stolz, als ich mich, völlig ohne Aufsteighilfe, relativ elegant auf seinen Rücken schwingen konnte! Und Lindor war einfühlsam genug, meinen Erfolg mit einem höflichen Lächeln zu quittieren.

 

Der Elb pfiff nach seinem Reittier – eine wunderschöne schokoladenbraune Stute – und öffnete das Gatter.

 

Ich erwartete nicht, daß wir den magischen Schutz Bruchtals verlassen würden und war um so erstaunter, als Lindor auf den schmalen Durchgang zwischen den Felsen zuhielt. Wortlos folgte ich meinem Führer. Auch als er jenseits der Grenze sein Pferd in einen langsamen Galopp fallen ließ, schwieg ich. Erst als er sich anschickte, den Bruinen zu überqueren hielt ich es für geraten, ihn auf diesen Umstand aufmerksam zu machen.

 

„Ähm... ist es nicht gefährlich...“, begann ich.

„Bruchtal zu verlassen?“ half Lindor mir bei der Vollendung meines Satzes. „Nicht am hellichten Tag. Nicht wirklich.“

„Nicht wirklich?“

„Wir werden uns nicht weit entfernen und bevor es dämmert, sind wir längst zurück.“

 

Was hätte ich erwidern sollen? Saruman experimentiert gerade an einer Armee herum, die dem Tageslicht trotzt?? – Aber das war ohnehin nur die Filmversion, oder? Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, wo der eigentliche Ursprung der Uruk-hai lag, und wo Saruman sein widerwärtiges Heer tatsächlich aufgetrieben hatte. Saruman hatte doch eine Armee zusammengestellt. Oder nicht? Oder war das auch Film?

 

Ich brummte unzufrieden. Ich hätte Radagast überreden sollen, meine Herr-der-Ringe-Bücher mitnehmen zu dürfen. Dann hätte ich wenigstens nachschlagen können, was ich jetzt nicht richtig zusammenbekam.

Ängstlich blickte ich nach allen Seiten. Wer konnte schon wissen, was mich hier draußen erwartete?

 

„Was heißt >nicht wirklich<?“ hakte ich nach.

„Warum so ängstlich, kleine Blume? Vertraust du mir nicht?“ Lindor parierte sein Pferd und lenkte es dicht neben Brasfaloth.

 

„Nenn mich nicht so. Bitte“, nuschelte ich. Ich wandte meinen Blick ab, fort von seiner zum Greifen nahen Fürsorglichkeit, und schloß die Augen. „Ich hab dann das Verlangen, mich fest an dich zu kuscheln und dir mein Herz auszuschütten“, fügte ich leise hinzu, obwohl mir dabei das Blut erneut zu Kopf stieg.

 

„So?“ Lindor zog das kurze Wort genau wie Radagast es stets zu tun pflegte. Erbost boxte ich zur Seite und verfehlte ihn um mindestens eine Ellenlänge. Er lachte.

„Das ist nicht witzig!“

„Nein. Das ist es nicht.“

„Warum lachst du dann?“

„Weil du dich deiner Gefühle schämst.“

„Tu ich nicht!“

„Ach?“

„Nein!“ Schmollend schob ich die Unterlippe vor und brachte Brasfaloth zum Halten.

 

Gerade wollte ich zu einer großen Verteidigungsrede anheben, als auch Aiwendil sich in die Diskussion mischte und dem Elben eifrig zustimmte.

„Ich? Wieso hätte ich etwas sagen sollen? Galvorn war es schließlich, der mich einfach hat stehen lassen!“ schimpfte ich den kleinen Vogel an, der mir mit einem ironisches Gezwitscher antwortete, welches sehr nach „Blablaablaaa!!“ klang.

 

Ich war versucht, ihn mit einer rüden Geste von meiner Schulter zu wischen...

„Und warum, zum Nazgûl, kann ich plötzlich verstehen, was er sagt?“ keifte ich Lindor zu meinem Selbstschutz an. Ich deutete mit spitzem Finger anklagend auf den kleinen Kerl.

 

Es war, als hätte mein Hieb den Elben verspätet doch noch erreicht und ihn mitten in die Magengrube getroffen. Lindor zuckte zusammen und sah mich mit großen Augen an.

„Nazgûl?“ flüsterte er. Sein Blick glitt zur Seite. „Du hast also von ihnen gehört?“

 

„Ähm...“ Nur gut, daß Lindor wußte, daß ich mehr wußte, als ich eigentlich wissen dürfte... Bestätigend nickte ich.

„Und du weißt auch von Galvorns... kleinem Problem. Dein Benehmen auf dem Kampfplatz hat dich verraten. Hat Radagast dir davon erzählt?“

Wieder nickte ich.

„Was ist auf dem Kampfplatz passiert? Ich meine, nachdem Glorfindel... na, du weißt schon... Ich war...“ Ich kratzte mich am Kopf und schürzte verlegen die Lippen. „...beschäftigt.“

 

„Das ist eine nette Umschreibung für deinen kraftvollen Wutausbruch!“ Lindor grinste spöttisch, aber seine Augen strahlten zufrieden.

„Nun?“

„Was nun?“

„Was ist passiert? Nun sag schon!“ forderte ich. „Er ist doch nicht wirklich...“

 

„Ohnmächtig geworden? Nein. Galvorn war so abgelenkt durch deine zornentbrannte Rede, daß er es schlicht vergessen hat.“

 

„Ouh... ähm...“ Vergeblich suchte ich nach passenden Worten. Das war einfach nur peinlich. So peinlich! Wahrscheinlich hatte jeder Elb in ganz Bruchtal mitgekriegt, was ich gebrüllt hatte. Warum mußten die Typen auch so gut hören! Und wo war dieses Loch zum Versinken, wenn man es brauchte?!

 

Brasfaloth trottete unberührt weiter und würdigte das verdorrte Gras keines Blickes. Vor uns erhob sich ein kahler Hügel, den sogar das übliche Pampagestrüpp mied, während es sich zu seinen Füßen drängte, als wäre es von ihm heruntergeflüchtet und verlangte nun, hinaus in die Ebene entlassen zu werden.

 

Dort hinauf lenkte Lindor sein Roß. Ein schmales Rinnsal plätscherte den steinigen Boden herab und wo es durch das dichte Gebüsch sickerte, war zugleich der einzige gangbare Weg hindurch. Selbst das Gras hatte hier keine rechte Lust zu wachsen, stand erst nur in unscheinbaren Büscheln beieinander und fehlte schließlich ganz. Es wurde ersetzt durch feinkörniges Geröll, aus dem der ganze Hügel zu bestehen schien.

 

Die Pferde hatten Mühe, diese Steinwüste zu besteigen, so daß wir schließlich absitzen und sie führen mußten.

 

Das Schweigen zwischen uns wurde immer lauter. Aus welchem Grund auch immer Lindor mich in die Wildnis führte, und was er auch mit mir besprechen wollte, scheinbar war er nicht bestrebt damit zu beginnen, bevor wir unser Ziel erreicht hatten.

 

„Von hier oben hat man einen weiten Blick über das südliche Eriador“, erläuterte der Elb, als wir – er mit leichten Schritten und aufrechtem Gang, ich schnaubend wie eine Lokomotive und mit unterstützend vorgebeugtem Oberkörper – endlich auf der Höhe ankamen.

„Weit... ja.“ Ich kniff die Augen zusammen und folgte der Richtung seines Blickes. Undeutlich und verschwommen breiteten sich grüne Hügel und Täler unter mir aus. „Du hast mich doch nicht hier herauf geführt, damit ich die Landschaft bewundern kann?“

 

 

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