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„... und er lebte glücklich bis an sein Lebensende.“

 

Stille breitete sich im Krankenzimmer aus. Nur das leise Rascheln der Decke war zu hören, als Anarion die zuvor vor Aufregung hinein verkrampften Händchen lockerte.

 

Er war auch der erste, der nach einiger Zeit das Schweigen brach: „Wann kannst du denn wieder mit uns spielen?“

Ich lächelte müde. Obwohl ich mich inzwischen schon wieder recht gut von meinem Leiden erholt hatte, hatte das Erzählen mich sehr angestrengt. „Ihr habt doch jetzt wieder Galvorn.“ Ich strich ihm eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr.

 

„Ja, schon...“, wand sich der Kleine wie ein Aal im kalten Wasser.

„Du siehst, ich bin nicht mehr interessant“, lachte der verschmähte Kinderhüter, der etwas abseits regungslos auf einem Stuhl sitzend die Geschichte verfolgt hatte, neidlos.

„Unsinn...“ Ich räusperte mich verlegen. Das war mir außerordentlich unangenehm, denn ich wollte ihm keineswegs die Sympathien der Kinder rauben. Außerdem war ich mir sicher, daß ich diese Anhänglichkeit gar nicht verdient hatte.

 

„Aber unter Galvorns aufmerksamem Blick gelingt es Anarion nicht so leicht zu mogeln“, spöttelte Gilion, verzog bekräftigend die Mundwinkel nach unten und die Augenbrauen in die Höhe.

„Das ist nicht wahr, ich mogele nicht!“

„Ach nein?“

„Naja..., aber nur ein bißchen!“

 

Öhm, hatte ich mir wirklich eingebildet, die Kleinen könnten mich besser leiden als Galvorn? Einen Moment lang wußte ich nicht, ob ich beleidigt oder erleichtert sein sollte.

„Ich mag dich trotzdem!“ versicherte mir Anarion, als er meinen enttäuschten Gesichtsausdruck sah, rutschte näher heran und schmatzte mir einen recht feuchten Kinderkuß auf die Wange.

 

„Zeit fürs Abendessen.“ Galvorn erhob sich mit einem eleganten Schwung und scheuchte die Kinderschar auf. „Gilion, bringe die anderen bitte zum Speisesaal.“

Der große Junge nickte. „Soldaten! Stramm gestanden! Folgt mir, Männer – ähm... und Frauen...!“ kommandierte er und die Knaben gehorchten seinen Befehlen wie gut geschulte Kadetten, während die Mädchen etwas pikiert ihre Näschen rümpften und dabei schon fast so eitel aussahen wie ihre Mütter.

 

Ich lächelte den Knirpsen hinterher und wandte mich Galvorn zu, der sich zwecks Patientenuntersuchung auf der Bettkante niedergelassen hatte. Er grinste ein breites, äußerst anzügliches Grinsen.

 

„Laß mich raten... du kennst die richtige Version von Bilbo?“

„Oh, ich gestehe ein, deine war weit origineller.“

„Ha-ha.“ Ich rückte mich im Bett zurecht und wartete, bis er meinen Puls gefühlt hatte. „Noch Fieber?“

Er schüttelte den Kopf.

 

„Weißt du, ich hab ein furchtbar schlechtes Gedächtnis. Deshalb mußte ich bereits improvisieren, als ich den Kindern die Geschichte das erste Mal erzählt habe.“

Er nickte verstehend und deutlich amüsiert.

„Sie haben mich ganz schön ins Schwitzen gebracht, weil sie sich besser an meine ursprüngliche Version erinnern konnten als ich selbst.“

 

„Aber schließlich konnte niemand ahnen, daß sie unbedingt die gleiche Geschichte noch einmal hören wollten, nicht wahr?!“ immitierte Galvorn mich feixend in Tonfall und Redeart.

 

„Konnte ich auch nicht!“ Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust und fiel kurz darauf in Galvorns vergnügtes Lachen ein.

 

Es war aber auch zu ulkig gewesen, wie die Kleinen mich immer wieder aufgeregt unterbrochen und mit kindlichem Ernst erklärt hatten, daß ich da etwas durcheinander gebracht und wie es sich tatsächlich zugetragen hatte.

 

„Was mich interessieren würde: Wie schaffst du das nur alles alleine?“

„Wie meinst du das?“

„Naja, die Knaben, die Mädchen, die Wickelkinder und als Heiler bist du auch noch tätig!“

„Wer behauptet denn, daß ich das alleine schaffe?“

 

„Öhm, naja...“ Das hatte Radagast gesagt. Oder nicht? Hatte der alte Zauberer mich etwa wieder an der Nase herumgeführt? Und wo steckte der eigentlich? Ich meine... Was um alles in Mittelerde hatte sein Alterego so lange da draußen in den Wäldern zu suchen?!

Nicht daß ich ihn vermißt hätte. Galvorns Gesellschaft war mir ungleich angenehmer.

 

„Man muß nicht immer alles alleine tun“, erklärte der verboten gutaussehende Elb und ich konnte nicht anders, als in seinen wundervollen Augen zu ertrinken, als er bei diesen sanft gesprochenen Worten nahe an mich heranrückte – um die Decke über meine Schulter zu ziehen, nachdem er den Verband einem prüfenden Blick unterzogen hatte.

 

Nur den Verband wohlgemerkt. Die Wunde selbst hatte er nie versorgt, sondern dafür stets nach einer kleinen, dunkelblonden Elbin geschickt, von der er sich dann beschreiben ließ, ob die Rötung zu- oder abgenommen hatte und ob sich immer noch Eiter in ihr sammelte. Alles möglichst unauffällig natürlich, und ich bezweifelte daß es mir aufgefallen wäre, hätte ich nicht um seine Blut-Phobie gewußt.

 

Ich schmunzelte in mich hinein.

 

„Niemand kann das. Manchmal muß man sich einfach helfen lassen. Nimm Gilion zum Beispiel. Er ist alt genug, um gelegentlich auf die kleineren aufzupassen. Dabei lernt er außerdem Verantwortung übernehmen.“

 

„Ah... und er muß immer dann einspringen, wenn du woanders gebraucht wirst?“

„So ungefähr.“ Galvorn lachte fröhlich, ein Lachen, in das man sich einfach verlieben mußte! Dabei glänzten seine grünen Augen mit den hereinfallenden Strahlen der untergehenden Sonne um die Wette.

 

Ich kuschelte mich gemütlich in meine Decke und rückte ein wenig näher zu ihm heran.

„Hast du noch Halsschmerzen?“ Er zog das hölzerne Stäbchen hervor, mit dem er mir die Zunge herunterhielt, um besser in meinen Rachen blicken zu können.

„Ein wenig.“ Hmpf. Wieder nichts mit Romantik! Ungewollt begann ich zu schmollen und erntete einen verständnislosen Blick.

 

„Warum bist du eigentlich schon von Bruchtal zurückgekehrt?“

„Woher weißt du, daß ich in Bruchtal war?“

„Ähm... naja... also...“, stotterte ich. Mist! Konnte ich das vielleicht von den Kindern erfahren haben? Was, wenn die überhaupt nicht gewußt hatten, wohin er verreist war? Andererseits... wieso sollte es ihnen nicht bekannt gewesen sein?

 

Während ich mir eine Ausrede zurechtlegte, verstaute Galvorn das Stäbchen in seinem Medizinerkästchen und holte statt dessen ein paar Kräuter hervor.

„Oh, nein! Bitte nicht! Das Zeug schmeckt grausam!“

„Mund auf! Dieses grausame Zeug hat dir das Leben gerettet.“

„Hmpf...“ Das mochte ja sein, aber mußte ich diese Blätter deshalb unbedingt auf der Zunge zergehen lassen? Konnte man die nicht als Tee aufbrühen oder kauen? Wißt ihr wie lange das dauert, bis sich grüne Kräuter aufgelöst haben? Nein? Versucht es mal.

Wenigstens war ich zunächst einmal zum Schweigen verurteilt und damit einer Erklärung enthoben. Dennoch blickte ich um Erlösung bettelnd zu Galvorn. Dieses Zeug war wirklich widerlich und zog mit seinem bitteren Saft alles im Mund zusammen.

 

Der Elb jedoch ließ sich nicht erweichen. Im Gegenteil. Streng hob er eine Augenbraue in die Höhe, als ich die verhaßten Kräuter unauffällig von der Zunge herunter und in die Backe schieben wollte, wo der Geschmack nicht ganz so verheerend sein würde.

Ich seufzte.

 

„Radagast hat mich hergerufen.“

Ich gab einen fragenden Laut von mir, da ich ja nicht reden konnte.

„Du fragtest, warum ich schon zurückgekehrt bin.“

Ach so. Aber warum warst du dann so schnell hier?

 

„War ich gar nicht.“

Oh nein! Konnte er etwa doch Gedanken lesen? Oder war nur mein dümmliches Mienenspiel dafür verantwortlich?

 

„Ich schätze Aiwendils Nachricht erreichte mich in etwa zur selben Zeit, als ihr hier ankamt. Ich bin zwar sofort aufgebrochen, habe bei den schlechten Witterungsverhältnissen aber dennoch nahezu zwei Wochen für die Reise gebraucht.“

 

Dann hab ich so lange im Koma oder Fieberschlaf oder wie auch immer gelegen?

Galvorn reagierte nicht auf diese stumme Frage. Er hatte sie bereits im Vorfeld beantwortet.

 

„Ich soll dir schöne Grüße von Lindor und Liriel ausrichten. Und von Bilbo natürlich. Außerdem soll ich dich daran erinnern, daß du auf gar keinen Fall vergessen darfst, den Orküberfall in deinen Aufzeichnungen zu beschreiben.“

 

Ich stöhnte und wandte hochrot mein Gesicht ab. Wie peinlich, wenn Radagast ihm erzählt hatte, wie hasenfüßig ich mich benommen hatte! Andererseits... er würde mich vielleicht besser verstehen als irgend jemand sonst.

 

Was er wohl alles über mich wußte? Hatte Lindor dicht gehalten was meine Herkunft und den Grund meines Hierseins betraf? Doch sicher. Auf Lindor war Verlaß!

 

Oh nein! Ich stöhnte noch kläglicher. Er hatte ihm doch hoffentlich nicht von meinem Alkoholproblem erzählt! Ich bemühte mich, meinen Hals zu klären, ohne dabei die Kräuter zu verschlucken. Nein, so taktlos war Lindor nicht. Aber Bilbo kannte da sicherlich weniger Skrupel und seine Schwester hatte es sich bestimmt nicht nehmen lassen ihm zu erzählen, wie ihrer beider Vater von einer betrunkenen Menschenfrau geohrfeigt worden war!

 

„Oh, ach ja, und Glorfindel hat sich nach dem Wohlbefinden seines Pferdes erkundigt.“

WAS? Seines Pferdes? Aufgebracht schnaufte ich aus und funkelte Galvorn an. Mein Zorn hielt genau so lange, bis ich das schelmische Funkeln in seinen Augen erkannte.

„Und er wünscht dir natürlich ebenfalls gute Besserung.“

 

„Daf – ift - jepft - mein - Pfed!“ lallte ich protestierend und verschluckte mich an der Kräutermatsche. Hustend richtete ich mich auf, preßte beide Hände vor den Mund und versuchte, die Pampe heimlich zwischen den Zähnen hindurch nach draußen zu schieben.

 

„Ä-äh! Nichts da!“

 

Gilion hatte recht. Diesen scharfen Augen entging wirklich nichts!

 

„Hab Erbarmen!“ keuchte ich.

„Mit dir immer, aber niemals mit einer Krankheit!“ lächelte Galvorn, schob mich unglaublich charmant zurück in die Kissen, nahm mir die vollgesabberten Kräuter ohne mit der Wimper zu zucken aus der Hand und stecke sie zurück in meinen Mund. Dann hob er ein Tuch vom Tisch nebenan und wischte mir und sich selbst die Hände daran ab.

 

„Ich verspreche dir, es ist das letzte Mal, daß du dies ertragen mußt.“

Ich quietschte gequält, entdeckte aber im nächsten Moment etwas, das meine Laune augenblicklich steigen ließ.

 

Radagast hatte nach Galvorn geschickt. Wohl weil keiner der waldländischen Heiler mich erfolgreich hätte behandeln können. Und er war gekommen! Wegen mir! Den weiten Weg von Bruchtal! Und bei Schneetreiben und –

>und obwohl er dich überhaupt nicht kannte, du naives, kopflos vernarrtes Wesen!<

 

Kraftlos winselnd sank ich in mich zusammen. Meine innere Stimme hatte ja recht. Galvorn hatte auf Radagasts Wunsch reagiert, und das hatte überhaupt nichts mit mir zu tun. Aber... mußte sie deshalb im Waldland-Dialekt zu mir sprechen?! Das konnte nur bedeuten, daß ich endlich den Verstand verlor, der mir eigentlich schon längst hätte abhanden gekommen sein sollen!

 

„Elanor?“ Galvorn klang ehrlich besorgt und befühlte prüfend meine Stirn. „Elanor, was ist mit dir?“

Ich schüttelte den Kopf und verzog die Lippen mühsam Richtung Ohrläppchen; wedelte abwehrend mit der Hand.

 

„Kennft du ihn fon lange?“ Hey, das ging immer besser! Diesmal mußte ich nicht einmal husten! Triumphierend strahlte ich den Elben an, der etwas ratlos auf mich herabblickte.

„Wen?“

Oh, na okay. Mit der Nachverfolgung verwickelter Gedankengänge klappte das noch nicht so gut. Da war ihm sein Vater eindeutig voraus. Aber der war schließlich auch schon fünftausend Jahre älter, nicht wahr.

 

„Fadagaft“, erklärte ich also bereitwillig. Denn daß er eine besondere Beziehung zu dem Zauberer haben mußte, wenn seine Wünsche ihm so viel bedeuteten, stand für mich außer Frage.

 

Galvorn nickte und hob zu seiner Antwort an, als jemand drängend an die Tür klopfte und ohne eine Aufforderung abzuwarten eintrat.

 

Der Elb sah wie ein Krieger aus. Einer der Grenzwachen vielleicht. Er trug volle Bewaffnung und wirkte auf mich als käme er geradewegs von seinem Posten. Er winkte Galvorn zu sich und flüsterte ihm etwas zu. Ich beobachtete die beiden aufmerksam, erhielt aber keinen Hinweis auf den Grund dieser Unterbrechung.

 

Der Wächter verschwand und Galvorn wandte sich mir wieder zu, jedoch nur, um mich zu ermahnen, die Kräuter im Mund zu behalten und mir eine gute Nacht zu wünschen. Dann verließ auch er das Zimmer.

 

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Er hatte so ernst gewirkt. Was mochte der Grenzwächter nur von ihm gewollt haben? Nachdenklich starrte ich zur Decke und wartete darauf, daß die Kräuter sich auflösten und die dunkelblonde kleine Elbin mir mein Abendessen brachte.

 

~*~

 

 

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