Schon
gestern hatte Radagast mich so mißtrauisch betrachtet und mir die fiebrige
Stirn befühlt. Heute merkte auch ich, daß etwas mit mir nicht stimmte. Und
damit meine ich nicht die üblichen Erkältungserscheinungen.
Mir war schwindlig,
und das bis zu einem Grad, an dem ich nicht mehr alleine auf den Füßen stehen
konnte. Ich hatte die letzten beiden Nächte kaum geschlafen und fühlte mich
abgeschlagen und völlig energielos. Die Kopfschmerzen wüteten in meinem Schädel
wie eine ganze Kolonie von Zwergen mit Hämmern und Äxten und selbst die
geringen Lichtstrahlen, die durch die geschlossenen Fensterläden fielen, taten
meinen Augen weh. Meine Wäsche war verschwitzt und klebte an meinem Körper.
Doch das
war alles weiter nichts besonderes. Die neuen Schmerzen in meinem Arm führte
ich zunächst auf eine Entzündung der Wunde zurück. Tatsächlich war die Haut um
die Verletzung rot und empfindlich, als Radagast den Verband wechselte. Seine
in tiefe Furchen gelegte Stirn verhieß nichts Gutes.
Und jetzt
kaute ich lustlos an dem Frühstück herum, das der Istar mir aufs Zimmer
gebracht hatte – das heißt, ich versuchte zu kauen. Die erforderliche
Muskulatur jedoch war so steif, daß ich die frische Brotkruste kaum abbeißen
konnte.
Wäre ich
nicht in einer modernen Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen, hätte ich nun
genau gewußt, was mit mir los war, doch so brachte ich dieses Symptom nicht in
Verbindung mit einer Krankheit, die in unseren Landen frühzeitig durch
regelmäßige Impfungen unterbunden wird – sofern man nicht wie ich zu faul oder
vergeßlich ist, alle paar Jahre einmal in seinen Paß zu gucken.
Statt
dessen glotzte ich nun den Istar an und machte ein paar gymnastische Bewegungen
mit dem Unterkiefer, um seine Gelenkigkeit zu testen und dem Alten gleichzeitig
zu bedeuten, daß ich unter einer gewissen Bewegungseinschränkung litt. Es war
nicht so, daß ich den Kiefer gar nicht mehr bewegen konnte, aber irgendwie
fühlte er sich komisch an – steif eben.
Radagasts
Miene verdüsterte sich noch mehr. Er fokussierte einige Minuten lang meine
Augen und grummelte dabei wirres Zeug vor sich hin. Schließlich erhob er sich
mit einem Ruck.
„Pack
deine Sachen. Nein-“, korrigierte er sich hastig und begann bereits meine
herumliegenden Utensilien in das Bündel zu stopfen, „ich mach das schon. Iß
auf. Ich bezahle derweil die Rechnung und mache die Pferde bereit.“
„Was ist
denn los? Müssen wir wieder aufbrechen? Ich will schlafen!“ murmelte ich müde.
„Wir
müssen zurück ins Waldelbenreich“, schüttelte Radagast den Kopf. „Ich weiß, daß
du nicht stehen und nicht reiten kannst. Ich werde dich nötigenfalls festbinden
müssen.“
Mit
diesen Worten war er aus der Tür verschwunden und ich bekam das ungute Gefühl,
daß wir jetzt vor mehr als einem unwissenden Verlobten oder einem doppelten
Zauberer flüchteten. Mehr noch. Ich spürte Furcht in mir aufsteigen. Man mußte
nun wirklich nicht sehr intelligent sein, um Radagasts seltsames Verhalten mit
meiner ebenso kuriosen Krankheit zusammen zu bringen. So begriffsstutzig war
nicht einmal ich.
Wenn der
Alte es für nötig hielt mich deshalb zurück zu den Elben zu bringen und damit
das Risiko einging, seinem Alter Ego über den Weg zu laufen, mußte mein Zustand
wahrhaftig kritisch sein!
Erspart
mir bitte die Beschreibung unseres Rückweges. Es war... entwürdigend!
In diesen
drei Tagen wurde meine Kaumuskulatur zunehmend steifer und auch andere
Muskelgruppen fühlten sich nun ungelenk an und neigten zu Verkrampfungen. Doch
dies mochte an dem beschwerlichen Ritt liegen. Ich konnte – und wollte – das
nicht einschätzen.
Aiwendil
war wieder aufgetaucht. Keine Ahnung wo er die ganze Zeit gesteckt hatte. Er
schien immer dann da zu sein, wenn Radagast ihn brauchte. Der Zauberer trug ihm
eine Botschaft auf und befestigte einen winzigen Zettel an seinem Fuß, den er
dem leitenden Heiler der Waldelbenstadt überbringen sollte. Er enthielt eine
kurze Beschreibung meines Leidens, dessen Bezeichnung ich auf Sindarin nicht
verstand und wovon Radagast wiederum den deutschen Namen nicht kannte.
Wahrscheinlich
war das auch besser so. Vermutlich hätte ich mich nämlich daran erinnert, daß
Wundstarrkrampf in den meisten Fällen tödlich endet.
Das
nächste, das ich sah, als ich aus einem komatösen Zustand erwachte, war das
sorgenvolle Gesicht eines Elben, der sich über mich beugte. Ich konnte ihn nur
verschwommen sehen – also noch undeutlicher, als dies nur durch das Fehlen
meiner Brille der Fall gewesen wäre. Deshalb dauerte es auch eine Weile, bis
ich die vertrauten Züge erkannte.
„Lindor?“
hauchte ich. Die Lider wurden mir schwer. Sie flackerten unter meinen
Bemühungen die Augen offen zu halten und versagten mir schließlich den
Gehorsam.
„Sie hat
noch immer hohes Fieber“, hörte ich Radagasts Stimme auf der anderen Seite des
Bettes.
„Es wird vergehen“,
antwortete Lindor. Für einen Moment bildete ich mir ein, daß seine Stimme einen
anderen Klang hatte, aber genaugenommen hörte ich ohnehin wie durch einen
dichten Schleier, der alle Geräusche verzerrte. „Sie braucht jetzt Ruhe.“
Ich
spürte eine Bewegung neben mir, wie wenn sich jemand von der Bettkante erhebt.
„Lassen
wir sie schlafen. Ich habe alles getan was möglich ist.“
Gleich
darauf schlief ich tatsächlich. Tief und traumlos.
Aufgeregtes
Getuschel und eine gedämpft ärgerliche Stimme weckten mich.
„Was
macht ihr hier? Los raus mit euch. Kann man euch denn keine Minute aus den
Augen lassen?“ tadelte der Elb, der jetzt eindeutig nicht nach Lindor klang.
Neugierig
öffnete ich die Augen und mußte angesichts der Kinderschar, die um mein Bett herumwuselte
trotz meiner Schwäche grinsen.
„Sie ist
wach!“ quietschte Anarion und hüpfte ganz aufgeregt auf dem unteren Rand meiner
Decke auf und ab.
„Dafür
habt ihr Racker auch ganz hervorragend gesorgt“, stellte der dunkelhaarige Elb
amüsiert fest, machte aber keinerlei Anstalten, die Knaben wieder aus meinem
Zimmer zu vertreiben. Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen an der Tür
und lächelte mich an. „Wie fühlt Ihr Euch?“
„Gleich
wesentlich besser, wenn Ihr Euch erst gar nicht die förmliche Anrede
angewöhnt“, versuchte ich zu scherzen und erschrak selbst über mein dürftiges
Flüstern.
Ich
fühlte mich als hätte mir jemand sämtliche Lebensenergie aus den Adern gesaugt.
Gab es in Mittelerde Vampire? Wenn überhaupt, dann wohl im Düsterwald.
Apropos
Düsterwald. Genau dort befand ich mich also gerade, was die kleinen Elben mir
bewiesen und auch das Zimmer, in dem ich untergebracht war. Obwohl Radagast
mich hierher hatte bringen wollen, war ich nun ziemlich verwirrt. Ich hatte
geglaubt, Lindor erkannt zu haben und mich deshalb in Bruchtal vermutet.
Unsicher wanderten meine Augen hinüber zu dem Unbekannten an der Tür. Er hatte
tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Noldo – zumindest nach den
schwarzen Haaren und dem anzüglichen Grinsen zu urteilen, das immer breiter
wurde, je dämlicher ich dreinblickte.
Dann
erkannte ich, daß nicht ich der Grund für seine Heiterkeit war, sondern die
Kinder, die es sich nach und nach auf meinem Bett gemütlich machten und so nahe
zu mir heraufrutschten, wie es ihre im Weg sitzenden Gefährten zuließen.
„Erzählst
du uns eine Geschichte?“ Anarion war einfach nicht mundtot zu kriegen.
„Oh ja!
Bitte!“ stimmten die anderen ein, was mich dazu veranlaßte, hilfesuchend zu dem
erwachsenen Elben zu sehen.
„Ich
würde ebenfalls gerne eine deiner Geschichten hören. Die Kinder schwärmen nun
schon seit meiner Rückkehr davon.“ Er entließ seine Arme aus der steifen
Haltung und bewegte sich geschmeidig auf uns zu. „Aber das muß warten bis
Elanor sich kräftiger fühlt“, ermahnte er die Knaben. Er hob nur einmal kurz
die Augenbraue mit einem leichten Wink zur Tür und augenblicklich folgten sie
seinem Gebot. Murrend und unzufrieden und eindeutig enttäuscht.
Moment mal.
Hatte er gerade von seiner Rückkehr gesprochen? Ich blinzelte. Verdrängte den
Gedanken, der in meinem benebelten Gehirn aufkam und schloß kurz kraftsuchend
die Augen.
„Denkst
du, daß du etwas essen kannst?“ Die Worte erklangen dicht neben mir und ich nahm
allen Mut zusammen, um meine Augen wieder zu öffnen und in die seinen zu
blicken. Daraus glänzte mir das strahlendste Smaragdgrün entgegen, das ich
jemals gesehen hatte!
Ich
schluckte. Mein Herz begann zu rasen und ich starrte ihn an wie eine Irre. Zu
allem Übel versuchte ich dann auch noch etwas zu sagen. Was, wußte ich selbst
nicht. Es blieb sich aber auch gleich, weil ich sowieso kein Wort herausbrachte
und nur irgend etwas Unverständliches stotterte.
Er
lächelte mich an, was wohl eine beruhigende Wirkung haben sollte, mich aber nur
noch mehr aus der Fassung brachte. Danach befühlte er meine Stirn, woraufhin
ich endgültig zusammenbrach – bildlich gesprochen. Ich spürte, wie mir das Blut
in den Kopf stieg und hoffte, daß er das auf mein Fieber zurückführen würde.
Aber konnte ich das von einem erfahrenen Heiler wirklich erwarten?
„Wo – wo
ist Radagast?“ brachte ich endlich heraus, bevor die Situation völlig außer
Kontrolle geriet.
„Er
durchstreift den Wald auf der Suche nach etwas Geheimnisvollem, das er nicht
näher erklären wollte. Es muß wohl etwas sehr Wichtiges sein, da er
aufgebrochen ist, kaum daß er dich hier in meiner Obhut wußte.“ Er betrachtete
mich nachdenklich. „Aber er hat nunmal ein paar seltsame Angewohnheiten und man
sollte besser nicht versuchen, ihn zu verstehen.“
„Wem
sagst du das...“ Ich konnte ihm schlecht erklären, daß das da draußen ein
anderer Radagast war, nicht wahr? „Hat er gesagt, wann er wiederkommt?“
Er
schüttelte bedauernd den Kopf. „Nur, daß er zurückkehrt, sobald eine gewisse
Problematik gelöst ist.“
Ich
grinste müde. Der gute, alte Radagast. Wenigstens dieses Mal hatte er mich
nicht gänzlich ohne Anhaltspunkt gelassen. Er würde kommen, wenn sein anderes
Ich gegangen war.
Ich
stutzte als mir auffiel, daß ich gar nicht wußte, wie lange das dauern würde!
Deprimiert unterdrückte ich ein Kraftwort, für das ich gerade ohnehin zu
schwach war.
„Ich
denke eine warme Brühe würde dir ganz gut tun“, entschied mein Heiler, da ich
offensichtlich nicht in der Lage war, seine Frage von vorhin zu beantworten.
Wie sein
Gesichtsausdruck mir verriet, waren meine internen Selbstgespräche ihm nicht
entgangen. Na, hoffentlich konnte er nicht auch noch Gedanken lesen! Das alles
war auch so schon peinlich genug!
„Ruhe
dich aus. Du wirkst angespannt.“ Fürsorglich schob er mir das Kopfkissen
zurecht und wandte sich zum Gehen. „Ich werde jemanden mit deinem Essen
herschicken. Wenn dir sonst noch etwas fehlt, schicke nach Galvorn.“
Galvorn...
Also doch. Seine Vertrautheit mit den Kindern war ein weiteres Indiz dafür
gewesen. Nun war es Gewißheit.
„Galvorn?“
murmelte ich leise, als er schon an der Tür war, „Danke!“
Er nickte
freundlich und verließ das Zimmer.
Nachdem
er gegangen war, atmete ich explosionsartig aus. Am liebsten hätte ich mich
geohrfeigt oder in den Hintern gebissen oder die Stirn gegen eine Wand gerammt
oder...! Wie konnte man sich nur so dermaßen dämlich anstellen?! Er mußte mich
jetzt doch für einen Volltrottel halten! Wo war das Loch, in das ich versinken
konnte? Oder der Hebel, um die Zeit zurückzudrehen? Ob ich mich bei einem
zweiten Versuch wirklich geschickter anstellen würde? Ich bezweifelte es.
Und
überhaupt. Wo war denn die ganze Romantik geblieben, die unweigerlich zu solch einem
besonderen und außergewöhnlichen Moment gehörte? So hatte ich mir unser erstes
Zusammentreffen nicht gedacht! Er hatte mich behandelt wie jeden anderen
Patienten und obwohl es mich eigentlich hätte freuen sollen, daß er nicht zu
den Männern gehörte, die gleich jedes weibliche Wesen anmachen, fühlte ich mich
doch in meinem tiefsten Innern gekränkt.
Ich zog
eine Schnute und seufzte leidend. Eine Ahnung stieg in mir auf, daß es gar
nicht so leicht werden würde, sein Herz zu gewinnen. Wie hatte ich mir das
eigentlich gedacht?
>Gar
nicht natürlich. Denken ist etwas für intelligente Wesen, zu denen du nicht
gehörst, Elli!<
„Ach,
halt die Klappe!“ bellte ich heiser, zog grummelnd die Decke etwas höher an den
Hals heran und döste langsam ein.
~*~