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Ich polierte mit dem Ärmel ein Guckloch in die vereiste Fensterscheibe und blickte gelangweilt hinaus. Händler, Bettler, Botenjungen, vornehme und weniger vornehme Damen, wichtige Männer und solche, die sich dafür hielten und ein paar verwahrloste Kinder tummelten sich auf der Straße vor dem Wirtshaus. Ein altes Mütterchen schlurfte steifbeinig durch den Schnee und hatte Probleme, nicht auf der darunter liegenden Eisschicht auszurutschen. Keiner der vorbeigehenden Männer schenkte ihr Beachtung oder Hilfe. Auch der ältere Herr, der einem jungen Taschendieb hinterherbrüllte, aber nicht mehr gelenkig genug war ihn zu verfolgen, erntete Gleichgültigkeit. Da hinten versuchte wenigstens jemand halbherzig ihn zu stoppen, machte aber sofort Platz, als der Gauner ein Messer zückte. Ich kam mir ein bißchen vor, als wäre ich wieder zuhause. Das da unten könnte eine Szene aus jeder beliebigen Fußgängerzone Deutschlands sein. Die Leute waren ein wenig schmutziger und die Kleidung mutete mittelalterlich an. Aber die Passivität gegenüber den Bedürfnissen anderer war die gleiche.

 

Ich schlürfte einen Schluck heißen Kräutertee. Seltsam. Früher war mir das nie so bewußt geworden. Ich hatte in dieser Gesellschaft gelebt und war selbst einer dieser vielen Uninteressierten. Natürlich. Niemand gab das gerne von sich zu. Das nagte zu sehr am eigenen Selbstwertgefühl. Glücklicherweise gab es auch noch Menschen, die etwas mehr Mut besaßen und sich gegen die Masse stellten. So wie das dürre Mädchen, das gerade dem Mütterchen anbot, sich auf seiner Schulter zu stützen.

 

Ich lächelte, nieste herzhaft und betupfte meine Nase mit dem schon recht gefüllten Taschentuch. Das unfreiwillige Bad war also doch nicht ganz ohne Folgen geblieben. Es war zwar nur eine leichte Erkältung, aber diese Kopfschmerzen waren kaum zum Aushalten und meine Augen dankbar für das trübe Wetter. Ich hatte so eine Ahnung, daß helles Sonnenlicht ganz unbarmherzig in ihnen gebrannt hätte.

 

Gähnend wandte ich mich erneut meinen Notizen zu. Da ich in meinem angeschlagenen Zustand und bei dem immer neu einsetzenden Schneefall das Gasthaus nicht verlassen konnte, hatte ich beschlossen, mich endlich an die Aufzeichnung meiner Reiseerlebnisse zu machen.

 

Mal sehen. Was hatten wir denn da? Einen ereignislosen Ritt nach Rhosgobel, eine langweilige Wartezeit, noch einen Ritt zum Waldelbenreich, einen nicht wirklich erzählenswerten Aufenthalt dort und wieder eine Weiterreise. Nicht zu vergessen einen Aufpasser, der über meine etwaigen Dummheiten wachte. Oh, ach ja und eine Erkältung. Ich nieste gequält. Zwei Erkältungen...

 

Meine Hand verweilte mit der Feder auf dem Weg zum Tintenfaß und ohne sie einzutauchen zog ich sie wieder zurück. Ich fluchte leise vor mich hin. Von dem einzigen wirklich spannenden Ereignis hatte ich nichts mitbekommen, weil ich in den Fluß fallen und bewußtlos hatte werden müssen! Ich fluchte lauter und ärgerlicher. Es mußte etwas geschehen, wenn ich Bilbo einen halbwegs zufriedenstellenden Bericht vorlegen wollte!

 

Es war am dritten Tag meines Aufenthaltes in Esgaroth. Ich verließ angeödet den Fensterplatz und durchmaß die wenigen Meter meines Zimmers mit unsicheren Schritten. Die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden und ich hatte nicht besonders gut geschlafen. Seit einer Stunde hatte ich heute das Pergament und die Feder angestarrt und gerade resigniert festgestellt, daß meine Geschichte gar nicht mehr langweiliger werden konnte.

 

Das war der Moment, wo ich zu improvisieren begann. Eine letzte Scheu, die ich nicht gleich überwinden konnte, ließ mich noch zögern, doch letztendlich gab ich dem inneren Drang nach Abenteuer und Anerkennung nach. Schwungvoll nahm ich die Feder auf und war erstaunt, wie schnell und leicht sie auf einmal über die Seite huschte.

 

Was ich aufschrieb hatte rein gar nichts mit meinen wirklichen Erlebnissen zu tun. In meiner Geschichte war ich die strahlende Heldin. Ich schlug mich tapfer in einem grauenerregenden Kampf gegen dreißig Orks auf ihren räudigen Wargen, denen ich haufenweise die Köpfe mit einem einzigen Schwerthieb abschlug. Als ich dies niederschrieb war mir durchaus bewußt, wie schwer es selbst einem ausgewachsenen Mann fällt, einen Kopf mit einem Schlag abzutrennen – selbst wenn dieser auf dem Henkerblock liegt und der Vollstrecker sein Handwerk versteht. Aber darüber machte ich mir keine großen Gedanken und schob es leichtfertig auf die vorzügliche Qualität meiner Mithrilklinge.

 

Von dem Orküberfall schlitterte ich sogleich in einen aussichtslos erscheinenden Kampf gegen zwei üble Trolle. Ich besaß plötzlich einen Elbenbogen und schoß wie ein Weltmeister. Die Pfeile durchdrangen jedoch den dicken Pelz der Bestien kaum und bewirkten nur, daß diese noch wilder wurden. Mein Arm tat mir bereits weh vom häufigen Spannen der Sehne und langsam drohten meine Kräfte zu schwinden. Immer wieder wich ich den Trollen aus, die jetzt so laut schnauften wie eine Lokomotive – nun gut, dieses neumodische Gefährt würde ich Bilbo später erklären müssen, aber jetzt hätte mich eine Umformulierung nur in meinem Schreibfluß gestört.

 

Wie ich die Biester schlußendlich doch noch erledigte, weiß ich nicht mehr so genau. Jedenfalls war ich halbtot und blutüberströmt und wäre sicher gestorben, wenn mich nicht ein ritterlicher Elb gefunden und auf sein edles Roß gehoben hätte. Einfallslos wie ich war, mußte Legolas als Opfer herhalten. Bereits nach seinem ersten Blick auf die wunderschöne Maid, die plötzlich eine ganz fatale Ähnlichkeit mit einer Elbin hatte, war er ganz verrückt nach ihr. Es folgten noch weitere heroische Kämpfe gegen fette Spinnen und schwarze Eichhörnchen und eine wilde Liebesgeschichte mit heißem, leidenschaftlichen Sex.

 

Meine Erzählung verlor immer mehr jeden Bezug zur Realität, aber das störte mich nicht im Geringsten. Als ich endlich nach einigen Stunden die Feder aus der jetzt tatsächlich schmerzenden Hand legte, hatte ich den wohl sinnlosesten Kitschroman zusammengeschrieben, den Mittelerde jemals gesehen hatte.

 

Müde schüttelte ich die Benommenheit ab und erwachte wie aus einem Traum. Verstört betrachtete ich die vielen beschriebenen Seiten. Mein eben noch so selbstzufriedenes Lächeln erstarb und machte einem zynischen Grinsen Platz.

„Und so wurde die erste Mary-Sue geboren!“ lachte ich, zerknüllte die Blätter und feuerte sie achtlos in die nächste Ecke.

 

~*~

 

 

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