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Dank unserer übellaunigen und kontaktscheuen Retter hatten auch unsere Pferde den Kampf unverletzt überstanden. Als ich am nächsten Morgen noch ein wenig schlaftrunken unter der Zeltplane hervorkroch, ließen sie sich gerade von Grimbeorn mit saftigen Äpfeln verwöhnen und zutraulich die Ohren kraulen. Auch Radagasts Brauner wohlgemerkt! Ich stand da und staunte und starrte den grimmigen Mann an und staunte noch mehr. Er kümmerte sich so zärtlich um die beiden Pferde, als wären sie seine geliebten Kinder und sah dabei so zahm und sanft aus, wie ein Lämmchen.

 

Ich betrachtete das Schauspiel eine Weile, dann zog ich mich lächelnd zurück. Radagast hatte ganz recht, wenn er sagte, daß unter der rauhen Schale irgendwo ein guter Kerl zu finden war. Einer, der tolpatschige Menschenfrauen vor dem Ertrinken rettete und armen Reisenden ein Zelt aufbaute, um sie vor den Unannehmlichkeiten des Unwetters und den Folgen eines zu kalten Bades zu bewahren. Und nicht zuletzt fürsorglich die ganze Nacht das wärmende Feuer unterhielt.

 

Von den anderen seines Volkes war nichts zu sehen. Ebensowenig wie von den getöteten Wölfen und Orks. Es verlangte mich aber auch nicht wirklich nach deren Anblick, nicht einmal danach zu erfahren, wo die Leichen hingekommen oder an welchen Verwundungen sie gestorben waren. Grimbeorn trug nämlich keine Waffen bei sich... Wahrscheinlich war es besser, es einfach nicht zu wissen.

 

Der Himmel war wolkenfrei und versprach einen herrlichen Tag. Langsam ging ich hinüber zu Radagast, der gerade anfing das Zelt abzubauen. Wie es aussah hatte Grimbeorn nur darauf gewartet sein Eigentum mitzunehmen, bevor er den Seinen nach Hause folgte.

 

„Guten Morgen!“ begrüßte mich der Zauberer gutgelaunt. „Komm her und hilf einem alten Mann.“

 

„Gu-en M-moorgen...“ Ich gähnte herzhaft. „Seid ihr schon lange auf?“ Meine Hilfe bestand zunächst einmal darin, daß ich mich neben Radagast stellte und versuchte, meine Augen vom Schlafsand zu befreien. Da ich nur eine Hand dafür zur Verfügung hatte, dauerte es doppelt so lange wie gewöhnlich und als meine Katzenwäsche endlich beendet war, wurde mein Beistand nicht mehr benötigt. Die Plane lag ordentlich zusammengerollt neben den noch glühenden Resten des Lagerfeuers.

 

„Eine Weile“, grinste Radagast mich an. „Wir konnten nicht mehr schlafen, da ein gewisser Jemand zu laut geschnarcht hat.“

„Wer? Ich? Ich schnarche nicht!“ Ich legte den freien Arm über den festgebundenen, was in etwa einem empörten Verschränken beider gleichkam.

„Neeein“, dehnte der Alte ironisch. „Keine Frau tut das. Niemals!“ Er zwinkerte mir schelmisch zu, und ich schürzte beleidigt die Lippen.

 

„Ich hab nicht einmal geschlafen!“

„Oh, gegen Morgen schon. Auf jeden Fall. Und wie!“

 

„Und wie geht’s jetzt weiter?“ lenkte ich schnell ab, bevor er den Beorninger als Zeugen herbeirufen würde.

„Was denkst du? Wir werden natürlich unseren Ritt zur Seestadt fortsetzen.“

 

„Aber ich kann mit einer Hand nicht reiten!“ protestierte ich.

„Wieso nicht?“

„Weil, weil...“ Ich verstummte.

„... du es noch nicht versucht hast?“ half Radagast mir auf die Sprünge.

 

„Hmpf...!“ Was hätte ich dazu noch sagen sollen? Natürlich hatte ich es noch nicht versucht und dieser listige Greis wußte das ganz genau. Er hatte mich wieder einmal in meiner eigenen Dummheit gefangen.

Seufzend gab ich klein bei.

 

„Kannst du mir mal bitte die Knöpfe da vorne zumachen?“ Ich deutete auf die Verschlüsse meiner Jacke. Ich hatte nur in den linken Ärmel schlüpfen können und die rechte Hälfte einfach über die Schulter geworfen. Meine Bluse hatte man mir gar nicht erst ausgezogen, sondern die Wunde durch den vergrößerten Riß verbunden. Das sah zwar nicht besonders elegant aus, war mir aber sehr angenehm, da ich andernfalls nun halbnackt vor dem Istar gestanden hätte.

 

„Muß der Arm überhaupt festgebunden werden? Die Wunde scheint mir nicht sehr beeindruckend zu sein...“

„Hast du Angst ohne seine Unterstützung zu reiten?“

„N-nein. Aber es ist doch unpraktisch. Ich komm mir vor wie ein hilfloses Kind. Ich kann mich ja nicht einmal alleine anziehen.“

 

Radagast warf einen prüfenden Blick auf den Verband und schloß dann umständlich die Knöpfe.

„Es ist besser du schonst den Arm. Die Wunde ist tiefer, als sie scheint.“

„Wirklich?“ fragte ich ungläubig und drückte mit der linken Hand an der Schulter herum, bis Radagast mich daran hinderte. „Warum tut es dann kaum weh?“

 

„Ich habe ein wenig“ – er fummelte spöttelnd mit den Fingern vor meiner Nase – „gezaubert.“

„Sehr witzig!“

„Um ehrlich zu sein, ich habe nur ein paar schmerzlindernde Kräuter unter den Verband geschoben.“

 

„Ist es schlimm?“ Ein bösartiger kleiner Teil von mir hoffte, daß Radagast die Frage bejahen würde. Wenn der Hieb auf die Schulter kräftig genug gewesen war, konnte ich vielleicht behaupten ich sei seinetwegen in den Fluß gestürzt – und nicht durch meine eigene Ungeschicktheit.

„Das Schwert war stark verunreinigt. Das kann manchmal unangenehme Folgen haben“, wich er aus und wandte sich außerdem von mir ab, um auch ja keine nähere Auskunft geben zu müssen.

 

„Es... es tut mir leid...“

Mit einem fragenden Laut drehte er sich um.

„Naja, daß ich mich gestern so feige benommen habe.“ Ich atmete tief durch, als das Bekenntnis endlich über meine Lippen war. Nicht, daß Radagast dieses Hinweises bedurft hätte. Aber irgendwie tat es gut, es auszusprechen.

 

Ich senkte den Kopf. Ich fühlte mich so erbärmlich. Warum zum Nazgûl hatte ich mich nicht verteidigen können?

 

„Schon gut.“ Radagast legte mir schwer seine Hand auf die gesunde Schulter. „Da haben schon ganz andere versagt.“

 

„Hat Galvorn sich so gefühlt, als...“ Ich sprach den Satz nicht zuende.

„Schlimmer. Aber das verstehst du nicht.“

„Ich möchte es aber gerne verstehen!“ beharrte ich stur und die Reue über die eigene Niederlage verging so schnell wie sie gekommen war.

 

Radagast schmunzelte und schwieg; sah mit leuchtenden Augen hinüber zu den Pferden, die der Beorninger gerade einer umfangreichen Gesundheitsprüfung unterzog.

 

„Hast du bemerkt wie fürsorglich Grimbeorn sich um die Pferde kümmert?“

Der Zauberer nickte zustimmend. „Und er spricht ihre Sprache ganz hervorragend. Die Betonung ist ein klein wenig hart, aber das liegt in seiner barschen Natur.“

„Ähm... Sprache?“

„Natürlich! Denkst du vielleicht die fürstlichsten der Tiere hätten keine?“

„Doch schon, aber... Weiß auch nicht. Ich hab mir noch nie Gedanken darüber gemacht.“

 

Radagast blickte mich scheel von der Seite her an. „Du tätest gut daran dir Gedanken über die Wahl deiner Gedanken zu machen, statt soviel Unsinn und Nebensächliches zu denken.“

„Galvorn verstehen zu wollen, ist nicht nebensächlich!“

„Das hab ich nicht behauptet.“

 

„Was meinst du dann?“ Angestrengt grübelte ich darüber nach, was mir in den letzten Minuten durch den Kopf gegangen sein mochte. Seit ich Radagasts Fähigkeit entdeckt hatte, bemühte ich mich zwar, nicht zu laut zu denken, doch ich war einfach zu sehr daran gewöhnt, Selbstgespräche zu führen, als daß ich mich ständig unter Kontrolle hatte.

 

Während ich so vor mich hin sinnierte, bemerkte ich selbstverständlich nicht, wie geschickt Radagast sich meiner lästigen Ausfragerei entzogen hatte.

 

Unterdessen nahm Grimbeorn seine Plane auf. Das große Zeltbündel wirkte auf seinen breiten, starken Schultern wie ein harmloses Päckchen.

 

„Du hast gesagt ich soll aufpassen, was ich sage. Aber bedanken werde ich mich doch dürfen? Immerhin hat er mich aus dem Fluß gefischt, mir sein Zelt abgetreten und nach dem Feuer gesehen“, fragte ich nicht ganz ernsthaft, da ich nicht erwartete, eine abwehrende Antwort zu erhalten.

 

Radagast stöhnte verhalten und zischelte mir schnell hinter der vorgehaltenen Hand zu, bevor Grimbeorn sich zu uns umwenden und ihn hören konnte: „Erwähne die Einzelheiten nicht. Es wäre ihm nur unangenehm darauf angesprochen zu werden.“

„Wieso?“

„>Danke<, ein einfaches >danke<, mehr nicht!“ befahl er knapp und ging mir sogleich mit gutem Beispiel voran.

 

Der Abschied war kurz und unpersönlich. Wir gaben einander nicht die Hände. Wir wünschten uns kein baldiges Wiedersehen und unseren Dank tat der Beorninger mit beleidigtem Stolz ab. Er sprach kein Wort und blickte wieder so düster drein, wie am Abend zuvor. Vielleicht wollte er uns mit seinem groben Benehmen davon abhalten, ihn in seinem Heim zu besuchen.

 

>Vermutlich hat er Angst davor, daß ihm eine Mary-Sue den Haushalt durcheinander bringen könnte!<, lästerte meine Stimme im Hinterkopf und ich grinste amüsiert.

„Ein wirklich weiser Mann!“ stimmte ich mir zu. Ich liebte diese Selbstgespräche. Die, in denen mein zweites Ich mit mir übereinstimmte. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen mir niemand wiedersprach...

 

Nachdem Grimbeorn in Richtung seiner Heimat verschwunden war, machten auch Radagast und ich uns zum Aufbruch bereit. Es war inzwischen beinahe Mittag, da ich so lange geschlafen hatte. So kam es, daß wir Esgaroth unplanmäßig erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichten.

 

Meine werten Leser kennen mich mittlerweile gut genug um zu wissen, was das bedeutet. Natürlich konnte ich von der Stadt nicht mehr allzu viel erkennen. In den Straßen brannten Laternen und der See schimmerte in ihrem Licht. Sie wirkte von weitem wie ein überdimensionales Floß, das auf der ruhigen Oberfläche dahintrieb. Vom Ufer führte ein Steg hinüber und daneben befand sich eine kleine Hütte, aus der bei unserer Ankunft ein buckliger Mann trat. Er verlangte mit schnarrender Stimme einen Wegezoll. Da er Westron sprach, verstand ich ihn zwar nicht, aber Radagast griff wortlos in eine Tasche seines Umhangs und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. Dann ritten wir weiter.

 

Die unbeschlagenen Hufe der Pferde hallten dumpf auf der Brücke. Einen Vorteil hatte die Dunkelheit: Ich konnte ihre Beschaffenheit nicht erkennen. Vermutlich bestand dieser Steg aus Holzplanken und zwischen diesen befanden sich sicher Lücken. Lücken, durch die man hinunter auf das Wasser blicken konnte. Ich schüttelte mich. Ich hatte wirklich arge Probleme mit Höhen – auch solchen, die eigentlich keine waren. Eine solche Brücke hätte ich bei Tageslicht nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten überqueren können. Krampfhaft krallte ich meine Finger in Brasfaloths Mähne und schloß die Augen, bis ich den harten Klang eines Steinpflasters vernahm.

 

Am Ende des Steges ging sogleich eine enge Straße ab, die an beiden Seiten mit einstöckigen Bauwerken gesäumt war. Von dieser führten in unregelmäßigen Abständen noch schmalere Gassen nach rechts und links.

 

Es begann wieder leicht zu schneien, aber die zahlreichen, warm vermummten Menschen nahmen davon keine Notiz. Ebensowenig wie von uns. Sie gingen geschäftig ihrer Wege und sahen nicht einmal auf, als wir in langsamem Schritt die Straße entlangritten. Der Zauberer lenkte seinen Braunen zielstrebig um ein paar Ecken und hielt ihn endlich vor einem größeren – das heißt zweistöckigen – Gebäude an. Es wirkte trotz der Dunkelheit schäbig und ein morsches Schild, welches nur noch an einem Haken neben der Tür herunterbaumelte, ließ darin ein Gasthaus erkennen. Die Fenster der unteren Etage waren hell erleuchtet, während im Obergeschoß vereinzelt Kerzen brannten.

 

„He da! Bursche!“ so oder ähnlich rief Radagast einen jungen Kerl an und erklärte ihm mit knappen Worten unser Begehr.

 

Der Knecht grunzte zustimmend und winkte uns, ihm zu folgen. Die Pferde wurden in einem recht annehmbaren Stall untergebracht und obwohl das Gasthaus eigentlich nicht mehr als ein primitiver Schuppen war, konnte ich mich nicht über mangelnde Reinlichkeit beklagen. Die Magd, welche die Zimmer sauber hielt, hatte wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand. Es war schließlich nicht ihre Schuld, wenn beim Eintreten die Türe beinahe aus den Angeln fiel oder das Bett den ersten Belastungstest nicht überlebte. Schimpfend rieb ich mir die Kehrseite und fragte mich, ob Radagast uns absichtlich in den ältesten Stadtteil geführt hatte, oder ob er einfach eine seltsame Vorliebe für alles Baufällige besaß.

 

Ich fühlte mich heute trotz des kurzen Rittes ziemlich erschlagen und begab mich nach einem bescheidenen Abendessen und unbeeindruckt von der demolierten Lagerstatt gleich zur Ruhe.

 

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