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Ich drehte das Stück Pergament ein paarmal hin und her und kaute an flauschigen Ende der Feder als könne ich auf diese Weise einen intelligenten Gedanken herauslocken. Dann legte den Schreibkram verdrossen beiseite. Natürlich, ich hatte Bilbo versprochen meine Abenteuer aufzuschreiben. Aber was, wenn es einfach nichts Spannendes zu erzählen gab? Nicht einmal unsere kurze Reise zur Stadt auf dem Langen See gab bisher etwas Reizvolles her.

 

Wir lagerten am Ufer des Waldflusses, die Sonne ging soeben im Westen unter und wir würden morgen gegen Mittag Esgaroth erreichen. Vor einigen Stunden hatten wir ein Frachtboot der Menschen den Strom hinauffahren sehen. Die Fässer an Bord ließen vermuten, daß es sich um geistige Getränke für die Vorratskammer König Thranduils handelte und wahrscheinlich waren die Säcke mit Korn oder Früchten gefüllt. Die Ruderer hatten trotz der Kälte bei der schweren Arbeit geschwitzt und finster aussehende Wachen beobachteten das Ufer zu beiden Seiten.

 

Das war bisher unsere einzige Begegnung gewesen. Keine Wölfe, keine Orks, nicht einmal ein tollwütiges Kaninchen. Ich grinste sarkastisch und stopfte den Korken auf den Behälter der mühsam aufgetauten Tinte. Bilbo würde recht unzufrieden mit meinem Bericht sein. Nun, dem konnte im Moment nicht abgeholfen werden.

 

Noch einmal kontrollierte ich das Fleckchen Boden, das ich als Schlafplatz gewählt hatte, auf spitze Steine und sonstige Unbequemlichkeiten, die Reste des Schnees vor mir verbergen konnten. Da ich heute Nacht nicht in der gefrorenen Masse versinken wollte, hatte ich sie mit den bloßen Händen fortgeräumt. Natürlich war das keine gute Idee gewesen. Meine Finger wurden erst kalt, dann rot und endlich so blau, daß ich in Panik ausgebrochen war und Radagast sie kurzerhand ergriffen und kräftig mit Schnee abgerubbelt hatte, um sie zu erwärmen.

 

Lustlos knabberte ich an einem Stück Dörrfleisch und sah mich um. Der Zauberer war vor einigen Minuten ausgezogen um Feuerholz zu sammeln. Ich hatte keine Ahnung wo er dieses hier auftreiben wollte.

 

„Hoffentlich findet er welches“, murmelte ich vor mich hin. Die Wärme würde uns gut tun. Ich war froh, daß sich der Wind im Laufe des Tages gelegt hatte. Die Nacht würde auch so ungemütlich genug werden. Wieso hatten wir nicht eine kleine Höhle finden können wie in der letzten? Jammernd zog ich die Decke noch höher über meinen Kopf, umfaßte die Knie mit den Armen und wiegte apathisch den Körper vor und zurück. Nein, so würde ich nicht schlafen können! Es war eisig. Und nachdem die Sonne verschwunden war, wurde es zunehmend kälter.

 

„Hoffentlich findet Radagast Feuerholz!“ betete ich noch inständiger und langsam machten sich nun auch meine Zähne selbständig; schlugen geräuschvoll in schnellem Stakkato aufeinander.

 

Ein furchterregendes Geräusch ließ mich auffahren. Wie es schien, sollte wenigstens eines meiner Gebete erhört werden. Entsetzt riß ich die Augen auf. Oh ja, das war Wolfsgeheul! Noch weit entfernt, aber beunruhigenderweise aus der Richtung, aus der wir heute gekommen waren. Konnten diese Tiere im Schnee eine Spur aufnehmen? Ich hatte wirklich keine Ahnung. Steif erhob ich mich und ging mit weichen Knien hinüber zu Brasfaloth. Der Hengst hatte den Kopf gehoben, lauschte mit aufmerksam aufgestellten Ohren und sog prüfend die Luft durch die alarmiert geweiteten Nüstern. Radagasts Brauner stand daneben und wieherte ängstlich.

 

Schutzsuchend zwängte ich mich zwischen die Pferde und umfaßte den Hals des Schimmels mit beiden Armen. Noch einmal erklang das fürchterliche Geheul in der Ferne.

„Sie sind viel weiter weg, als es sich anhört“, redete ich den Tieren und vor allem mir selbst Mut zu. Wo nur Radagast blieb? Wieso war der Alte nie da, wenn man ihn brauchte?

 

Apropos nicht da.

Es gibt Menschen die tendieren dazu, daß ihnen immer zur unpassenden Zeit die seltsamsten Dinge auf- oder einfallen. Zu diesen gehörte natürlich auch ich. Wen wundert’s noch...

Eben jetzt zum Beispiel bemerkte ich, daß ich Aiwendil seit unserem Aufbruch nicht mehr gesehen hatte. Na, hoffentlich verwechselte der kleine bunte Vogel nicht die beiden braunen Zauberer miteinander!

 

Aber das war Radagasts Problem, nicht wahr? Ich selbst hatte gerade ein anderes. Denn da war erneutes Wolfsgeheul, und das kam aus der entgegengesetzten Richtung! Pfeifend blies neuaufkommender Wind - nein, eigentlich eher ein schlagartiger Sturm - um meine Ohren und wirbelte die oberste Schneeschicht hoch. Die Landschaft außerhalb unseres bescheidenen Lagerplatzes versank in einer weißen Nebeldecke. Das Geheul kam jetzt von allen Seiten!

 

„Radagast! Bitte komm zurück!“ Ich hätte schreien mögen, doch es gelang mir in meiner Angst nicht, meine Stimme über ein Flüstern zu erheben. Was sollte ich nur tun? Es kam mir wie ein Wunder vor, daß die Pferde keinerlei Anstalten machten zu fliehen.

 

Fliehen! Das war es! Aber wohin? Panisch drehte ich mich im Kreis. Radagast war da lang gegangen. Oder doch dorthin? Nein, nein, der Schneesturm hatte mich verwirrt. Dort hatte seine Suche nach Feuerholz ihn entlanggeführt!

 

Die Pferde tänzelten unruhig umher. Die Spuren des Lagers waren mittlerweile soweit verweht, daß ich sie nicht mehr erkennen konnte. Sogar die tiefe Kuhle für meine Lagerstatt und unsere Gepäckstücke waren unter neuem Schnee oder im Nebel verschwunden. Die Dunkelheit nahm rapide zu und erschwerte die Orientierung außerdem.

 

In das Heulen von Sturm und Wölfen mischte sich ein drittes. Ebenso schauerlich. Ein markerschütterndes Grollen, welches ich noch nie zuvor gehört hatte, das aber, wie ich glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Brüllen von Bären hatte...

Waren Bären nicht Einzelgänger?

 

Vielleicht sollte ich doch besser bleiben, wo ich war. Vielleicht, wenn wir uns ganz ruhig verhielten... Ob all die wilden Tiere tatsächlich im Schneesturm an uns vorbeilaufen würden, ohne uns zu sehen oder zu wittern? Ich bezweifelte es.

 

Tatenlos stand ich herum und verschwendete kostbare Minuten. Minuten, die mir das Leben hätten retten können... Hm, aber zuletzt habe ich es irgendwie überlebt, sonst könnte ich es nicht aufschreiben, oder? Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich freilich noch nichts davon und je klarer mir wurde, welcher Gefahr ich ausgesetzt war, desto unfähiger war ich, etwas zu meinem Schutz zu unternehmen. Ich stand nur da, mit schlotternden Knien, und starb beinahe aus purer Angst!

 

Es war in diesem Moment der totalen Verzweiflung, als Radagast mit den größten Anzeichen von Erregung aus dem Schneegestöber auftauchte, seinen Wanderstab wie einen Knüppel gepackt und seine weite Robe gerafft.

 

Oh! Am liebsten wäre ich dem Alten um den Hals gefallen! Jetzt wurde alles gut, nicht wahr? Ich weinte vor Erleichterung – und verschwendete keinen Gedanken daran, daß sich mein Schicksal nicht wesentlich zum Besseren gewendet hatte. Da draußen waren immer noch Horden von Wölfen und anderen Bestien. Und wir waren nur zu zweit! Dennoch entfachte der Umstand, daß ich nun nicht mehr völlig auf mich alleine gestellt war, neue Hoffnung.

 

Erwartungsvoll blickte ich den Zauberer an und rieb meine vor Kälte und Tränen triefende Nase geräuschvoll an meinem Jackenärmel ab.

 

„Dichter zum Fluß!“ kommandierte mein Retter und schwenkte seinen Stab in die genannte Richtung. „Das Wasser ist zu reißend für die Wölfe. Dort haben wir den Rücken frei!“

 

Sollte das etwa heißen er wollte kämpfen? Meine Furcht kam genauso schnell wieder wie sie vergangen war. „Gegen ein ganzes Rudel Wölfe und und... Bist du wahnsinnig?“ japste ich.

 

Ohne meinen Protest zu beachten ergriff Radagast mich am Ellenbogen und schleifte mich neben sich her. „Willst du lieber kampflos sterben?“

 

Natürlich nicht! Aber... Ich öffnete den Mund und schloß ihn gleich wieder.

 

Müssen wir denn kämpfen? Ich meine... Bist du nun ein Zauberer, oder nicht?“

 

„Nicht in dem Sinne, in dem du das Wort gebrauchst, nein.“

 

Radagast stellte sich breitbeinig mit dem Rücken zum Fluß und wirbelte den Stab vor sich herum, daß er leise pfeifend die Luft durchschnitt.

 

„Übrigens sind wir nicht allein.“ Wie zur Bestätigung erklang nun ganz in der Nähe das tiefe, bärenartige Brüllen.

„Das. ist. nicht. witzig!“ Die Pferde waren uns unaufgefordert gefolgt und ich bemühte mich vergeblich, mich noch zwischen sie und den Fluß zu schieben. „Ich will nach Hause! Da gibt’s weder Wölfe, noch Bären, noch Orks...“

 

„Aaah! Du denkst, das sind Bären?“ Radagast klang amüsiert. Ich sah mich furchtsam um. Das war nun wirklich nicht der richtige Moment zum Scherzen!

„Oder etwas in der Art, ja! Und es ist mir im Augenblick ziemlich gleichgültig, wie der korrekte elbische Ausdruck dafür lautet!“

 

„Beorninger. Die korrekte Bezeichnung ist >Beorninger<.“

„Aber, aber das würde ja bedeuten...?!“

Er brummte zustimmend.

Juchheißa! Jetzt wurde wirklich alles gut!, dachte ich gerade noch, als ein paar häßliche, kleine Kerle aus dem Nebel auftauchten, die ich unschwer als Orks wiedererkannte...

 

Was tat man als Kampfunerfahrener, wenn ein Ork mit gezogenem Schwert auf einen zukam und man selbst ein Schwert im Gürtel trug?

 

Ein vorzügliches Schwert wohlgemerkt. Eines mit echter Mithrilklinge. Von einem elbischen Meisterschmied gefertigt und speziell auf den Besitzer abgestimmt!

Aber darüber denkt man in einem solchen Moment natürlich nicht nach. Man bemerkt auch nicht, wie schäbig und rostig das Schwert des Gegners ist.

 

Nun, was tat man? Im Idealfall zog man die eigene Waffe und versuchte, sich irgendwie zu verteidigen.

Zumindest der Versuch der Verteidigung sollte nicht allzu schwer fallen, nicht wahr? Schließlich hatte man eine geraume Zeit bei einem Elbenkrieger gelernt und war auch das letzte halbe Jahr im Düsterwald nicht müßig gewesen. Radagast konnte nämlich nicht nur mit seinem Stab umgehen, wie er mir eindrucksvoll in regelmäßigen Unterrichtsstunden beweisen konnte.

 

Hatte man zum Kampf nicht genügend Mumm und war man auch nur halbwegs bei Verstand, so nahm man die Beine in die Hand und türmte. Das war zwar nicht besonders ehrenvoll, aber wie heißt es so schön – besser ein paar Minuten feige als ein lebenlang tot!

 

Ich tat so ziemlich das Dämlichste was man in einer solchen Situation tun kann: Ich duckte mich und kreuzte die Arme über meinem Kopf, als könnte dies mich vor der zustoßenden Klinge schützen.

 

Um mich herum heulte der Sturm. Er riß an meinen Kleidern. An meinen Haaren. Zentimeter um Zentimeter wich ich zurück. Streifte mit kaum angehobenen Füßen rückwärts durch den tiefen Schnee. Ich hörte Radagast brüllen. Wütend. Sein Zorn galt mir, erkannte ich, doch ich vermochte es nicht, seine Worte zu verstehen. Der Lärm um mich herum erschien mir ohrenbetäubend. In das Brausen des Schneesturms mischte sich das Klirren von Schwertern und das hölzerne Aufschlagen von Radagasts Stab.

 

Meine Sinne waren seltsam geschärft und alles spielte sich irgendwie in Zeitlupe ab. Ich hatte genügend Gelegenheit, jede Bewegung um mich herum wahrzunehmen, auch ohne sie zu sehen. Aber ich war außerstande etwas zu meiner Verteidigung zu unternehmen. Mit erhobenen Armen und gesenktem Kopf erwartete ich, daß mein ganzes Leben jetzt an meinem inneren Auge vorbeilaufen würde. Sagt man nicht, daß es dies vor dem Tod täte?

 

Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen spürte ich einen brennenden Schmerz in meiner Schulter, stolperte mit grellem Aufschrei über den Rand des Ufers und fiel rücklings in die brausenden Fluten. Als ich kurz nach Luft ringend auftauchte, hörte ich Radagast noch zorniger schimpfen. Dann raubte das eisige Wasser mir die Besinnung.

 

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