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So ging denn auch der Herbst ins Land und der Winter brach herein. Bald schon fiel der erste Schnee und als dieser einen halben Meter hoch lag und die Wolken dem strahlenden Sonnenschein wichen, konnte endlich das Spiel im Freien wieder seinen Lauf nehmen. Könnt ihr euch vorstellen, daß bisher noch nie ein Elb auf die Idee gekommen war, einen Schneemann zu bauen? Nein? Dann geht es euch so wie mir. Ein Mißstand, dem sogleich Abhilfe geschaffen werden mußte, wie ich fand, und bald zierte ein ganzes Regiment schneidiger Typen den Wiesensaum.

 

Seit einem Jahr befand ich mich nun in Mittelerde. Mein Elbisch hatte sich halbwegs gefestigt und sogar den Waldlanddialekt konnte ich leidlich verstehen – wenn er nicht zu schnell gesprochen wurde. Nachdem ich mich ein wenig hineingehört hatte, empfand ich seinen Klang als eine Art elbisches Bayrisch und wie bei diesem verhielt es sich so, daß man es eher verstehen als sprechen konnte. Aber dies hatten vermutlich ohnehin alle Dialekte weltweit gemein.

 

Ich hatte mich bereits damit abgefunden, die mir verbleibenden anderthalb Jahre Wartezeit im Düsterwald zu verbringen, als Radagast eines frostigen Morgens verkündete, daß die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Da wußte ich, daß Galvorn sich auf seinem Rückweg zum Waldelbenreich befand. Zumindest dachte ich wieder einmal, etwas zu wissen...

 

„Er hätte sich eine günstigere Jahreszeit zum Reisen aussuchen können“, meckerte ich, als wir in langsamem Schritt unter den Tannen hindurchritten und erfreulicherweise weder in Eile waren, noch von einem Gewitterregen aufgeweicht wurden. Dafür lagen die Temperaturen irgendwo in tieferen Minusregionen und ich war nur froh, daß die Bäume den sicherlich eisigen Wind abhielten.

 

Wir waren erst gegen Vormittag losgezogen. Zuvor wäre es im Waldesinneren noch zu finster gewesen und dichter Nebel hatte die Sicht zusätzlich beeinträchtigt.

 

„Ist der Paß jetzt nicht verschneit?“

Radagast, mit den Gedanken eindeutig bei der Lösung eines mehr oder minder schwerwiegenden Problems, brummte desinteressiert.

 

Einstweilen betrachtete ich müßig die vereisten Äste. Sie ließen den Wald heller und freundlicher erscheinen, ebenso wie der Schnee, der hier wegen des dichten Blätterdaches allerdings nur recht spärlich lag. Die Schritte unserer Tiere wurden durch das weiche Polster gedämpft und alle Geräusche – wenn es denn noch welche gegeben hatte – wurden von der Winterpracht verschluckt. Ich schob mich auf dem Pferderücken zurecht und schloß für einen kurzen Moment die Augen, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, mit einem Ast zusammenzustoßen.

 

Schwermütig ließ ich den Beginn des Tages Revue passieren. Ich hatte mich keineswegs leicht in mein Schicksal gefunden. Weder der Abschied von den Kindern, die mir alle irgendwie ans Herz gewachsen waren, noch die Tatsache, daß ich vor dem Mann fliehen sollte, den ich so sehnlich zu treffen wünschte, war dazu angetan, meine Reiselust zu wecken. Letztendlich blieb mir jedoch nichts anderes übrig, als mich dem Willen des Istar zu fügen.

 

Ich habe mir die schlechte Jahreszeit ausgesucht“, grummelte dieser gerade, noch ehe ich meine Gedanken zuende bringen konnte.

„Hä?“ Ich hatte längst nicht mehr mit einer Antwort gerechnet und verpaßte deshalb die Aussage. „Na, daß du seltsame Tages- und Jahreszeiten für deine Reisen bevorzugst, hab ich inzwischen mitbekommen. Wohin reiten wir eigentlich?“

 

Radagast lächelte schwach. „Wolltest du nicht unbedingt einmal nach Esgaroth?“

„Hab ich nicht gesagt. Ich wollte wissen ob du dir schon überlegt hast, wann wir dorthin reisen. Das war eine Frage.“ Ich sah ihn skeptisch von der Seite her an. „Nach Esgaroth also? Warum?“

 

Radagast zuckte die Achseln. „Es ist die nächstgelegene Siedlung und der Weg dorthin ist verhältnismäßig sicher.“

„Verhältnismäßig?“

„Das ist in diesen Zeiten alles, was man verlangen kann.“

„Wie ist es dort?“

„Laut, überfüllt und unpersönlich. Wir werden nicht weiter auffallen.“

 

Sehr beruhigend“, betonte ich ironisch.

„In der Tat“, bekräftigte mein Begleiter todernst und so, daß ich nicht wußte, ob er mir zustimmte oder widersprach.

 

„Aber sag, ist der Paß nun verschneit oder nicht? Ich meine, warum um aller Valar Willen kehrt Galvorn ausgerechnet jetzt zurück ins Waldelbenreich?“

„Gebrauche nicht die Namen der Valar in dieser Weise!“ stöhnte der Zauberer. „Und nein, Galvorn wird noch eine ganze Weile in Bruchtal bleiben. Zumindest bis zum Frühjahr.“

 

„Aber...“

Ich bin auf dem Weg zu den Waldelben.“

„DU?“ Mal ehrlich. Jeder andere an meiner Stelle hätte Radagast jetzt genauso vertrottelt angestarrt wie ich!

 

Der Istar nickte. „In sechs oder sieben Tagen werde ich dort eintreffen, wenn meine Berechnungen stimmen.“

„Hä?“

„Ganz sicher bin ich mir nicht. Ich habe über meine Reisen kein Buch geführt, kann mich aber relativ gut an jede erinnern.“

 

Jetzt dämmerte es mir.

„Du meinst, den Radagast von damals? Also den, der du warst bevor du mich hierhergebracht hast und in die Vergangenheit gerutscht bist?“

Wieder nickte er.

Er war jetzt also zweimal in Mittelerde? Was für ein Durcheinander...

 

„Was würde passieren, wenn du dir selbst begegnest?“

„Ich weiß es nicht. Ich würde Fragen stellen, vermute ich. Ganz sicher sogar. Ich möchte nicht unbedingt erfahren wie es ist, mit mir selbst zu diskutieren...“

 

„Wäre aber bestimmt interessant...“ Ich konnte nicht anders, ich fand die Vorstellung eines doppelten Radagast, der sich gegenseitig mit klugen Sprüchen und Weisheiten übertraf, ausgesprochen witzig.

 

Der Zauberer war da ganz anderer Meinung. Er erdolchte mich regelrecht mit einem bösen Seitenblick. Jetzt war vielleicht der richtige Zeitpunkt, das Thema zu wechseln. Oder doch nicht ganz. Dazu war ich zu neugierig.

 

„Was tust du im Waldelbenreich?“

Hatte ich wirklich erwartet, Radagast würde sich auf diese Frage hin entspannen? Nein, oder? Aber er hörte damit auf, mich mit Blicken töten zu wollen und das war immerhin ein Anfang. Und schließlich... wer nicht fragt stirbt auch. Irgendwann. Nur dümmer.

 

Ob man allerdings eine Antwort auf seine Erkundigung bekommt, steht auf einem anderen Blatt. Einem ganz anderen in diesem Fall. Beleidigt verzog ich den Mund. Das konnte doch nun wirklich nicht so geheimnisvoll sein. Der Radagast von damals war schließlich ein... Ich verdrängte den Gedanken schnell.

 

„Wird es den Waldelben nicht ein bißchen komisch vorkommen, wenn du nach so kurzer Zeit zurückkehrst?“ fragte ich stattdessen.

 

Hoch über mir ertönte das schrille Kreischen eines Eichhörnchens. Kurz darauf löste sich eine kleine Schneelawine von einem der Äste und landete - da ich den Kopf nach dem Geräusch gehoben hatte - zielsicher in meinem Gesicht. Ich schimpfte entrüstet, schüttelte den Kopf aus und bemühte mich unsinnigerweise, den pelzigen Übeltäter zu erspähen.

 

„Nein.“ Radagast beobachtete jetzt aufmerksam mein Tun. „Ich hab ihnen gesagt, daß ich zurückkommen werde, sobald ich dich nach Esgaroth gebracht habe.“

„Sehr klug.“ Ich versuchte ein Ästchen auszuspucken, das sich mit dem Schnee gelöst hatte und pickte mit spitzen Fingern eine Nadel von meiner Zunge.

 

„Aber was, wenn die Elben nach mir fragen?“ lispelte ich dabei, „Oder nach deinem letzten Aufenthalt? Du weißt schließlich nichts... - also ich meine der Radagast von damals - weiß doch nichts davon, daß du gerade erst da warst.“ Irgendwie kam ich mir gerade vor wie der Hauptdarsteller einer leidlich bekannten Siencefiction-Trilogie...

 

„Sei unbesorgt“, beruhigte mein Gesprächspartner mich, der dem letzten Teil meiner Gedanken unmöglich hatte folgen können. „Ich werde das Waldelbenreich nicht betreten.“

„Was tust du dann da?“ Wobei wir wieder bei meiner Frage von vorhin angekommen waren. Radagast war nun ein wenig besserer Laune. Eine Antwort erhielt ich dennoch nicht.

 

Schließlich wurde ich ungeduldig und motzte weinerlich, weil meine nassen Ohren fürchterlich in der Kälte zu brennen begannen: „Warum mußten wir dann fort? Dort war es wenigstens warm und ich hatte ein weiches und bequemes Bett, und...“

 

„Also war es doch nicht so schlimm im Waldelbenreich?“ Eine gewisse Befriedigung klang in seiner Stimme.

„Nein! Naja, wenn man von den Höflingen absieht“, stimmte ich ihm mit der kleinen Einschränkung sogleich eifrig zu. „Können wir jetzt zurück?“ Hatte er mich wieder einmal auf die Probe stellen wollen? Hoffnungsvoll sah ich zu ihm hinüber.

 

Zu meiner großen Enttäuschung schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Den Wachen könnte es auffallen, daß ich mich in dem Gebiet herumtreibe, während ich mich gleichzeitig im Innern der Höhlen befinde.“

 

Ich seufzte herzzerreißend. „Werden sie dich nicht ansprechen?“

„Nicht solange ich nicht versuche, das Reich zu betreten, nein.“

 

Jetzt endlich hatte er Mittleid mit meinen Qualen, zog ein wollenes Tuch aus seiner linken Satteltasche und lenkte sein Pferd zu mir heran, um mir beim Abtrocknen behilflich zu sein und mir den Lappen wie einen Turban um Kopf, Ohren und Kinn zu wickeln.

 

„Ich dachte du reist nicht viel“, nuschelte ich, während Radagast das Ende zur Befestigung unter den Rand steckte. Er hielt inne und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an.

„Naja...“ Ich schürzte die Lippen. „Das steht so in dem Buch.“

„In welchem Buch?“ fragte der Istar mißtrauisch und ritt wieder an.

Genervt verdrehte ich die Augen. „Na in dem Buch!“

 

Die enger zusammenrückenden Bäume zwangen mich dazu, Brasfaloth zurückzunehmen und hinter Radagasts Braunen zu bringen. Gleichzeitig gab dies dem Zauberer die Gelegenheit, seine Erwiderung hinauszuzögern.

 

Die Veränderung im Gelände fiel mir erst auf, als wir bereits aus dem Wald hinausritten. Am Saum zügelte Radagast sein Pferd und blickte über die weite Ebene. Es war nach Mittag. Die Sonne stand bereits im Südwesten und der Düsterwald warf einen langen Schatten über die verschneite Landschaft. Dahinter glitzerte die Winterpracht silbrig in der Sonne. Ich schloß mit Brasfaloth zu ihm auf und hielt ebenfalls an. Nach den Stunden im dunklen Forst wirkte dieser Anblick richtig befreiend.

 

„Steht in diesem Buch auch, daß ich ein einfältiger Narr bin?“

„Ähm...“, stotterte ich. Mein Verstand suchte fieberhaft nach einer diplomatischen Lösung, doch meine Zunge war schneller. „Ja.“ Uups... Schnell schlug ich die Hand vor den Mund. Zu spät.

 

Ein Schmunzeln breitete sich auf dem Gesicht des alten Mannes aus. Meine Augen mochten mir einen Streich spielen, aber ich bildete mir ein, daß es plötzlich nicht mehr ganz so faltig aussah.

„Dann wird wohl auch der Rest der Beschreibungen über mich zutreffen.“

 

Aha! Er hatte es also doch nicht gelesen!

 

Langsam setzten wir die Tiere wieder in Bewegung.

 

„Wieso bin ich eigentlich so wichtig, daß ein Istar extra zu meiner Bewachung abgestellt wird?“ verlangte es mich als nächstes zu wissen.

Nur kurz verzog sich sein Lächeln zu einem anzüglichen Grinsen. „Du bist heute wißbegieriger denn je!“ Dann wurde er ernst.

„Bist du nicht.“

Bin ich nicht?

„Aber das Schicksal Mittelerdes ist wichtig und da es nun einmal nötig war, dich so unzeitig hierher zu bringen, müssen wir zusehen, daß du keinen Schaden anrichtest.“

 

Alles klar. Spätestens jetzt hatte ich meine Lektion gelernt und entgültig begriffen, wieso es in Mittelerde keine Mary-Sues gab – zumindest keine, die es hier zu irgendwelchen erzählenswerten Heldentaten gebracht hatten...

 

~*~

 

 

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