Spuren im Schnee
So, da
konnte er also seinen „guten Willen zeigen“, wie Taleras sich ausgedrückt
hatte! Hamfast versenkte mit einiger Mühe den Nagel im Brett und dachte darüber
nach, wie der Zwist damals eigentlich begonnen hatte, und ob es wirklich an ihm
war, ihn beizulegen. Er glaubte nämlich nicht so recht an seine eigene Schuld
oder die seiner Vorfahren.
Hinter
ihm erhob sich aufgeregtes Gackern. Die Hühner stritten sich um eine Brotkrume,
die bisher ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Der Boden zu Hamfasts Füßen war
dicht übersät mit fein gezeichneten Abdrücken, die das Federvieh im niedrigen
Schnee hinterlassen hatte. Rechts und links des kleinen Bretterverschlages türmten
sich die weißen Massen. Berelia hatte diese beim Räumen ihres Vorgartens dort
abgeladen.
Um die
Undurchlässigkeit der Unterkunft zu überprüfen, hatte Hamfast sich ins Innere
ducken müssen. Von außen verwehrte nämlich der hohe Schnee den Zugang. Eine vorherige
Suche nach Tierspuren war erfolglos verlaufen, denn es hatte in der Nacht
geschneit, und selbst wenn danach noch etwas zu finden gewesen wäre, so hatten
die Hühner und ihre aufgebrachte Besitzerin sämtliche Beweise des ungebetenen
Besuchers zerstört.
Hamfast
nahm einen neuen Nagel zwischen seinen Zähnen hervor und platzierte ihn an die
ihm zugedachte Stelle. Er war nicht besonders geschickt in solchen Arbeiten.
Aus dem Zusatzbrett ragten inzwischen einige krumme Nägel und nur wenige, die
tatsächlich ihr Ziel erreicht hatten. Der junge Mann prüfte die Festigkeit an
der Stelle, wo bereits ein Stift saß, der sich bei dem geringen Druck sofort
aus dem hinteren Brett löste. Hamfast stöhnte und setzte erneut zu hämmern an.
„Na,
deinen Meister wirst du damit nicht machen“, höhnte jemand hinter ihm und biß
herzhaft in einen knackigen Apfel.
Hamfast
ließ den Hammer sinken und drehte sich zu dem Sprecher um. Dieser hatte sich
auf den Gartenzaun gesetzt und schien ihn schon eine ganze Weile zu beobachten.
„Du bist
gerne willkommen, mir zu helfen, Orgo.“ Hamfast machte eine spöttische
Verbeugung und setzte seinen Hut auf, den er bei der Arbeit abgenommen und über
die Spitze des schrägen Dächleins gehängt hatte. Er grinste ein wenig leidend
und kletterte zu seinem Freund auf den Zaun.
„Einen
Apfel?“ Er warf ihn Hamfast zu, ohne eine Antwort abzuwarten. „Hämmern macht
hungrig.“
„Wohl
wahr.“ Hamfast betrachtete sein Werk von dieser neuen Perspektive kritisch. „Es
sitzt schief.“
„Aber
zwei Nägel scheinen tatsächlich zu halten.“
„Ich
werde noch ein paar einhauen.“
„Leg doch
einfach einen großen Stein vor das Loch“, riet Orgulas, kaute genüßlich und
machte keine Anstalten, anders als mit Worten behilflich zu sein. „Ist dies der
einzige Spalt? Scheint nicht sehr breit zu sein.“
„Kaum
drei Finger dick“, bestätigte Hamfast, „und ebenso hoch. Es ist mir
unbegreiflich wie ein solch kleines Tier einen so großen Schaden anrichten
soll... Das mit dem Stein ist eine gute Idee!“ Er sah sich um, und konnte von
seinem Platz aus natürlich keinen passenden entdecken. Also biß er zunächst
noch ein weiteres Mal in seinen Apfel und gab dem Gedanken Zeit, sich zu
setzten.
„Hast du
Taleras bereits dein Anliegen vorgebracht?“
Hamfast
nickte und schluckte den Bissen halb zerkaut hinunter. „Bei der Gelegenheit hat
er mir die Aufgabe hier zugedacht.“ Er winkte mit dem Kopf zum Hühnerhaus.
„Als
Bedingung?“
„Nein.“
Die Reste des Apfels verschwanden samt Kerngehäuse hinter Hamfasts Zähnen. „Er
hat es wohl für eine gute Idee gehalten...“
Orgulas
kicherte. „Dann versuchst du wohl gerade, ihn vom Gegenteil zu überzeugen? Ich
verstehe.“
Hamfast
grummelte halbherzig. Die Sticheleien des Freundes waren nur allzu berechtigt.
Nachdenklich kratzte er sich hinter seinem rechten Ohr und überlegte, ob es
nicht sinnvoller gewesen wäre, das Brett zuvor wenigstens zu kürzen, da das
Loch sich nur im untersten Teil befand. Statt dessen hatte das Holzstück fast
die selbe Länge wie die Wand. Dazu die schiefe Lage und die krummen Nägel...
Hamfast schürzte die Lippen. Schön sah das nicht aus!
Er trat
hinzu und testete, ob seine famose Konstruktion wenigstens einem so kleinen
Tierchen, wie der Räuber eines sein mußte, stand halten würde, und hatte prommt
das ganze Brett in der Hand.
Vom
Gartenzaun herunter erscholl lautes Gelächter. Orgulas hielt sich den bebenden
Bauch und plumpste hinterücks in den weichen Schnee.
„Hmpf!“
Hamfast war viel zu gutmütig, um sich über die Niederlage zu ärgern. Er zuckte
die Achseln, erklärte das Unternehmen für gescheitert, hob den Hammer vom Boden
auf und steckte ihn in eine seiner beiden übergroßen Hosentaschen. „Das hat so
keinen Zweck, und wenn’s nicht ordentlich aussieht, bekomme ich was von Berelia
zu hören, sobald sie nachhaus’ kommt.“
Einstweilen
waren zumindest die Hühner empört über den rüpelhaften Umgang mit ihrem Heim.
Sie beäugten das Männlein kritisch und hier und da plusterte eines die Federn
auf und gackerte abfällig.
Hamfast
ließ sich davon nicht stören und sah sich in dem Vorgärtchen nach etwas um, das
er vor das Loch stellen könnte. Doch außer Schnee war kaum etwas zu erblicken.
Genaugenommen war nirgendwo im ganzen Dorf noch etwas von dem zu erkennen, was
einmal da gelegen hatte, wo sich nun die weiße Pracht erstreckte. Er würde
schon in seiner Höhle suchen müssen, wenn er an seinem neuen Vorhaben
festhalten wollte.
Doch
inzwischen war es Zeit für das Mittagsmahl und die Arbeit mußte eben warten.
Die beiden Freunde begaben sich zu Hamfasts Höhle, um sich aus dem, was sie in
der Vorratskammer vorfanden ein zusammengewürfeltes, sehr schmackhaftes und vor
allem reichliches Mahl zu improvisieren. In diesem Jahr hatte es Korn und
Früchte im Überfluß gegeben und es gab also keinen Grund, sich einzuschränken.
Zum Nachtisch
spießten sie noch zwei Äpfel auf einen langen Stock und hielten sie über das
Kaminfeuer. Eine Weile saßen sie so schweigend nebeneinander. Die gelbe Schale
zischte leise und begann, unter der Hitze zu schrumpeln. Ein süßlicher Duft
breitete sich im Raum aus.
Orgulas
schnupperte genießerisch. „Also, wie hast du vor, deine Freunde zu begrüßen?
Wirst du ihnen entgegenreiten? Willst du sie im Dorf bekannt machen, oder hast
du vor, dich mit ihnen hier in deine Höhle zurückzuziehen? Nun erzähl schon! Was
hat Taleras dazu gesagt?“ bestürmte er den anderen mit Fragen.
Hamfast
drehte seinen Apfel auf die andere Seite. „Ich weiß noch nicht so recht. Da sie
nicht genau sagen konnten, wann sie ankommen, wäre es etwas unpraktisch, ihnen
entgegen zu reiten. Ich werde wohl hier auf sie warten und alles so gut wie
möglich für sie herrichten. Das größte Problem wird wohl sein, passende Betten
für sie aufzutreiben. Mein Gästezimmer ist leider nicht für Elben
ausgerichtet.“
„Sind sie
wirklich so groß, wie du erzählt hast?“
Hamfast
nickte. „Sie werden sich bücken müssen, um hier herein zu passen, aber das
sollte nicht weiter schlimm sein, denn man steht ja nicht herum sondern setzt
sich. Und stabil genug sind meine Stühle und die Bank. Aber die Betten...“ Er
seufzte. Der Mangel an Bequemlichkeit für seine Gäste bedrückte ihn wirklich
sehr.
„Hm...“,
überlegte Orgulas, drehte seinen Apfel ebenfalls herum und prüfte mit einer
Fingerspitze, ob die Seite schon durch war. „Du könntest einfach zwei Betten
der Länge nach aneinander stellen. Ich hab noch eines und Doderic ebenfalls.
Wenn dein Gästezimmer groß genug ist, bringen wir sie her.“
Ein
sonniges Lächeln glitt über Hamfasts Gesicht. „Orgo, das ist eine großartige
Idee! Es wird zwar etwas eng werden, aber das müßte funktionieren!“
Hamfast
strahlte jetzt wie der helle Morgen. In Gedanken durchmaß er das Kämmerlein und
plante, wie er die Betten aufstellen wollte.
Er wurde
aus seinen Gedanken gerissen, als jemand gegen die Tür polterte, sie aufriß und
mit einer Windboe voller Schneeflocken hereingewirbelt wurde. Der Ankömmling
stampfte mit den Füßen auf den Boden und klopfte Jacke und Hose aus. Dann nahm
er den Hut vom Kopf und stülpte ihn auf einen dafür vorgesehenen Haken.
„Habt ihr
noch einen Apfel für mich?“ krähte er herankommend und sah sich suchend in der
Wohnstube um.
„Hallo
Dod! Wir haben gerade von dir geredet!“ Hamfast überließ ihm großzügig seinen
eigenen Apfel, der schon fast fertig war und holte sich selbst einen neuen.
„Kannst du mir über die Jultage dein Gästebett leihen?“
„Gästebett?“
echote Doderic.
„Ich
erwarte Besuch“, erklärte Hamfast.
„Gästebett?“
wiederholte der andere. „Nur das Bett, oder gleich das ganze Zimmer?“
„Nur das
Bett. Es soll da hinein.“ Hamfast wies mit der Hand die Richtung.
„Versteh
ich nicht“, gestand Doderic, „ist doch egal, wo dein Besuch schläft, oder? Du
kannst gerne einen von ihnen bei mir einquartieren.“
„Das ist
nett von dir Dod. Aber ich brauche wirklich nur das Bett.“
Orgulas
stieß den Freund foppend mit dem Ellenbogen in die Seite. „Unser guter Dod ist
heute etwas schwerfällig, findest du nicht?“
„Natürlich
kannst du das Bett haben“, lenkte dieser ein wenig beleidigt ein, „aber erwarte
nicht, daß ich dir dabei helfe es herzubringen. Noch dazu bei diesem Wetter!“ Er
schüttelte sich.
Draußen
stürmte es seit einer halben Stunde in schönster Winterwetter Manier. Der
Himmel hatte sich zugezogen, und es war beinahe dämmrig. Wenig später hatte
erneut Schneefall eingesetzt.
Der
Kessel auf dem Herd gab einen hellen Pfeifton von sich, als das Wasser kräftig
kochte. Hamfast erhob sich und schüttete eine große Kanne Tee auf. Nein, bei
diesem Wetter war weder an einen Möbeltransport zu denken noch daran, Berelias
Hühnerstall zu flicken. Ersteres hatte ohnehin noch etwas Zeit, und zweiteres
versprach eine leichte Arbeit zu werden, wenn er erst etwas gefunden hatte, was
er vor die Öffnung stellen konnte.
„Hamfasts
Besucher sind die beiden Elben, die er auf seiner letzten Reise kennengelernt
hat“, erklärte Orgulas inzwischen. „Du erinnerst dich bestimmt, er hat uns von
ihnen erzählt.“
„Ach ja,
richtig“, freute Doderic sich, der nun auch begriff, was es mit seinem
Gästebett auf sich hatte. „Vom großen Volk“, setzte er hinzu, und gab seinen
beiden Freunden zu verstehen, daß er nicht ganz so langsam war, wie sie
dachten.
Orgulas
war in Gedanken schon weiter. „Machst du dann wieder deinen leckeren
Julpunsch?“ wollte er wissen und schnalzte mit der Zunge. „Den willst du deinen
Freunden doch sicher nicht vorenthalten!“
„Du
könntest auch etwas Besonderes backen. Diesen feinen Kuchen mit den Rosinen!“
pflichtete Doderic mit leuchtenden Augen bei. Orgulas nickte eifrig.
„Und ihr
beide könntet mir dabei helfen“, lachte Hamfast und brachte den Tee. „Natürlich
gibt es Punsch und Kuchen. Und Geschenke, nicht zu vergessen! Es soll doch ein
schönes Fest werden, und was wäre Jul ohne all dies?“
„Kein
richtiges Jul.“ Die drei grinsten sich gegenseitig an.
„Oh, das
wird unserer Berelia aber gar nicht gefallen, wenn du deine Gäste so verwöhnst“,
kicherte plötzlich Orgulas, und Doderic verschluckte sich vor Lachen am Tee.
Nein, es
würde Berelia nicht gefallen. Die resolute Dame mochte keine Fremden - erst
recht keine vom großen Volk. Sie erinnerten sich alle noch gut an die erzürnten
Worte, die sie über ihren letzten Besucher gesprochen hatte. Dabei war dieser
nur durch Zufall in ihr Dorf geraten und nach kurzer Rast weitergereist. *
Hamfast
seufzte. „Ja, ich weiß. Deshalb war ich ja bei Taleras.“
„Was
sagte er dazu?“
„Daß ich
es mir nicht so zu Herzen nehmen soll. Und daß unser Dorf stets sehr
gastfreundlich war und es auch bleiben wird, und daß es egal ist, ob unsere
Gäste groß oder klein sind und welchem Volk sie angehören.“
Doderic
nickte beifällig.
„Sie wird
es überleben. Schließlich war dieser Dringol auch irgendwie ein unangenehmer
Geselle. Ich bin mir sicher, deine Elbenfreunde sind da ganz anders. Wer weiß,
vielleicht findet sie sogar Gefallen an ihnen.“
„Schon
möglich.“ Hamfast grinste. Der Gedanke, die grummelige Berelia könnte dem
Charme der Elben erliegen, erheiterte ihn, auch wenn er nicht wirklich daran
glaubte.
„An
deinen Bôr hat sie sich schließlich auch gewöhnt“, behauptete Doderic.
Wie auf’s
Stichwort erklang ein helles Kläffen aus dem Körbchen neben dem Kamin. Mira
streckte sich behaglich und riß das Mäulchen zum Gähnen auf. Dann, plötzlich
hellwach, kletterte sie eifrig von ihrem Kissen und sah die drei Männer
erwartungsvoll, mit wedelndem Schwänzchen, an.
Hamfast
lachte laut auf. „Nein, hat sie nicht, sie hat nur einen neuen Grund gefunden,
sich zu beklagen.“ Das Hündchen sah ihn aus seinen runden Knopfaugen unschuldig
an.
„Was
haltet ihr davon, wenn wir unserer lieben Berelia dieses Jahr ein ganz
besonderes Geschenk zu Jul machen?“ Ihm war gerade ein Gedanke gekommen.
Doderic
und Orgulas sahen von ihm zu dem Hündchen und wieder zurück. „Du willst ihr
jetzt doch nicht etwa einen Welpen schenken? Davon wäre sie wenig erfreut.
Zugegeben, normalerweise würde mich nichts davon abhalten, ihr einen Streich zu
spielen, aber zu Jul...“ widersprach Doderic.
„...
sollte man sich gegenseitig eine Freude bereiten und Streitereien beilegen“,
vollendete Orgulas den Satz.
„So etwas
in der Art hat Taleras auch gesagt.“ Hamfast nickte. „Es sollte auch kein
Streich werden. Es ist mir ganz ernst bei dem Gedanken. Mira hat ein
Brüderchen, drüben in Mühlental, das ein neues Zuhause sucht. Ist ein kräftiger
kleiner Bursche mit einem klaren Verstand und den besten Anlagen für einen
guten Wachhund. Es würde Berelia vielleicht ganz gut tun, wenn sie sich um so
ein hilfsbedürftiges Wesen kümmern müßte und nicht ständig nur um ihre Hühner
herum wäre. Sie würde das Dorfleben auch einmal aus einer anderen Perspektive
betrachten lernen. Und wenn der Hund herangewachsen ist, kann er sogar auf ihre
Lieblinge aufpassen.“
„Und wie
willst du sie von deinen noblen Absichten überzeugen?“ zweifelte Orgulas an der
Durchführbarkeit dieser Idee.
Doderic
ebenso: „Sie wird dir ihren Gehstock um die Ohren ziehen und dich mitsamt dem armen
Kerlchen aus dem Dorf hinausjagen!“
Hamfast
leckte sich die Finger vom Saft des verspeisten Apfels und hockte sich die
kleine, um Zuneigung bettelnde Mira auf den Schoß. „Sie wird ein Julgeschenk
nicht ablehnen“, war er überzeugt. Das Hündchen drehte sich zu einem Knäul
zusammen und gab zufriedene Laute von sich.
Die
beiden anderen zuckten die Achseln. Sie kannten ihren Kumpel gut genug um zu
wissen, wann alles Zureden vergeblich war. Also beschlossen sie statt dessen,
je einen weiteren Apfel zu rösten.
Draußen
hatte sich der Sturm gelegt und der Himmel klärte sich auf. Hamfast hatte noch
immer kein passendes Etwas für das Loch im Hühnerstall gefunden. Dies stellte
auch die alte Dame soeben mit erzürnten Worten fest, die bis herein in die
heimelige Stube drangen.
Seufzend
erhob Hamfast sich. Auf den Holzscheiten lag eine grob gezackte Säge. Er würde
eben doch versuchen, das Brett zu kürzen, und irgend ein Nagel würde sich schon
einschlagen lassen.
___________
* s.
„Hamfast Gerstenbräu“
~*~