"In
den ältesten Erzählungen finden sich Andeutungen, daß sie einst in den oberen
Tälern des Anduin gehaust haben mußten, zwischen den Ausläufern des Großen
Grünwaldes und dem Nebelgebirge. Die Gründe, warum sie später das schwierige
und gefährliche Wagnis unternahmen, über das Gebirge nach Eriador zu ziehen,
sind nicht mehr bekannt. Ihre eigenen Berichte erwähnen, daß sich die Menschen
vermehrt hätten und ein Schatten auf den Wald gefallen ist, so daß er sich
verdüsterte, und sein neuer Name war Düsterwald."
(J.R.R.
Tolkien, Herr der Ringe, Einführung: Über Hobbits)
Prolog: Dunkle Gestalten
Wir
schreiben das Jahr 1049 des Dritten Zeitalters. In dem kleinen Dorf am oberen
Anduin lebte von den uns bekannten Personen längst niemand mehr. Und auch, wenn
ihre Nachkommen deren Namen mit Stolz in den langen Listen ihrer Familie
führten, so hatten sie es doch nie für nötig befunden, ihre Geschichte
aufzuzeichnen, was teilweise auch darin begründet lag, daß die Hobbits dieser
Zeit noch kein Schriftsystem im eigentlichen Sinne entwickelt hatten.
So kam
es, daß sich um die alten Zeiten oftmals nur dunkle Legenden und ungenau
überlieferte Erzählungen rankten, und kaum jemand erinnerte sich noch der
Erlebnisse eines skurillen Abenteurers namens Hamfast Gerstenbräu.
Landschaftsbild
und Lebensstil hatten sich kaum nennenswert verändert. Die bodenständigen
Hobbits fanden niemals Wohlgefallen an Veränderungen, weder in früheren, noch
in späteren Zeiten, egal ob es sich um die Bewirtschaftung von Haus und Feld,
oder ihnen liebe Gewohnheiten ging.
Allerdings
war der Viehbestand um einiges angestiegen und auch vielfältiger als vor
wenigen Jahrzehnten, was den sich immer weiter ausbreitenden Siedlungen der
Menschen und dem Umgang mit jenen zu verdanken war.
In die
grünen, sanften Hügel, die die Dorfszenerie beherrschten, waren einige wenige
zusätzliche Smials gegraben worden und unterhalb des Bühls breiteten sich neu
erschlossene Felder aus, auf denen reifes Getreide seine goldgelben Ähren zum
Himmel reckte.
Der Platz
um den Apfelbaum auf dem Marktplatz war vor einigen Jahren zu dem Zweck die
gefräßigen Dorfziegen von diesem fernzuhalten, mit einer niedrigen Mauer aus
hellen Steinen eingefaßt worden.
Der junge
Baum selbst trug in diesem Herbst zum ersten Mal seine süßen Früchte. Seit Generationen
hatte hier stets gerade ein solcher Baum gestanden, denn wie bereits angemerkt,
schätzten Hobbits Neuerungen nicht besonders, vor allem, wenn das alt
Hergebrachte sich als gut und nützlich erwiesen hatte.
Die
Abendsonne schickte ihre letzten, schwachen Strahlen durch das Dorf und warf
lange Schatten über den von der Hitze des Tages brüchigen Boden.
Eine
Schar Kinder tollte ausgelassen lärmend auf dem Platz. Sie sprangen mit einem
zottigen Hund um die Wette, der in kurzen Abständen seine kläffende Stimme zum
Lachen der tobenden Meute erhob.
Eine
ältliche Frau mit einer scharfen Hakennase und strähnigem, zu einem dicken
Knoten gebundenen Haar, stand an der Pforte ihres Gartenzaunes und schimpfte
ihnen, ihren Gehstock drohend erhoben, hinterher, während zu ihren Füßen ein
paar gackernde Hühner ziellos durcheinander irrten und nicht so recht zu wissen
schienen, vor welcher der beiden lautstarken Parteien sie die Flucht ergreifen
sollten.
In den
Vorgärten saßen alte Leute dösend auf einer hölzernen Bank oder blickten mit
einem Schmunzeln den krähenden Kindern hinterher.
Die
jüngeren Erwachsenen kamen müden Schrittes von den Feldern und suchten ihre
Heime auf, um neue Kräfte für den kommenden Tag zu sammeln.
Jetzt
entstand ein kurzer Tumult auf der Straße. Mehrere rundliche Frauen mit
knöchellangen, weiten Röcken, bunt bestickten Schürzen und von der Arbeit
verschwitzen Blusen, sprangen, den Namen ihres Sprößlings rufend, hinter den
Kleinen her, die eifrig versuchten, ihren Müttern zu entkommen.
Die ein
oder andere Drohung wurde mit sehr ernster Miene, aber halbherzigem
Durchführungswillen und dem typischen Unterton, den Eltern in solchen Fällen
unbewußt mitschwingen lassen, gerufen. Meist unterstützten sie ihre Worte mit
dem erhobenen Zeigefinger oder sie stemmten ihre kräftigen Arme bestärkend in
die Hüften, was bei ihren gutmütigen Gesichtern eher drollig, als abschreckend
wirkte.
Dennoch
schien diese Methode wahre Wunder zu wirken und schon nach kurzer Zeit führte
eine jede ihren Racker an der Hand davon.
Kaum
waren sie hinter den Türen der Höhlen verschwunden, kehrte Ruhe ein.
Die
Dunkelheit senkte sich nieder und hier und dort wurden Kerzen angezündet, deren
mattes Licht durch die runden Fensteröffnungen fiel und sich wie ein nebliger
Schleier über diese legte, ohne in die Schwärze der Nacht vordringen zu können.
Grillen
zirpten, und in der Ferne erklang das müde Krächzen eines Waldkäuzchens.
Irgendwo
knurrte ein Hund leise im Schlaf – er jagte in seinem Traum gerade den fetten
Kater des Thain, der ihm immer seine Knochen stahl und ließ ein zufriedenes
Jaulen hören, als er ihn erwischt hatte.
Die
ersten Kerzen wurden bereits wieder gelöscht, als der Kies am Weg unter
leichten Schritten kaum hörbar knirschte.
Zwei
vermummte Gestalten bewegten sich auf den Dorfplatz zu. Auf ihren Rücken konnte
man die undeutlichen Umrisse kurzer Bögen erkennen und helle gefiederte Pfeile
in plumpen Köchern. Quer über die Schulter eines jeden hing an einem Lederband
ein seltsam geformtes Horn. Ihre breitkrempigen Hüte hatten sie tief in die
Gesichter gezogen.
Mit
schleichendem Gang und gesenkten Köpfen näherten sie sich dem Obstbaum und
blieben unter diesem stehen. Nur wenige Augenblicke später gesellten sich vier
weitere Gestalten, je zu zweien aus entgegengesetzten Richtungen kommend, zu
ihnen. Sie trugen die gleiche Ausstattung. In stillem Einvernehmen nickten sie
einander zu, dann begaben sich vier von ihnen wieder hinfort, wobei jeweils
zwei in die Richtung gingen, aus der das andere Paar gekommen war.
Die
übrigen warteten in der Finsternis. Einer von ihnen begann nach kurzer Zeit
leise vor sich hinzufluchen und stapfte unruhig von einem Fuß auf den anderen.
„Psst, nicht
so laut!“ raunte sein Kumpan ihm zu, dann lauschten beide. Ein leichtes
Rascheln erklang hinter ihnen, als jemand im Vorbeigehen nachlässig mit seinem
Gewand an einem Busch vorbeistrich.
„Na,
endlich!“ murrte der Ungeduldige. „Wird aber auch Zeit!“
„Irgend
etwas Auffälliges?“ fragte einer der Neuankömmlinge.
„Nein,
alles ruhig, aber beeilt euch, damit ihr endlich auf euren Posten kommt!“ Noch
immer vor sich hinschimpfend wandte er sich ab, gefolgt von seinem
schulterzuckenden Gefährten. Kurz darauf lag der Dorfplatz wieder ebenso ruhig
da wie zuvor.
Stunde
auf Stunde verrann. Die Sterne glitzerten hell und klar von einem wolkenlosen
Himmel wie unzählige Diamanten auf einem tiefschwarzen Samt. Nach und nach
kamen die Tiere der Nacht zur Ruhe und für die kurze Zeit bis die gefiederten
Frühaufsteher mit singenden Stimmen den neuen Tag begrüßen würden, herrschte
absolute Lautlosigkeit.
Da
durchschnitt ein heller, langgezogener Ton von irgendwo außerhalb des Dorfes
her die Stille, und sofort antwortete ein ähnlicher Ton, dreimal kurz
hintereinander angestoßen wie zur Bestätigung vom anderen Ende des Ortes.
Nur
wenige Augenblicke später waren sämtliche Höhlen von flackerndem Kerzenschein erleuchtet,
Türen wurden aufgerissen, und die Bewohner stürmten hastig in ihren langen
Nachtgewändern hervor. Hier streifte noch jemand schnell ein Hemd über, dort
rief einer seinem Weib über die Schulter zu, das Heim nicht zu verlassen und
die Kinder zu beruhigen. Ja, natürlich werde er auf sich aufpassen und „Schließ
die Türe hinter mir zu!“ Zielstrebig liefen die Männer die Straße hinunter zum
Bühl. Alle waren mit kurzen Jagdbögen bewaffnet und hatten wohlgefüllte Köcher
über ihren Rücken geschnallt oder warfen ihn noch im Laufen über.
Im Osten
erhob sich ein lichter Schimmer. Doch es war nicht der nahende Morgen. Feuer!
Die äußersten Felder brannten lichterloh!
Für einen
kurzen Schreckmoment stockte der Zug, dann riefen ängstliche und aufgeregte,
aber auch ärgerliche Stimmen wild durcheinander. Einer der Hobbits, ein Mann in
mittlerem Alter mit einer langen Feder an seinem Hut, aller Wahrscheinlichkeit
nach der Thain, gebot mit dröhnender Stimme Ruhe und rief einige Befehle, die
er mit richtungsweisenden Armbewegungen unterstützte.
Wie sich
herausstellte, waren die Hobbits keineswegs unvorbereitet. Hier, etwas
außerhalb des Dorfgeschehens, waren überall Fässer gestapelt oder Ochsenkarren
umgeworfen, hinter denen sie sich nun verschanzten, die Bögen zur Hand nahmen,
Pfeile einlegten und spannten. Dann brach es auch schon über sie herein.
Eine
Horde kleiner, dunkler Gestalten kam laut mit widerlichen Stimmen quiekend vom
Bühl herangestürmt. Die Männer warteten konzentriert und verhielten sich ruhig.
Als die Kobolde nahe genug heran waren, erhob sich die hintere Reihe aus ihren
Verstecken und ein Pfeilhagel ging auf die Eindringlinge nieder.
Für die
Orks mußte es so ausgesehen haben, als wären die Schützen aus dem Boden
gewachsen. Scheinbar hatten sie nicht mit Gegenwehr gerechnet, und nun wuselten
sie einen Augenblick lang ängstlich fiepend durcheinander, bevor sie sich
zurückwandten. Hinter ihnen tauchte ebenfalls eine Anzahl der tapferen Kerle
auf, die ihre Geschosse auf sie abfeuerten.
Die
Hobbits hatten geschickt das Überraschungsmoment für sich genutzt, doch nun
stürzten sich die restlichen Biester rachelüstern mit ihren krummen Messern auf
die Verteidiger, und bald schon waren überall blutige Handgemenge im Gange. Die
Dörfler erhoben die bereitgelegten Hacken, Schaufeln und Heugabeln und schlugen
auf alles ein, was nicht wie Ihresgleichen aussah.
Die
Kobolde waren eindeutig in der Überzahl. Einigen von ihnen gelang es, in das
Dorf zu entweichen, wo sie mit einer wahren Zerstörungslust begannen, Zäune
umzureißen und Gegenstände durch die Fenster zu werfen und mit bestialischer
Freude grunzten, wenn Kerzen zu Boden fielen, das Feuer sich schnell die
Tischdecke entlang fraß und in Sekundenschnelle hohe Flammen aufschlugen.
Aus den
Höhlen erklangen die erschrockenen Rufe der Frauen und das Weinen der Kinder.
Manche versuchten verzweifelt zu löschen, andere stürzten nach draußen, um dem
Feuertod zu entgehen. Triumphierend und mit dreckigem Lachen rannten die
Übeltäter auf sie zu, packten sie an den Armen und zerrten die wild um sich
schlagenden Mädchen mit sich.
Da
ertönte vom Hauptort des Kampfgeschehens ein zorniger Schrei aus hundert Kehlen
gleichzeitig und wer immer sich gerade von seinem Gegner losreißen konnte,
stürmte nun ins Dorf zurück und schlug mit aller Kraft auf die Entführer ein.
Trotz der
erbitterten Gegenwehr sah die Lage für die Überfallenen nicht gut aus. Immer
wenn sie dachten, sich ein wenig Luft verschafft zu haben, wuchsen die dunklen
Gestalten wie Ameisen aus dem Boden und drangen von neuem auf sie ein.
Die
Frauen sahen längst nicht mehr tatenlos zu. Sie hatten sich mit Besen,
Küchenmessern oder Teppichklopfern bewaffnet und kämpften um ihr Leben.
Die Hunde
kamen ihren Herren zu Hilfe, sogar der fette Kater des Thain stürzte sich
fauchend und zähnefletschend auf eine der Bestien. Es war das erste Mal, daß er
und die Kläffer auf der selben Seite kämpften.
Aus dem
dicksten Gewühl ragte eine Frauengestalt hervor, die ihren Gehstock wie eine
Keule schwang und haufenweise Orks verdrosch.
Doch
langsam drohten die Kräfte der Halblinge zu versagen. Ihre Bewegungen wurden
immer langsamer, die Waffen in ihren Händen immer schwerer und noch immer war
ein Ende der Schlacht nicht absehbar.
Ungerührt
von dem ganzen Tumult verkündete das klare Kikeriki eines Hahnes den nahenden
Morgen. Es klang wie eine Stimme aus einer fernen, unwirklichen Welt, ein
heller Hoffnungsschimmer am Rande des Bewußtseins. Beinahe zur gleichen Zeit
schickte die Sonne einen so nachdrücklichen, grellen Strahl über den Horizont,
daß die noch lebenden Kobolde voller Entsetzen vor dem Licht die Flucht
ergriffen.
Tief
durchatmend und vor Anstrengung keuchend und zitternd, stützten sich die
Kämpfer auf ihre Heugabeln oder ließen sich einfach erschöpft zu Boden sinken,
legten tröstend einen Arm um ihre Liebste, hoben ein weinendes Kind hoch - als
ein neuer Ruck durch die unglückliche Schar ging.
Die
Felder! Das Feuer! Im Gegensatz zu den Smials, deren Wände aus festem Erdreich
bestanden, weshalb die Flammen sich nur innerhalb der Höhlen ausbreiten konnten
und bald ersticken mußten, gebot ihnen dort nichts Einhalt.
Augenblicklich
entstand ein neuer Wettlauf. Alle, aus deren Höhle keine Flammen schlugen,
rannten zurück in die Wohnung, wühlten hastig und ohne Rücksicht auf
umgerissene Möbelstücke und Geschirr nach Eimern und folgten den bereits
Vorausgeeilten in Windeseile hinunter zum Bach.
Zunächst
herrschte ein wildes Durcheinander, weil ein jeder zuerst versuchte ans Wasser
zu gelangen. In dem Handgemenge rutschten zwei junge Kerle am glitschigen Ufer
aus und fielen kopfüber in die Fluten.
Dem
umsichtigen Thain gelang es nach einigen vergeblichen Versuchen, sich Gehör zu
verschaffen und Ordnung in den Haufen zu bringen. Während ein paar Männer die
beiden unfreiwillig Badenden aus dem Wasser fischten, erklärte das
Dorfoberhaupt mit knappen Worten, daß sie eine lange Reihe vom Ufer bis zum
brennenden Feld bilden sollten, was mit unglaublicher Geschwindigkeit in die
Tat umgesetzt wurde.
Die Eimer
wurden von Hand zu Hand weitergereicht, leere hinunter zum Bach und volle
hinüber zu den Flammen. Es war eine langwierige und kräftezehrende Arbeit. Aber
niemand klagte, alle trugen ihren Teil bei, obwohl die Lage aussichtslos war
und jeder dies wußte, bevor sie noch mit ihren Bemühungen begonnen hatten.
Das reife
Korn bot dem Feuer eine willkommene Nahrung. Laut knisternd fraß es sich mit
schmerzhafter Schnelligkeit durch die trockenen Blätter und Halme und verzehrte
alles, was in seine Nähe kam. Zurück blieben nichts als verkohlte Stoppel und
verbrannte Erde. Dennoch gaben die kleinen Leute nicht auf, versuchten den
Schaden einzudämmen, so gut es ging.
Doch
erst, als das Feld völlig niedergebrannt war und die Flammen am lehmigen Wegesrand
keine Nahrung mehr fanden, erstickten sie endlich.
Völlig
erschlagen, die Eimer noch immer in den Händen, standen die Hobbits da und
starrten ungläubig auf die schwarze, rauchende Fläche. Keiner sagte ein Wort.
Es hätte auch nichts geholfen. Beinahe ihr gesamtes Korn war niedergebrannt und
alle wußten, was dies bedeutete. Dies würde ein sehr karger Winter werden.
Erst
langsam erwachten sie aus ihrer Erstarrung. Schweigend und mit hängenden Köpfen
und Schultern schlurften sie zurück zum Dorf.
Der Anblick,
der sie zuhause erwartete, war nicht minder niederdrückend. Drei Höhlen waren
gänzlich ausgebrannt und zwischen den Leichen der widerlichen Kreaturen, lagen
allzu viele ihres eigenen Volkes. Laut schluchzend sanken die Angehörigen bei
ihren Toten in die Knie.