Ættryne

 

 

 

Es war ein sonniger Frühlingstag. Das Gras auf den weiten Ebenen Rohans stand im frischen Grün. Gleichmäßig rumpelte der kleine Wagen dahin, als die Familie die sanften Hügel auf- und niederfuhr, denn eine angelegte Straße gab es nicht zwischen der Hauptstadt des Reiches und seiner mächtigsten Befestigung.

 

Gylthain hielt sich neben seinem Vater, den Blick unablässig auf dessen Schwert gerichtet, als übe dieses einen Bann auf ihn aus. Eine zeitlang ignorierte Gylmer die wortlose Bewunderung seines zweitältesten Sohnes für seine Hieb- und Stichwaffe. Es war richtig. Ættryne war auch sein ganzer Stolz. Das Erbstück des Hauses Gyltred. Ebenso alt wie dessen Wappen.

 

Doch schließlich wurde es Gylmer zuviel. Er seufzte genervt und wandte sich seinem Sohn zu mit den Worten: „Hoffst du etwas Neues an dem Schwert zu entdecken, das dir bisher entgangen ist, Sohn?“

 

Gylthain erwachte ruckartig aus seiner Starre. „N-nein“, stotterte er, wobei er kurz seinem Vater in die Augen sah, woraufhin sein Blick ohne sein Zutun zurück zu dem Schwert wanderte.

 

Gylmer räusperte sich tadelnd und hielt seinen Blick streng auf seinen Jungen gerichtet. Der sah so unschuldig zu ihm auf und ließ sich von dem scheinbaren Zorn seines Vaters so wenig beeindrucken, daß dieser lachend den Kopf schüttelte.

 

„Darf ich es einmal halten?“ wagte Gylthain zu fragen, der nicht wußte, woher der plötzliche Sinneswandel seines Vaters kam, aber glaubte, die gute Laune ausnutzen zu müssen.

 

„Später“, versprach dieser.

 

„Wann?“ hakte der Junge sehnsüchtig nach.

 

„Wenn wir gelagert haben und du es dir in Ruhe ansehen kannst.“

 

Diese Antwort genügte, um Gylthain ein vorfreudiges Glitzern in die Augen zu zaubern. Eifrig zustimmend nickte er und zwang sich, nicht schon wieder auf das Schwert zu sehen. Später würde er es sich ganz genau betrachten können. Sein Vater hatte es versprochen. Und was er versprach, das hielt er.

 

Gylthain verehrte seinen Vater. Er wollte einmal genauso werden wie er. So groß und stark und edel und so geliebt von den Leuten seiner Éoreds. Und dann würde er auch auf dem Turnier kämpfen. So wie sein Vater. Dieser übte bereits fleißig mit seinem Sohn den Schwertkampf und das Bogenschießen. Und wenn der Vater nicht zu Hause war, mußte Fricstan als Übungspartner herhalten. Der arme Freund ging an so manchem Nachmittag mit Beulen und Schrammen und blauen Flecken, aber immer mit einem gut gelaunten Lachen und einer lustigen Bemerkung nach Hause.

 

Oh ja, sein Vater würde in dem Turnier kämpfen, und das erfüllte Gylthain mit Stolz. Er war einer der tapfersten und fähigsten Krieger der Riddermark. Davon war zumindest der Knabe fest überzeugt, und er zweifelte keinen Moment daran, daß er siegen würde.

 

„Ich werde mir einmal die Umgebung genauer ansehen“, verkündete Gylmer schließlich. Zwar wußte er die Gegend von seinen Éoreds gesichert, aber er war ein vorsichtiger Mann, und nur weil es in jüngster Zeit keine Orküberfälle gegeben hatte bedeutete dies nicht, daß er jegliche Wachsamkeit außer Acht ließ.

 

„Du nicht, kleiner Bruder!“ spöttelte Gylford gutmütig, als dieser Anstalten machte, dem davongaloppierenden Vater zu folgen.

 

„Warum nicht?“ Gylthain klang verärgert. „Denkst du, ich kann das nicht? Warum mußt du mich immer wie ein Kind behandeln? Ich bin schon fast erwachsen!“ fauchte er.

 

Gylford zog die Augenbrauen hoch und streckte beide Hände abwehrend aus. „Weil Vater nichts davon gesagt hat, daß du mitkommen darfst. Darum nicht.“ Er kannte die ungestüme Laune seines Bruders und wußte auch, daß er ihn besser nicht reizen sollte.

 

Gylford war ein ruhiger Charakter, der sich nicht gerne auf einen Streit einließ.

 

„Weißt du“, versuchte er den aufwallenden Ärger des kleinen Bruders zu beruhigen, „Ættryne ist etwas ganz Besonderes.“

 

Gylthain nickte eifrig und sogleich begannen seine Augen wieder voller Vorfreude zu glänzen. „Ich weiß. Und wenn Vater mir erlaubt, Ættryne zu halten, dann heißt das, daß ich erwachsen bin!“ schlußfolgerte er.

 

Gylford nickte bestätigend. „Ja, das bist du. Vergiß das nicht! Du mußt dich jetzt verantwortungsvoll verhalten und deine Pflichten sehr ernst nehmen!“

 

„Da kommt Vater zurück. Sieh nur!“ Gylthain fuhr kerzengerade auf seinem Pferd in die Höhe, den rechten Arm richtungweisend ausgestreckt und die Augen geweitet. Es konnte nichts Gutes heißes, wenn sein Vater so schnell nach seinem Aufbruch zurückkehrte.

 

Außerdem ritt er, als wäre Sauron höchstpersönlich hinter ihm her.

 

„Orks!“ rief er schon von weitem. „Fahrt den Wagen dort zwischen die Felsen! Gylthond, Gyltha, ihr bleibt ihm Wagen! Duckt euch! Ich will nicht ein Haar von euch sehen!“ bellte er. „Earna, du paßt auf sie auf!“

 

Bei den Felsen angekommen, beauftragte Glymer die Knappen damit, die Pferde auszuspannen, damit sie bei dem bevorstehenden Kampf nicht mitsamt dem Wagen durchgehen konnten. Dann zog er seinen Bogen unter einem der Bündel hervor und spannte die Sehne. „Runter von den Pferden! Es ist zu spät zum Fliehen, sie haben uns bereits eingekreist!“ Wo um alles in Mittelerde waren sie nur so schnell hergekommen? Gylmer schimpfte verärgert vor sich hin, während er weiter Anweisungen gab. Es half nichts. Er mußte das beste aus der Situation machen.

 

Endlich waren alle Vorbereitungen zu seiner Zufriedenheit erledigt. Die beiden jüngsten Kinder mit ihrer Amme im Wagen versteckt, alle anderen in sicheren Stellungen. Gylmer rechnete in Gedanken ihre Chancen aus: Sein ältester Sohn war bereits ein fähiger Kämpfer, und auch Gylthain schlug sich gut für sein Alter. Lambold stand ihm selbst kaum nach, doch die beiden Knappen würden keine große Hilfe sein. Anders als seine Frau, die als echte Schildmaid Rohans so manchen Mann das Fürchten lehrte.

 

Nur eine Handvoll Kämpfer - gegen fast fünfzig Orks!

 

 

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