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Kurze Zeit nachdem ich auf mein Zimmer gegangen war, suchte Lindor mich auf. Schweigend trat er vor den kunstvoll geschnitzten Schrank und betrachtete eingehend die Szene, in der Tuor Maeglin von der Stadtmauer stürzt.

 

„Einst war es das herrlichste aller Elbenreiche auf Arda.“ Er lächelte bitter. „Zumindest erschien es mir, als könnte sich weder Doriath noch Nargothrond mit ihm messen.“

 

Er fuhr auf dem Absatz herum und sah mir scharf in die Augen. „Niemals hätte der Feind es besiegen können, ja nicht einmal finden, wäre es nicht verraten worden!“

 

„Hältst du mich etwa für einen Verräter?“ quietschte ich entrüstet.

„Nein“, winkte er unversöhnlich ab, „aber für einen sehr leichtsinnigen Menschen!“

„Tuor war auch ein Mensch!“ Anklagend streckte ich den Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf die geschnitzte Figur, da Lindor für meinen Geschmack die Tatsache, daß ich kein Elb war, ein wenig zu abfällig betont hatte.

 

„Du kennst dich gut in der Geschichte Mittelerdes aus.“

„Zu gut, ich weiß...“ Seufzend ließ ich mich aufs Bett fallen. „Es tut mir leid. Ehrlich. Es ist... es ist mir unbeabsichtigt nur so herausgefahren. Zum Glück hat Aiwendil die Situation für mich gerettet.“

 

„Nur teilweise...“, murmelte Lindor und wandte sich zu mir um.

„Wie... wie meinst du das? Teilweise?“

„Versetze dich in Galvorns Situation und beantworte dir die Frage selbst“, forderte er mich auf. Seine Worte klangen harsch, doch er setzte sich zu mir und entspannte durch diese Geste ein wenig die Situation.

 

Konzentriert runzelte ich die Stirn. Erst wußte ich nicht, worauf er hinaus wollte. Dann dämmerte es mir langsam.

„Er fragt sich, weshalb ich erst dich vorgeschoben habe?“

 

„Ganz recht. Doch mehr noch. Galvorn weiß, daß du in der Lage bist, Aiwendil zu verstehen. Aber nicht in der Weise, wie die Erstgeborenen die Sprache der Tiere hören. Ein Bericht über die Flucht dieses Wesens, das sie Gollum nennen, wäre zu komplex, viel zu kompliziert, um den ganzen Inhalt zu erfassen.“

 

„Aber...“ Ich stockte. Konnte das sein? Ich vermochte doch sonst auch, Aiwendils Erläuterungen bestimmte Personen zuzuordnen. Doch dann begriff ich, daß dies stets Anwesende gewesen waren, auf die der kleine Vogel hatte deuten können oder solche, die ich vermutet und selbst ausgesprochen hatte – so daß er mir sie nur bestätigen mußte.

Auch der Inhalt seiner Beschreibungen war stets sehr übersichtlich und leicht zu erfassen.

 

„Aber...“, setzte ich nach längerer Pause nochmals an, „aber wenn ich nun direkt nach Gollum gefragt hätte?“

 

Lindor hob die Augen hilflos Richtung Decke.

 

Okay, okay. Kein normaler Mensch oder Elb erkundigt sich ohne besonderen Grund nach einer so widerwärtigen Kreatur. Blieb also die Frage: Welches Interesse konnte ich an diesem Gefangenen haben? Einem Gefangenen, dessen Ursprung, Hintergrund und Bedeutung ich nicht kennen durfte?!

 

„Immerhin hat er den Lieblingsplatz der Kinder verseucht und sie zum Spielen in die Hallen vertrieben“, schmollte ich.

Lindor lachte. Bitter.

 

„Lindor?“ Ich nestelte an meinem Zopf herum, der sich wie üblich von selbst auflöste, wobei die Haarspitzen in kleinen Zauseln über die gesamte Länge stur in alle Richtungen abstanden.

„Galvorn hält mich doch nicht wirklich für einen Verräter, oder?“ Der Gedanke daran hinterließ ein schmerzendes Ziehen in der Brust und auch mein Magen glaubte, mit einem unangenehmen Krampf dagegen protestieren zu müssen.

 

Lindor antwortete nicht sogleich. Er schien sich seine Worte sehr genau zurecht zu legen. Ich erwartete eine lange und ausführliche Erklärung. Doch als er endlich sprach, fiel diese sehr spärlich aus.

„Er stellt Fragen.“

„Was für Fragen?“

„Fragen nach dir. Nach deiner Herkunft. Elli...“ Er zögerte. „Galvorn fühlt, daß etwas mit dir nicht stimmt.“

„Wie... wie meinst du das?“ Ich war schockiert.

 

„Elli! Galvorn ist nicht dumm! Er ist...“

„Dein Sohn, ich weiß!“ unterbrach ich ihn trotzig, sprang auf und tigerte frustriert vor der offenen Fensterwand hin und her.

 

Das war doch zum Haareraufen! Alles lief schief! Erst Legolas, jetzt Galvorn! Da sollte jemand anderes seine Nerven behalten – ich nicht! Ich rastete, wie man auf gut deutsch sagt, gerade so richtig schön aus. Lindor war plötzlich nicht mehr da, mein Zimmer nur noch nebelhaft vorhanden. Mittelerde verschwand wie der Zug in einem Tunnel. Ich war allein. Allein irgendwo in einem schwarzen Nichts und schimpfte und diskutierte mit mir, daß Lindor vor Scham rot angelaufen wäre. Aber Lindor war ja nicht mehr da. Und außerdem fluchte ich ohnehin in meiner Muttersprache. Man sagt, wenn man in besonders großer Bedrängnis ist, benutzt man immer die Muttersprache, ganz gleich wie viele Sprachen man fließend spricht.

 

Endlich hatte ich mich soweit beruhigt, daß nach und nach alle Details meiner Umgebung sich wieder einblendeten. Erst der Fußboden, dann der von der Abendsonne in rotes Licht getauchte Balkon, mein Zimmer, die Einrichtung in warmem Halbdunkel, und Lindor. Lindor, schweigend, geduldig auf den Ausgang meiner Selbstanklage wartend.

 

Tief atmete ich durch und fühlte mich mit einem Mal völlig erschlagen, als wäre der Rest meiner Energie mit dem letzten geschimpften Wort aus mir herausgefahren. Seufzend sank ich aufs Bett. Was sollte ich tun? grübelte ich und bevor ich es bemerkte, hatte ich die Frage laut ausgesprochen.

„Was soll ich jetzt tun?“

 

„Du könntest Galvorn die Wahrheit sagen.“

„Über mich?! Nein! Das würde er mir niemals glauben!“

„Ich glaube dir.“

„Schon. Ja.“

 

Ich hatte keine Geduld zum Sitzen, sprang erneut auf und durchwanderte die gleiche Bahn mit raschen Schritten. Fünf Meter hin, fünf Meter zurück.

„Das ist etwas anderes“, gestikulierte ich mit den Händen in die Luft.

 

„Ist es das?“ Lindor klang schon wieder ganz wie Radagast. Wußte er denn nicht, daß er mich in meiner augenblicklichen Gemütsverfassung lieber nicht reizen sollte?

 

„Natürlich! Was soll ich Galvorn denn sagen? Radagast hat mich hergebracht, weil du der Elb meiner schlaflosen Nächte bist?!“

 

Lindor gluckste amüsiert.

„Ich dachte eigentlich mehr an den Teil, in dem es darum geht, woher du dein Wissen beziehst.“

„Und als Erklärung weshalb ich hier bin, gebe ich WAS an? Daß ich mich verirrt habe?“

„Wie wäre es mit: Radagast hatte seine Gründe dafür, dich herzubringen.“

„Jou... das klingt glaubhaft...“ Ich schwankte zwischen Ironie und Überzeugung.

 

„Man sagt: Mische dich nicht in die Angelegenheiten von Zauberern ein, denn sie sind schwierig und rasch erzürnt“, zitierte Lindor mit einem Schulterzucken.

 

„Und du glaubst wirklich, das wäre eine gute Idee?“ zweifelte ich.

 

Lindor sagte nichts. Es war auch keine Frage, auf die ich eine Antwort erwartete.

 

„Es geht trotzdem nicht.“ Im Widerspruch zu meinen entschlossenen Worten, hielt ich den Kopf gesenkt und trippelte nervös mit den Fußspitzen auf den Boden.

 

Lindor schwieg. Doch ich fühlte seinen forschenden Blick in meinem Nacken.

 

„Als Radagast herausgefunden hat, daß ich dich ins Vertrauen gezogen habe, bekam er einen echt üblen Wutanfall, und ich mußte ihm bei allem was mir heilig ist versprechen, es nicht noch jemandem zu verraten.“

 

„Ich kann es ihm sagen“, bot Lindor großzügig seine Hilfe an.

 

Hastig schüttelte ich den Kopf. „Nein. Nein. Du hast mir versprochen, es keinem zu sagen!“

 

„Unsinn! Du kannst dieses Versprechen jederzeit aufheben!“

 

„Ja schon... aber... würde das nicht bedeuten, mein Versprechen an Radagast zu umgehen?

 

„Das sind Spitzfindigkeiten!“

 

Jetzt war Lindor richtig sauer. Er konnte nicht begreifen, weshalb ich so vehement zu verhindern suchte, daß Galvorn die Wahrheit erfuhr.

 

Die andere Wahrheit war: Ich hatte Angst davor, es Galvorn zu sagen! Der hielt mich doch eh schon für einen Freak. Wenn ich ihm jetzt noch erzählen würde, daß ich aus einer anderen Welt kam und über den Ringkrieg in einem Roman gelesen hatte...

 

Nein. Mochte Lindor diese Heimlichtuerei noch so wenig gefallen – Ich konnte einfach nicht über meinen eigenen Schatten springen. Trotzig schob ich das Kinn vor und bestand auf meinem Recht.

„Du hast es versprochen!“

 

Lindor mußte wohl einsehen wie wenig Sinn es hatte, mit mir darüber zu diskutieren. Ohne ein weiteres Wort des Einwands erhob er sich.

„Denk darüber nach!“

„Werd ich...“ nuschelte ich, um ihn nicht weiter zu erzürnen, konnte ihm dabei aber nicht in die Augen sehen.

 

Großartig! dachte ich noch, als die Tür sich hinter ihm schloß. Jetzt konnte ich den Gedanken, meine Nachforschungen in Sachen „Elronds Rat“ zu vereinfachen indem ich mich bei Lindor danach erkundigte, vergessen. Aber gut. Die Aufgabe lautete ohnehin „unauffällig“. Und der arme Lindor hatte schon genug daran zu tragen, daß er mich nicht danach fragen durfte, was ich wußte. Da konnte ich ihm nicht auch noch zumuten, für mich den Spion zu spielen und Dinge in Erfahrung zu bringen, die ich wissen wollte, von denen er aber wiederum nicht wissen sollte, warum. Erst recht nicht, nachdem ich ihm die Bitte abgeschlagen hatte, seinen Sohn endlich ins Vertrauen zu ziehen. Denn dies war nach meiner Ansicht Lindors größeres Anliegen, wenn auch der benannte Grund ein anderer gewesen war.

 

Rumsitzen half nichts. Selbstmitleid brachte mich nicht weiter. Entschlossen schob ich eine wirre Haarsträhne hinters Ohr und trat auf den Flur.

„Was du heute kannst besorgen...“, sinnierte ich und drehte mich um die eigene Achse.

 

Wohin sollte ich mich wenden? Elronds Gemächer lagen dort entlang. Und schon liefen meine Füße los, ohne auf den entsprechenden Befehl zu warten. Ich zuckte die Schultern. Irgendwo mußte ich schließlich anfangen.

 

Die Gänge und Treppen Bruchtals waren mir noch nie so lang und belebt vorgekommen. Immer wenn mir jemand begegnete, zuckte ich innerlich zusammen. Was tat ich hier? Noch befand ich mich in einem Bereich, wo ich nicht auffiel. Aber das würde sich ändern, je näher ich jenen Räumlichkeiten kam, die dem Herrscher und seiner Familie, sowie den höher gestellten Persönlichkeiten vorbehalten waren. Was sollte ich dann sagen, wenn mich jemand nach meinen Absichten fragte?

>Daß du dich verirrt hast?< spöttelte es in meinem Kopf.

„Pfffft...“ Unbeirrt ging ich weiter. Warum nicht? Sie würden mich schon nicht gleich in den Kerker sperren, nur weil ich diese Flure betreten hatte. Oder doch?

 

Stirnrunzelnd blieb ich stehen und blickte zurück. Es half nichts. In der Küche würde ich kaum etwas in Erfahrung bringen, was über die Leckereien fürs Abendessen hinaus ging. Also auf! Es war nicht mehr weit. Am Ende des Ganges rechts und dann immer geradeaus. Da mußte es sein.

 

An der Optik der Gänge änderte sich zunächst nichts. Die gleichen strahlend weißen Wände mit den rußfreien Fackeln alle zehn Meter und dazwischen die wundervollen in Stein gehauenen Reliefs mit Szenen aus der Geschichte Mittelerdes. Erst kam mir nicht in den Sinn sie zu betrachten. Dafür hatte ich keine Zeit. Dann bemerkte ich, daß sich mir hier die Möglichkeit für eine glänzende Tarnung bot: Wenn mich jemand entdecken würde, konnte ich vorgeben, mir die Bilder anzusehen!

 

Dazu mußte ich aber meinen raschen Schritt um einiges zügeln, denn sonst erweckte ich zu sehr den Eindruck, ein bestimmtes Ziel anzusteuern.

 

Gerade hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, da stand ich vor der ersten Tür.

Die sah nicht anders aus als alle anderen Türen.

Es war kein Schild daran, das mich darüber informierte, was sich dahinter verbarg.

Geschlossen war sie außerdem.

Natürlich. Was hatte ich erwartet?

Und jetzt?

 

Tja, von allein würde die Tür sich kaum öffnen, oder? Und wenn ich warten wollte, bis sonstwer das für mich tat, so würde er es ganz sicher nicht tun, um mich einzulassen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als selbst tätig zu werden.

 

Meine Hand erfaßte geräuschlos den Griff, und meine Finger schlossen sich fest um das glatt geschmirgelte Holz. Noch einmal atmete ich tief durch, nickte mir selbst bestätigend zu und knabberte vor Aufregung auf der Unterlippe.

 

In Erwartung des folgenden Eintritts erhob ich bereits meinen Fuß. Da schreckte ich zurück, als hätte mich jemand mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen.

 

Was tat ich da?

 

>Denkst du wirklich, du kommst damit durch?< meldete sich meine innere Stimme zu Wort – ausnahmsweise einmal nicht zynisch, sondern ehrlich bemüht, mich wieder auf den rechten Pfad zu bringen.

>Es ist eine Sache, dich hier draußen auf den Gängen herumzudrücken, aber eine ganz andere, in fremde Gemächer einzudringen! Willst du doch noch für eine Verräterin gehalten werden, wenn du beim Herumspionieren erwischt wirst? Und sie werden dich erwischen. Verlaß’ dich drauf!<

 

Manchmal tut man gut daran, auf seine innere Stimme zu hören. Ich wandte mich von der Tür ab und stellte mich erst einmal betrachtenderweise vor ein Relief, um in Ruhe über meine nächsten Schritte nachzudenken.

 

Also wie war das nochmal? Solange ich auf den Gängen blieb und die Kunstwerke betrachtete, war ich auf der sicheren Seite? Oh ja. Richtig. Die wenigen Elben, die vorübergingen, störten sich keineswegs an meiner Anwesenheit. Aber leider erzählten sie mir auch nicht, was ich wissen wollte. Da konnte ich mir ruhig den ganzen Nachmittag die Beine in den Bauch stehen – es brachte mich kein bißchen weiter.

 

Während ich so auf dem Flur herumstand und mir die Bilder ansah, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Zunächst über die dargestellten Szenen. Doch schon bald schweiften meine Gedanken ab, vermischten erst das Gesehene mit dem eigenen Erleben, rückten mal dieses mal jenes in den Vordergrund, bis die sichtbare Materie vor meinen Augen verschwamm und meine Überlegungen sich mehr und mehr um mich selbst drehten.

 

Ich verweilte bereits seit geraumer Zeit vor einem Gipsabdruck der ersten Begegnung von Beren und Lúthien – der Darstellung auf dem Nachttisch in meinem Zimmer nicht unähnlich und doch völlig andersartig durch die Verschiedenheit des verarbeiteten Materials.

 

Ein Sterblicher und ein Elbenmädchen. Immer war der männliche Teil ein Mensch. Beren und Lúthien. Túor und Idril. Aragorn und Arwen...

 

Ich weiß nicht genau warum, aber aus einem nicht klar definierbarem Grund empfand ich dies augenblicklich furchtbar deprimierend. Dazu kam der Frust über meine momentane Hilflosigkeit was die Nachforschungen zum Rat und das Geraderücken der Geschichte betraf. Kurz gesagt, ich war nicht gerade in Hochstimmung.

 

Vielleicht hatte Lindor recht. Vielleicht sollte ich Galvorn wirklich alles erzählen. Er hatte doch ohnehin bereits bemerkt, daß mit mir „etwas nicht stimmte“, wie Lindor sich ausgedrückt hatte. Ob er auch die Fremdartigkeit meiner Fea spüren konnte, so wie Gildor Inglorion? Aber mußte dann nicht jeder Elb sie bemerken?

 

Doch nein. Das war unwahrscheinlich. Viel eher konnte ich mir vorstellen, daß Gildor über eine besondere Gabe verfügte. Schließlich war er nicht irgendein Elb. Irgend etwas Besonderes hatte es mit ihm auf sich – auch wenn ich mich natürlich wieder einmal nicht daran erinnern konnte, was das war. Typisch...

 

Jedenfalls glaubte ich nicht daran, daß jeder hier mich für ein Alien halten und dennoch wie einen ganz gewöhnlichen Menschen behandeln konnte. Und wenn Lindor davon gesprochen hatte, daß Galvorn mich für unnormal hielt, so meinte er womöglich einfach das, was mich persönlich auszeichnete. Also... mein chaotisches Auftreten, mein Talent in jedes Fettnäpfchen zu treten, mein sicheres Gespür für Peinlichkeiten... und mein außergewöhnliches Wissen über Begebenheiten und Zusammenhänge in der Geschichte Mittelerdes natürlich. Natürlich...

 

Ob es nicht vielleicht trotzdem ratsam wäre, ihm die Wahrheit zu sagen?

 

Aber mein Versprechen an Radagast? Was würde der Zauberer dazu sagen, wenn ich es brach und einen Bewohner Mittelerdes nach dem anderen ins Vertrauen zog! Oder würde er es gar verstehen? Unter den gegenwärtigen Umständen war es vielleicht tatsächlich das Sinnvollste, was ich tun konnte.

 

Es nützte schließlich niemandem, wenn Galvorn Elrond oder sonst jemandem von seinen Verdächtigungen erzählte. Sie würden sich nur unnötig Gedanken über einen Spion machen, der gar keiner war. Dabei sollten sie sich lieber auf das Wesentliche konzentrieren!

 

Und stellt euch nur vor, wenn ich durch eine solche falsche Anklage der Herrin des Goldenen Waldes erneut ins Visier rückte! Wer konnte schon vorhersehen, ob und wieviel Elrond seiner Schwiegermutter von der kleinen Verräterin erzählen würde? Was, wenn ich statt in Bruchtals Kerker gesteckt, zu ihr nach Lórien geschickt wurde? Würde Galadriel dann nicht einen Weg finden mich zu zwingen, in ihren Spiegel zu blicken? Abgesehen davon war dazu vielleicht gar kein Zwang nötig, denn ich traute meiner Neugierde nicht...

 

Oder was, wenn die dunkle Seite etwas davon spitz bekam? Saurons Spione waren gerade dabei, ganz Mittelerde nach dem Einen Ring zu durchforschen. Konnten sie bei dieser Gelegenheit nicht auch von mir erfahren? Hatten sie nicht ohnehin bereits Gerüchte über mich gehört? Radagast hatte einmal erwähnt, daß seine Schergen ebenfalls auf der Suche nach mir waren!

 

Langsam steigerte ich mich in meine Phantasien. Ich möchte hier gar nicht erwähnen, auf welche dummen und beängstigenden Einfälle ich noch kam. Obwohl ich mich vor nicht ganz zwei Stunden Lindor gegenüber vehement geweigert hatte, Galvorn die Wahrheit einzugestehen, fand ich plötzlich tausend gute Gründe dafür, es nun doch zu tun.

 

„Hast du dich verirrt?“

 

Gerade hatte ich besonders tief eingeatmet, um meinem unsichtbaren Diskussionspartner in dieser einseitigen Debatte mit Nachdruck ein stichhaltiges Argument entgegenzuschleudern – die Hand geballt, zum bekräftigenden Faustschlag auf den nicht vorhandenen Tisch.

 

In meinem Eifer überhörte ich die Frage nahezu. Elektrisiert wirbelte ich herum. War da jemand oder hatte ich mir das eingebildet?

 

„Ist das eine Gewohnheit von dir, über alle Erstgeborenen schimpfend die Gänge der Elbenreiche zu durchwandern?“

 

„Legolas?!“ schrie, nein brüllte ich ihn an. Vor lauter Erleichterung vergaß ich nicht nur mich zu rechtfertigen, sondern führte an Ort und Stelle einen Indianertanz auf.

 

Über was oder wen ich gerade hergezogen hatte? Völlig gleichgültig! Er war hier! Legolas war in Bruchtal angekommen! Was kümmerte es da, daß der Elbenprinz vom Düsterwald seine Meinung über meinen labilen geistigen Zustand bestärkt sehen mußte? Eru sei Dank gab es keine Irrenanstalten in Mittelerde und alles andere war mir in diesem Moment total egal!

 

Zwar war ich mir relativ sicher, daß Legolas erst unmittelbar vor Elronds Rat in Bruchtal hätte auftauchen sollen – doch wieviel konnte ich schon auf mein Erinnerungsvermögen geben? Na? Eben!

 

Also freute ich mich uneingeschränkt über seine Anwesenheit und nahm mir ganz fest vor, die Gefährten auf gar keinen Fall ohne ihn abreisen zu lassen.

 

Irgend etwas in dieser Art mußte ich in meiner Euphorie laut ausgesprochen haben – doch zu diesem Zeitpunkt wurde ich von dem anmutigen Elben bereits nicht mehr wirklich ernst genommen.

 

Mein wildes Herumgehüpfe hatte im Allegretto und mit Kriegsgeheul im Fortissimo begonnen, war nach steten Decrescendo in ein Andante übergegangen, welches endlich in atemlosem Schnaufen sein Finale erreichte. Jetzt stand ich vornübergebeugt, mit den Händen auf die Knie gestützt und um Luft japsend da.

Dieser Zustand hatte einen ganz klaren Vorteil: Ich konnte für einen kostbaren Moment lang einmal nichts Dummes sagen!

 

Und wie reagierte Legolas auf meinen lautstarken Ausbruch? Was tat der – doch immerhin fast 3000 Jahre alte und somit zwangsläufig relativ weise Elb? Dachte er vielleicht darüber nach, mit dem Errichten der oben erwähnten Irrenanstalt eine Marktlücke in Mittelerde zu schließen? Ich weiß es nicht. Aber wenn er etwas Ähnliches in Erwägung zog, so ließ er es sich nicht anmerken.

 

Wie er sich lässig von dem Türrahmen abstieß und geschmeidig auf mich zutrat, hatte ich ein starkes Déjà-vu. Nur der strahlende Nimbus vom hereinfallenden Sonnenlicht fehlte. Im flackernden Fackelschein wirkte Legolas bodenständiger. Irgendwie. Ich legte den Kopf schief und musterte ihn eingehend. Lag wohl am fehlenden Kitscheffekt. Trotzdem verströmte er noch die gleiche jungenhafte Frische und Leichtigkeit. Und ja, wenn man genau hinsah, blitzte in seinen Augen der Schalk. Doch es war unmöglich zu beurteilen, ob seine gute Laune von meinem Gehopse oder seiner positiven Lebenseinstellung herrührte. Vielleicht ein wenig von beidem.

 

„Es freut mich, dich wohlauf zu sehen, Elanor.“ Eine leichte Verneigung begleitete die Worte. Sie klangen gewohnt ehrlich und ohne ironischen Unterton.

„Freut mich auch. Also, ich meine, ich freue mich dich zu sehen“, stotterte ich unbeholfen. Nein, meine Smaltalk-Fähigkeiten hatten sich seit unserem ersten Treffen nicht verbessert.

 

„Dein Freudentaumel gilt also mir? Ich fühle mich geschmeichelt.“ Jetzt mischte sich leichter Sarkasmus in seine Stimme. Es war schließlich eine völlig überflüssige Feststellung. Ich grinste breit.

 

Legolas lächelte höflich zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit dann auf das Relief in meinem Rücken.

„Du siehst dir die Bilder an?“

 

„Ich... ähm... ja.“ Ich drehte mich schwungvoll auf den Fersen herum. „Aber ich verstehe nicht, was das hier darstellt“, log ich.

 

„Es erzählt die erste Begegnung von Beren und Lúthien“, erklärte Legolas hilfsbereit. Er trat neben mich und betrachtete die Szene nachdenklich und konzentriert.

 

„Ah?“

„Ein Elbenmädchen, das sich in einen Sterblichen verliebte.“

„Und umgekehrt... oder?“

Legolas schmunzelte. „Und umgekehrt. Du bist eine gute Beobachterin.“

 

„Naja...“ Ich schürzte die Lippen. „So wie der sie angafft!“

Legolas antwortete nicht auf meine freche Bemerkung, sondern versank noch nachdenklicher in der Betrachtung.

 

„Erzählst du mir die Geschichte?

Ich meine...

Nur wenn es deine Zeit zuläßt.

Und...

und, wenn du möchtest... natürlich.“

 

Eigentlich war es schon irgendwie dreist, ihn darum zu bitten, ging es mir bei jedem Teilsatz bewußter durch den Kopf.

Dessen ungeachtet setzte ich ein zuckersüßes „Biiitte!“ hinzu, untermalt mit meinem treuesten Hundeblick.

 

Keine Ahnung, was ich mir dabei dachte. Aber ich verspürte ein seltsames Verlangen danach, das Schicksal dieses berühmten Liebespaares aus Legolas’ Mund zu hören.

 

Dieser neigte zu meiner großen Freude zustimmend den Kopf, verharrte jedoch weiter im Schweigen.

 

Ich seufzte. Beren und Lúthien. Sie sahen einander und wußten, daß sie sich liebten. Oder so ähnlich. „In Geschichten ist immer alles so einfach...“

Erschrocken hielt ich die Luft an. Das hatte ich jetzt nicht laut ausgesprochen, oder?

 

„Einfach?“ Legolas schüttelte den Kopf. „Nein. Alles andere, aber nicht leicht. Hör selbst.“

 

Konzentriert atmete er durch und wandte sein Gesicht erneut von mir ab und der Darstellung auf dem schneeweißen Relief zu.

Dann begann er mit leiser Stimme zu singen.

 

Davon, wie Beren nach Dóriath kam, sang er. Wie er Lúthien auf der Lichtung zu den Harfenklängen Daerons tanzen sah und sie anrief. Wie sie vor ihm floh – ehe sie sich ihre Liebe eingestand. Er sang davon, wie Lúthien ihren Eltern von Beren erzählte und Thingol ihr versprechen mußte, ihm kein Leid anzutun, wenn er zu ihm käme. Doch als er dann vor dem König stand, zeigte dieser nur wenig Wohlwollen für den Fremdling.

 

>Von Melians übernatürlicher Macht erschüttert, und bestürzt durch Thingols Strenge, schweigt Beren zu dessen Vorwürfen. Ungebeten sei er in sein Reich eingedrungen und noch niemand, der nach seinem Thron gestrebt, hätte diese steinernen Hallen je wieder verlassen! donnert der König. Noch dazu habe er Lúthien verführt. Grund genug, ihn nie mehr das Tageslicht sehen zu lassen!

 

Doch als Beren in Lúthiens Augen sieht, fällt alle Angst von ihm ab, der alte Stolz erfüllt ihn und furchtlos gesteht er König Thingol:

 

„Ich begehre den liebsten Eurer Schätze.

Nicht Berge, nicht Stahl, nicht Morgoths Feuer

noch alle Macht des Elbenvolks

werden mich davon abhalten, dieses Juwel zu besitzen.

Denn lieblicher als alle Kinder der Menschen

ist Eure Tochter, Lúthien.“

 

Die Anwesenden sind entsetzt, wütend. Thingol droht Beren offen mit dem Tod. Doch dann besinnt er sich eines anderen und lächelt voller Hinterlist:

 

„Auch ich begehre einen wertvollen Schatz.

Doch Berge und Stahl und Morgoths Feuer

halten fern von aller Macht des Elbenvolkes

das Juwel, welches es mich zu besitzen verlangt.

Aber..., Bande wie diese, hörte ich Euch sagen,

erschrecken Euch nicht. Nun denn!

Bringt mir einen leuchtenden Silmaril

aus Morgoths Krone. Dann, wenn sie dies will,

mag Lúthien ihre Hand in Eure legen.

Dann sollt Ihr mein Juwel besitzen.“

 

Da lachen Thingols Krieger laut und lang, denn die Forderung ihres Königs kann unmöglich erfüllt werden. Doch,

 

Da lacht Beren noch lauter als sie,

aber in Bitterkeit, und spricht:

„Zu geringem Preis verkaufen Elbenkönige

ihre Töchter – für Gemmen und Ringe

und goldene Dinge! Wenn dies Euer Wille ist

so werde ich ihn sogleich erfüllen. [...]“

 

Er verneigt sich vor Melian und dem König,

dreht sich um, stößt den Ring aus

Wachen beiseite, der ihn umgibt, und geht hinaus.

Und seine Schritte verhallen nach und nach

in den dunklen Korridoren.<*

 

Legolas trug das Lied so einfühlsam vor, wie es eben nur ein Elb vermag. Voller Melancholie, aber auch Lebensfreude. Ergriffen lauschte ich und hing wie gebannt an seinen Lippen. Nie zuvor hatte ich etwas so Schönes gehört! Vor der formvollendeten Poesie dieses Kunstwerks hätte ein Schiller oder Shakespeare sich achtungsvoll verneigt. Und eines solchen Künstlers hätte es wohl auch bedurft, das Leithianlied im Deutschen in eine angemessene Versform zu bringen. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, daß ich dazu nicht befähigt bin.

 

Nach langer, gefahrvoller Wanderung kam Beren wieder nach Doriath und stand erneut vor König Thingol.

 

>Also seid Ihr zurückgekehrt – um einen Silmaril zu bringen, ohne Zweifel, um all das Unheil zu sühnen, das Ihr meinem Land zugefügt habt; solltet Ihr ihn freilich nicht haben, so weiß ich nicht, wozu Ihr hier seid.

 

[...]

 

Herr, in diesem Augenblick habe ich einen Silmaril in meiner Hand.

Dann zeigt ihn mir, sagte der König verwundert.

Das kann ich nicht, sagte Beren, denn mein Hand ist nicht hier; und er streckte seinen verstümmelten Arm aus.<**

 

Legolas schwieg an dieser Stelle. Es war bereits spät geworden, denn es ist ein sehr ausführliches Lied und es zu singen bedarf seine Zeit.

 

Ich schniefte. So traurig. So schön! Ich hätte noch stundenlang zuhören können.

 

Die Tränen rannen in dünnen Strömen über mein Gesicht, und Legolas reichte mir ein Taschentuch, um sie wegzuwischen. Gehörten diese Dinger eigentlich zur Standardausrüstung eines Elben? Oder war es Bilbos Verdienst, daß heutzutage niemand mehr ohne aus dem Haus ging?

 

Nachdem Legolas versprochen hatte, mir später den Rest des Liedes zu singen, konnten wir uns banaleren Dingen zuwenden wie... Elronds Rat. Ja, genau! Deshalb war ich schließlich hier, nicht wahr? Doch der Elbenprinz reagierte zurückhaltend auf meine Frage, was ihn eigentlich nach Bruchtal geführt hatte. Wichtige politische Geschäfte, und so. Kein Wort von einer Versammlung.

 

Sonst war aus dem Knaben nichts Brauchbares herauszuholen, mußte ich nach einigen umständlichen Versuchen feststellen. Frustriert schickte ich die Atemluft mit einem hörbaren „pffft“ durch die spitzen Lippen.

 

Also gut. Dann eben nicht!

 

Was hatte ich noch gleich gewollt, bevor Legolas aufgetaucht war? Ach ja. Galvorn die Wahrheit sagen. Aber das war plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Zudem war jetzt Abendessenzeit. Die Aufklärung mußte also wohl oder übel auf danach verschoben werden.

 

 

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* The History of Middle-Earth, Vol. 3, The Lays of Beleriand. Übersetzung der Verse und Zusammenfassungen sind von mir.

 

** Das Buch der verschollenen Geschichten, Teil 2, Übersetzung von Hans J. Schütz. Ich habe lediglich die Form der Anrede an meine Wiedergabe des Lay angepaßt.

 

~*~

 

 

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