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„Och nee! Das ’s jetz schon das d-dritte Mal in dieser Gesch’chte, daß ’sch betrunken bin! Isch meine... also ehrlisch jetz! Das wird langsam albern, oder?“

 

Weit alberner war der auffordernde Blick, mit dem ich meine Trinkpartner bei dieser bedeutsamen Frage ansah und eine Bestätigung erwartete...

 

Beide nickten brav. Galvorn belustigt, Bilbo mit weinseligem Ernst und glänzenden Augen. Wenigstens traf die Schmach mich diesmal nicht allein...

 

„Sach mal, Bilbo,“ - Ich rückte dichter an ihn heran und senkte meine Stimme verschwörerisch - „du hast doch Erfahrung mit dem Schreiben von Geschichten. Muß man da eigentlich alles aufschreiben, was sich zugetragen hat, oder kann man gelegentlich schon mal das ein oder andere -“ Ich polierte mit dem Ärmel die Tischplatte, wie man Kreide von einer Tafel wischt.

 

„Alles!“ behauptete er, goß sich ein, schnupperte ausgiebig an seinem Glas und überdachte seine Aussage. „Alles, was für den Verlauf der Geschichte wichtig ist.“

 

„Ah...“ Hicks! Dieser Schluckauf fing an, an meinen Nerven zu zehren. Er malträtierte mich in kürzer werdenden Abständen und fiel mir ständig ins Wort.

„Also das hier ist eindeutig nicht wichtig!“ Oder doch? Woran erkennt man das – noch dazu in angeschlagenem Zustand?

 

„Man sollte sich darauf konzentrieren, was man erzählen will“, erläuterte Bilbo die Problematik. „Wenn man sich zu sehr in unwichtigen Details verfängt, wird die Geschichte für den Leser schnell unübersichtlich.“

 

Klang logisch. Soweit ich das beurteilen konnte. Bloß...

Was wollte ich eigentlich erzählen?

Für Bilbo sollte es eine Geschichte voller Abenteuer sein – die ich aber leider nie erlebt hatte.

 

Für mich war es der Versuch, Ordnung in meine wirren Gedanken zu bringen, jene kleinen Details nicht durch das grobe Sieb meines Gedächtnisses rasseln zu lassen und mir in einer fremden Welt den Halt zu geben, den ich schwaches Geschöpf so dringend benötigte.

 

Heute, da ich dies schreibe, weiß ich, diese Szene war nur ein weiteres Puzzlestück, das sich schon bald ins Gesamtbild einfügen sollte.

 

Wobei nicht jedes Bild in seiner Vollendung dem entspricht, was wir uns erhoffen...

 

In der Zwischenzeit hatte mein langsames Gehirn den Anschluß gefunden und sich der Trägheit des Bewegungsapparates angepaßt.

 

Nur in dieser Verfassung konnte ich leichtsinnig genug sein, dem harmlosen Gespräch eine derart heikle Wendung zu geben. Gut... einige von euch werden sagen, an dieser Stelle war das Unglück bereits geschehen und eine unüberlegte Nachfrage meinerseits konnte es nicht mehr ändern – weder zum Schlechten noch zum Guten. Aber es ist eine altbekannte Weisheit, daß eine üble Situation durch Unachtsamkeit immer noch ein bißchen ärger werden kann.

 

Bilbo begann mit einem >das mußt du entscheiden< seine Pfeife zu stopfen und ich wandte mich an Galvorn.

„Wie hat Elrond eigentlich die Nachricht von Gollums Flucht aufgenommen?“

 

Lindor und Celthor verstummten mitten im Gespräch und starrten mich an.

Liriel erwachte aus ihrem Tagtraum.

Bilbo ließ überrascht die Hand mit der Pfeife sinken.

Das hätte mir als Warnung gelten sollten.

Doch ich plapperte munter weiter.

 

„Wenigstens habt ihr Legolas jetzt den Weg hierher abgenommen.“

 

„Wie meinst du das?“ Galvorn wirkte irritiert. Sein Blick wanderte hinüber zu Celthor und wurde mit einem leicht angedeuteten Kopfschütteln beantwortet. „Wieso hätte Legolas nach Bruchtal kommen sollen?“

 

„Naja, um Elrond von Gollums Flucht zu berichten. Sagte ich doch schon.“ Was für eine dämliche Frage, setzte ich in Gedanken hinzu.

 

„Wieso hätte er das tun sollen? Und woher weißt du überhaupt von der Flucht?“ Seine Verwirrung war verschwunden und einem ungewohnt scharfen Ton gewichen.

 

„Ohu, ähm... Das hat Lindor mir erzählt, nicht wahr?“ Puh, Glück gehabt, Elli. Schon praktisch einen Verbündeten zu haben, der mit seinem Wissen aushelfen kann, wo man selbst eigentlich nicht eingeweiht sein sollte. Jetzt mußte Lindor nur noch schnell genug begreifen, daß ich wieder einmal etwas ausgeplaudert hatte, was ich aus meinen Büchern kannte.

 

Als er nicht wie gewünscht reagierte, räusperte ich mich und sah ihn flehend an. Doch Lindor blieb stumm. Sein Gesicht unbeweglich, den Blick starr auf mich gerichtet, konnte ich sehen, wie er die Backenmuskulatur anspannte und die Zähne zusammenbiß.

 

Da begriff ich. Lindor wußte nichts von dem, was sich im Düsterwald zugetragen hatte! Er war ebenso überrascht wie die anderen. Niemand hier wußte davon. Keiner außer Galvorn und Celthor. Und letzterer hatte soeben seinem Kameraden angedeutet, daß er nichts davon verraten hatte!

 

Es ist schon erstaunlich, wie schnell ein Mensch durch einen Schock ernüchtern kann. Mein Schluckauf war wie weggeblasen, meine erschlafften Muskeln und Sehnen spannten sich schlagartig und mein Gehirn arbeitete mit erstaunlicher Präzision. Die Tischplatte, eben noch eine Stütze gegen den unerwünschten Schwindel, fungierte nun als haltgebender Anker in der über mich hereinbrechenden Brandung aus Erkenntnis, Ratlosigkeit und Furcht.

 

Ich sah mich bereits als Handlanger Saurons im tiefsten Kerker Bruchtals verschmachten oder als Hexe auf einem Scheiterhaufen. Gab es Hexenverbrennungen in Mittelerde?

 

Wie sollte ich mich aus dieser Situation herausreden? Und was viel wichtiger war, wie konnte ich die Geschichte wieder geraderücken? Wo war nur Radagast, wenn man ihn brauchte?

 

Radagast... Er würde mich umbringen! Wenn auch nur die geringste Chance bestand, Kerker und Scheiterhaufen zu überleben, würde er dafür sorgen, daß meine Dummheiten ein für alle Mal ein Ende hatten. Ich konnte es ihm nicht verübeln.

 

Hilflos schlug ich den Kopf auf das harte Holz des Tisches, zwischen meine beiden Hände, mit denen ich mich noch immer daran festhielt. Der Aufprall schmerzte fürchterlich. Doch ich gab keinen Wehlaut von mir, preßte Zähne und Augen zusammen und hoffte auf ein Wunder.

 

Manchmal finden wir Hilfe, wo wir sie nicht erwarten.

 

Das Wunder kam!

 

In Form eines kleinen buntgefiederten Vögelchens!

 

Aiwendil landete schuldbewußt vor sich hinpiepsend auf dem Tisch, hüpfte auf mich zu und flatterte endlich auf meine Schulter. Ich hob den Kopf ein paar Zentimeter und blinzelte, völlig perplex von dem Schauspiel, das sich mir bot.

 

In der Tat hätte kein ausgebildeter Bühnenkünstler eine virtuosere Vorstellung darbieten können. Der Vogel druckse piepsender Weise herum, zog das Köpfen zwischen die aufgeplusterten Federn und rückte schließlich mit der „Wahrheit“ heraus:

 

Er war derjenige, der nicht dicht gehalten und mir erzählt hatte, was im Düsterwald geschehen war.

 

Ich hätte den kleinen Kerl knutschen mögen vor Dankbarkeit!

 

„Das war sehr unklug von dir, mein gefiederter Freund.“ Erst wußte ich gar nicht, wer diese Worte gesprochen hatte. Verwundert blickte ich mich um, und nur nach und nach realisierte ich, daß sie von Galvorns Lippen gekommen waren. Der sanfte, kinderliebe Elb war kaum wiederzuerkennen. Seine Haltung hatte etwas Gebieterisches angenommen. Ein dunkles Feuer brannte in seinen Augen und ließ sie fast schwarz erscheinen. Verängstigt wich ich vor ihm zurück.

 

Aiwendil war weniger leicht zu beeindrucken. Er flatterte auf Galvorn zu und setzte sich auf seine Hand, die noch immer den Weinpokal hielt.

>Nicht böse sein, ja?< tschilpte er einschmeichelnd. Und tatsächlich entspannten sich Galvorns Gesichtszüge ein wenig.

 

„Es steht dir und uns nicht zu, Angelegenheiten des Waldelbenvolkes auszuplaudern. Du hättest wissen müssen, daß die Entscheidung darüber einzig seinem Herrscher zusteht. Wenn er es für richtig befindet, sie einem Außenstehenden“ – An dieser Stelle mußte ich seinen abschätzenden Blick für einen schmerzlich langen Augenblick ertragen – „oder dem Fürsten eines anderen Elbenreiches vorzutragen,wird er beizeiten darüber entscheiden.“

 

„Niemand von uns wird etwas darüber verlauten lassen“, schaltete sich jetzt Lindor ein, „auch wenn ich es nicht für richtig erachte, ein solch wichtiges Ereignis über die Maßen lange jenen, die doch Verbündete, - wenn auch nicht von der gleichen Sippe - sind, vorzuenthalten. Du weißt ebensogut wie ich, mein Sohn, daß wir nicht von einem der unbedeutenden Gefangenen reden, an denen in König Thranduils Kerkern nie Mangel herrscht.“

 

„Und gerade deswegen werde ich mich nicht in Belange einer anderen Sippe mischen, oder diejenigen eines Königs, der nicht der meine ist.“

Verbitterung klang aus seinen Worten. Galvorn hatte sich erhoben, stellte den Becher mit Nachdruck auf den Tisch und schaute seinen Vater finster an, als erwarte er eine weitere Zurechtweisung.

 

„Du selbst hast dir dieses Exil gewählt!“

 

Das waren harte Worte. Aber Galvorn wirkte, als hätte er die Antwort erwartet. Die beiden kannten sich immerhin seit 3000 Jahren! Ob es da noch viele Gelegenheiten gibt, den anderen zu überraschen? Wahrscheinlich hatten sie dieses Thema schon viele hundert Male diskutiert und eine längere Aussprache schien auch gar nicht nötig zu sein – oder wurde wenigstens nicht dafür gehalten.

 

Vater und Sohn standen einander gegenüber und blickten sich wortlos, fest in die Augen. Ich war mir ziemlich sicher, daß auch ihr Geist schwieg. Auch wenn ich selbst keine Ahnung von diesem Osanwe-kenta hatte, konnte ich inzwischen doch recht gut abschätzen, ob ein Elb sich auf den Pfaden der stimmlosen Kommunikation befand oder wirklich schwieg.

 

„Er ist mein König.“ Celthor räusperte sich vernehmlich. „Und ich vertraue darauf, daß er zur rechten Zeit die richtige Entscheidung treffen wird. Um genau zu sein: Ich habe bereits den Auftrag, Herrn Elrond darüber zu unterrichten, wenn die Suche nach der Kreatur Gollum ergebnislos verläuft.“

 

Lindor nickte nachdenklich. „Gut. Warten wir das Ergebnis der Suche ab.“ Er warf mir einen bezeichnenden Blick zu, wohl wissend, daß ohne meinen Patzer niemand bereits jetzt davon erfahren hätte.

Dabei entging ihm mein Entsetzen als Reaktion auf Celthors Worte nicht.

 

Der Bibliothekar sollte die Nachricht überbringen? Nein! Unmöglich! Das durfte nicht sein! Für einen kurzen Augenblick hatte ich etwas wie einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufleuchten gesehen. Elrond wußte noch nichts von Gollums Flucht und würde vorerst auch nichts darüber erfahren. Aber durch Celthor? Nein, nein und nochmals nein! Celthor war doch gar nicht in Bruchtal! Ich meine... er sollte nicht hier sein. Theoretisch. Und daß er es doch war, war – wieder einmal – meine Schuld.

 

Ein Plan mußte her! Ich hatte noch... wie lange Zeit bis zu Elronds Rat? Nach den Filmen zu urteilen – was sich nicht immer als sinnvoll erwiesen hatte – müßte es Herbst gewesen sein. Ich erinnerte mich noch sehr gut an das goldgelbe Laub der Landschaft jener Szene, in der die Vertreter der Völker nach und nach einreiten und sich von ihren Pferden schwingen. Nun, erste Verfärbungen hatte ich heute Vormittag an den Zweigen der Weide bemerkt. Da könnte PJ diesmal also tatsächlich recht behalten!

 

Was wiederum heißen würde, daß ich mich mit dem, was ich vorhatte, beeilen mußte – wenn es mir erst einmal eingefallen war.

Aber was konnte ich tun?

Celthor entführen? Bestechen? Erpressen? Zurück in den Düsterwald schicken oder dorthin, wo der Pfeffer wächst?

Dann hätte ich immer noch ein Problem mit den übrigen Mitwissern. Die konnte ich ja nicht auch alle beseitigen. Außerdem wurde Bilbo hier noch gebraucht.

 

In mich versunken nagte ich auf meiner Unterlippe. Was nun? Was tun? Erstmal sinnvollerweise feststellen, wieviel Zeit mir noch blieb? Vielleicht, oder eher sogar wahrscheinlich, stand der Entschluß für die Einberufung eines Rates bereits fest. Möglicherweise waren sogar schon Einladungen verschickt. Beziehungsweise Boten entsandt. In Mittelerde genügte es nunmal nicht, eine Marke auf eine Karte zu kleben und sie in einen gelben Kasten zu stecken. Der Aufwand war hierzulande schon etwas größer. Sowas mußte sich doch irgendwie herausfinden lassen! Unauffällig...

 

~*~

 

 

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