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Als ich erwachte, hatte sich die Landschaft um mich herum schon wieder verändert. Ich lag an einem klaren Bach auf einem weichen Polster aus dürren Blättern und Moos. Die Sonne strahlte trotz der kalten Jahreszeit wärmend auf mich herab und wer auch immer mich hierher gebettet hatte, er hatte versucht es mir so bequem wie möglich zu machen.

 

Ich räkelte mich wohlig und gähnte lautstark. Das Wasser plätscherte leise zu meinen Füßen und irgendwo hinter mir zwitscherte ein Vogel in der Höhe, vermutlich auf einem Baum. Von den Elben war keine Spur zu sehen. Ich runzelte die Stirn, setzte mich auf und blickte mich um. Nichts.

 

Ich blickte mich noch einmal um, da ich meinen Augen nicht traute. Aber da war nichts. Ein Bach, jenseits eine weite grasige Ebene, an deren Ende ich einen Wald zu erblicken glaubte, um mich herum Moos, Steine, ein immer felsiger werdender Boden, schließlich eine steile Felswand zu meiner Linken und hinter mir ein einsamer, uralter Baum.

 

Vorsichtig erhob ich mich.

„Hallo? Ist da niemand?“

 

Ein Eichhörnchen saß auf dem untersten Ast des kahlen Laubbaumes, den ich nicht näher bestimmen konnte, da ich noch nie seinesgleichen gesehen hatte. Es hielt eine Nuß oder etwas ähnliches in den Pfötchen und betrachtete mich neugierig. Der Vogel stieß zwei kurze, empörte Schreie aus. Ich hatte ihn in seinem virtuosen Lied gestört. Zu meinen Füßen hüpfe ein rötlicher Frosch zum Ufer und beachtete mich nicht.

 

In dem spärlichen und vergilbten Schilfgraf raschelte es und ich trat erschrocken zurück, obwohl kaum etwas Großes daraus hervorbrechen konnte. Vielleicht aber dennoch etwas Gefährliches. Eine Wasserschlange schlängelte sich blitzschnell zwischen den Halmen hindurch, über die kurze freie Fläche und in den Bach, wo sie wenige Augenblicke später verschwunden war. Ich atmete erleichtert auf, doch dann kam die Angst der Verlassenheit zurück.

 

Die konnten mich doch nicht einfach hier alleine lassen! Tränen stiegen in meine Augen und ich zog schniefend die Nase hoch. Drehte mich nochmals im Kreis.

 

Wo war ich? Ich hatte wirklich keine Ahnung. Wohin sollte ich mich wenden? Das wußte ich ebenso wenig. Wo waren diese dämlichen Elben? Ich schimpfte, trat mit dem Fuß auf den Boden und schimpfte noch lauter, da ich mir etwas Spitzes in die nackte Sohle gerannt hatte. Murrend und mit gesenktem Kopf schlurfte ich im Kreis herum und zog den Umhang fest um meine Schultern.

 

Plötzlich fühlte ich mich beobachtet. Ich sah auf und erblickte wenige Schritte vor mir einen Elben, von dem ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob ich ihn schon vorher gesehen hatte. Er konnte einer meiner Begleiter gewesen sein, ohne daß ich ihn wiedererkannte. Einmal mehr verwünschte ich Radagasts Forderung, meine Brille zuhause zurückzulassen!

 

Der Elb trat mit ausdruckslosem Gesicht zu mir heran, dann erhellte etwas wie ein knappes Lächeln seine Züge. Er bemerkte sicher, daß ich mich nicht an ihn erinnerte und betrachtete nachdenklich meine Augen. Es war also bereits aufgefallen, daß ich ein blindes Huhn war. Nun gut. Was soll’s. Einmal hätten sie es ja doch erfahren.

 

Ich räusperte mich unbehaglich. „Wo sind die anderen? - Mas...“, ich fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Meine Gebärdensprache schien sehr aussagekräftig zu sein, denn der Elb zeigte mit der Hand in die Richtung, aus der er gekommen war und erklärte mir ausführlich, was mit seinen Gefährten geschehen war.

 

Dummerweise verstand ich gar nichts und glotzte ihn nur mit offenem Mund an. Gehen? Schlafen? Du schläfst... schliefst... nein, ich, er spricht ja von mir... Na toll! Daß sie irgendwohin gegangen waren, während ich schlief, brauchte mir dieser Witzbold nun wirklich nicht erst zu erklären! Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust und mein Gegenüber erkannte, daß er irgend etwas falsch gemacht haben mußte. Er hob entschuldigend die Hände und blickte dabei so bedauernd drein, daß ich ihm einfach nicht länger böse sein konnte.

 

„Schon gut, schon gut“, kapitulierte ich, „irgendwann werde ich es vielleicht verstehen.“

 

Er winkte mir ihm zu folgen und führte mich auf die hohe Felswand zu, die bei näherer Betrachtung viele Risse und Vorsprünge aufwies. Wir traten durch einen Spalt und gelangten daraufhin in ein solch bizarres Felsenlabyrinth, daß ich schon bald vollständig mein bißchen Orientierung verloren hatte. Der Elb schritt langsam voran und wenn ich doch einmal den Anschluß verlor, so wartete er, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Es war offensichtlich, daß kein Grund zur Eile mehr vorlag.

 

Diese Irrfahrt - nein, eigentlich war es ja keine, denn mein Führer wußte ganz genau, wo es lang ging - dauerte nach meiner miserablen Einschätzung der Zeit vielleicht eine halbe Stunde. Dann traten die steinernen Wände auseinander und gaben den Blick auf ein gigantisches Tal frei.

 

Ich blieb wie angewurzelt stehen und riß die Augen auf. Das war Bruchtal! Gar keine Frage! Ich mußte eingestehen, daß die Filme es gar nicht einmal so schlecht getroffen hatten, doch war das, was sich dem Betrachter dort bot ein sehr schwaches Abbild verglichen mit dem Original.

 

Hier gab es keine kitschigen gelb- und rosafarbigen Lichteffekte oder Blumen aus Zuckerwatte. Hier war alles echt und erschien dennoch auf magische Weise irreal. Die Gebäude war so eng mit der Natur verbunden, daß man oft gar nicht wußte, wo diese aufhörten und jene begann. Trotz der sonst so trostlosen Winterzeit stand die Wiese in sattem Grün und die Büsche trugen noch ihr Blätterkleid, aber möglicherweise waren es einfach immergrüne Stauden. Rankende Pflanzen suchten ihren Weg so kunstvoll an Säulen hinauf und um die Fenster herum, als wären sie eigens so angeordnet worden und wirkten dabei dennoch natürlich und frei. Wie mußte es hier erst im Frühling oder Sommer aussehen, wenn alles blühte!

 

Einzelheiten konnte ich beim besten Willen nicht erkennen. Ihr wißt schon, meine Brille... Aber selbst die groben Umrisse flößten mir einen gewaltigen Respekt ein und ließen mir warm und heimelig ums Herz werden.

 

Ich lächelte zufrieden und seufzte so sehnsüchtig, daß mein Begleiter, der mich - wie ich später erfuhr - die ganze Zeit lächelnd beobachtet hatte, in lustiges Kichern ausbrach. Ich schenkte ihm einen gespielt arroganten Blick und deutete ihm an, daß wir weitergehen konnten.

 

Während wir das Tal durchschritten, kam ich mir vor wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in seinem Leben eine prächtige Kathedrale besichtigt. Ich wandte den Kopf nach rechts und links und wußte gar nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte. Zu dem kleinen Balkon mit den bogenförmigen Rosenranken oder zu der kunstvoll geschnitzten Palisade, an der wir gerade entlanggingen. Ich wollte hinübergehen, um mir die Muster aus der Nähe zu betrachten, doch mein Elb ergriff mich am Arm und zog mich sanft und immer noch lächelnd hinter sich her. Gerade trauerte ich noch den Schnitzerein nach, da erblickte ich etwas Neues: Auf der Mitte des Platzes war halbkreisförmig ein Beet angelegt und dort schimmerte zwischen den Zweigen eines dieser seltsam grünenden Büsche etwas Weißes hervor, das mir eine Statue zu sein schien. Augenblicklich lenkte ich meinen Schritt dorthin und wurde wiederum von meinem Führer daran gehindert.

 

So zog und schob er mich durch die Außenanlagen, bis wir endlich vor einem großen Tor angelangt waren, welches er öffnete. Ich blickte mich um, bevor ich ihm ins Innere folgte. Komisch, dachte ich, es ist gar niemand zu sehen. Dennoch wirkte Bruchtal nicht so verlassen und schon gar nicht so verfallen wie die Filme es uns vorgaukeln wollten, obwohl die meisten Elben inzwischen in den Westen gefahren waren. Irgendwie war ich mir in diesem Moment sicher, daß kein Ort, an dem jemals Elben gelebt hatten, Einsamkeit oder Kälte ausstrahlen konnte.

Wie viele Elben hier wohl noch sein mochten?

 

Die weite Halle, die an das Tor anschloß, lag in angenehmem Halbdunkel. Angenehm deshalb, weil selbst dieses irgendwie elbisch war. Weniger angenehm, weil es meine Sehkraft noch mehr verschlechterte. Entsprechend erschrocken war ich, als aus dem vermutet leeren Raum eine Stimme erklang und eine junge Elbenfrau auf uns zutrat. Na gut, wahrscheinlich war sie wenigstens tausend Jahre älter als ich, aber sie sah aus als wäre sie höchstens fünfundzwanzig. Sie lächelte mich freundlich an und neigte den Kopf kaum merklich zur Begrüßung. Eine Geste, die so elegant und fließend war, daß ich mir wie ein plumper Bauerntölpel vorkam, als ich sie so gut wie möglich erwiderte. Sie wechselte ein paar Worte mit meinem Begleiter, der sich daraufhin entfernte, nickte mir auffordernd zu und wandte sich um.

 

Gespannt folgte ich ihr eine Treppe hinauf, die aus riesigen steinernen Blättern bestand und wurde oben gleich in das nächstgelegene Zimmer geführt. Aha, dachte ich, die Elben trauten meinem Orientierungssinn noch viel weniger als ich. Ich grinste breit und winkte nur ab, als mich zwei klare, fragende Augen trafen. Die Frau war wirklich wunderschön. Dichtes langes glänzendes Haar, volle geschwungene Wimpern, ebenmäßige Züge, helle makellose Haut... ich gönnte mir eine Runde Selbstmitleid, bevor ich hinter ihr durch die Tür trat.

 

Das Gemach war ungefähr so groß wie meine gesamte Wohnung. Eine Seite wurde vollständig von den großen Fenstern eingenommen, die man auch als Türen ansehen konnte und die hinaus auf eine Terrasse führten. Seltsamerweise drang durch die glaslosen Öffnungen keine Kälte herein. Dafür tauchte der helle Sonnenschein die Einrichtung in goldenes Licht.

 

Von der einen Wand ragte ein breites Bett mitten in den Raum hinein. In die dunklen Pfosten waren kleine Figuren eingeschnitzt, welche von mir sofort einer näheren Inspektion unterzogen wurden. Staunend schritt ich um das Bett herum, ließ meine Finger langsam über das seidig polierte Holz gleiten, über die Rückwand und die unteren Streben. Die Geschichte Mittelerdes vom Erwachen der Elben bis ins dritte Zeitalter hinein, soweit ich sie kannte, war hier eingeschnitzt!

 

„Wer...“, wollte ich mich an die Elbenfrau wenden, doch diese war ohne ein Wort aus dem Zimmer verschwunden.

 

Begeistert sah ich mich weiter um. Neben dem Bett stand ein Nachttisch aus dem selben Holz. Ich kniete nieder, um die kleine Szene, die seine Front schmückte, besser betrachten zu können. Es war der Ausschnitt eines Waldes, am Rande einer Lichtung, auf der eine Elbenmaid tanzte. Neben ihr stand, den bewundernden Blick auf sie gerichtet, ein Spielmann mit einer Harfe in der Hand. Es war, als könnte man seine flinken Finger über die Saiten huschen sehen. Und da, hinter einem Baumstamm verborgen, stand ein Mensch. Seine Kleidung war staubig und sein Blick müde und dennoch leuchteten seine Augen voller Liebe, als sie den Bewegungen der Elbenmaid folgten.

 

Ich kniff meine Augen zusammen und sah noch einmal genau hin. Es war doch völlig unmöglich, dies alles in einem Holzschnitt festzuhalten. Und dennoch war es so. Ich hatte das Gefühl, als müßten sie sich jeden Moment bewegen und ich hörte fast, wie Beren ausrief: „Tinúviel, Tinúviel!“

 

Wie in einer Trance gefangen stand ich auf. Beinahe traute ich mich nicht, an den Kleiderschrank heranzutreten, der groß und majestätisch die Hälfte der gegenüberliegenden Wand einnahm und - ja, ihr erratet es bereits - ebenfalls aus diesem dunklen Holz gefertigt und mit Schnitzerein versehen war. Welche Bilder er wohl zeigen mochte? Meine Neugierde besiegte meine Scheu und langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich begann mir selbst Rätsel aufzuerlegen. Das Bett zeigte die gesamte elbische Geschichte, der Nachttisch eine Schlüsselszene aus dem Leben der Vorfahren der Herren von Bruchtal.

 

Was aber war gigantisch genug, um die Fläche dieses Schrankes zu füllen? Was war wichtig genug, daß es hier in Bruchtal solche Bedeutung hatte? Kurz bevor ich mein Ziel erreicht hatte, war ich überzeugt, daß er die Geschichte des Ringkrieges erzählen würde. Den Rat in Elronds Haus, den Weg der Gefährten, die Schlachten und Kriege und natürlich die Vernichtung des Einen Ringes.

 

Als ich nun davor stand, blickte ich ein wenig ratlos von einem Ende zum anderen. Die Schnitzereien waren ebenso geschmackvoll und bezaubernd wie die anderen, gar keine Frage. Aber... was um alles in der Welt war so Interessantes an Maeglin? Ich zuckte die Achseln und wandte meine Aufmerksamkeit der übrigen Einrichtung zu.

 

In einer Ecke befand sich eine Art Frisiertisch, auch in dem dunklen Holz aber ohne Schnitzereien gehalten. Wahrscheinlich sollte man hier keine Kunst, sondern sich selbst in dem ovalen Spiegel bewundern. Absichtlich hielt ich mich so, daß mein Bild nicht von ihm zurückgeworfen wurde.

 

Davon abgesehen war der Raum leer. Wohlgemerkt leer, nicht kahl. So hätte man in unserer Welt empfunden, aber hier war selbst diese Leere ein Kunstwerk, auch wenn ich es nicht fassen und schon gar nicht beschreiben konnte.

 

Unschlüssig darüber, was man von mir erwartete, stand ich nun da. Ich getraute mich weder, das zweifellos weiche Bett zu testen, noch eine der Schubladen und Klappen zu öffnen. Also beschloß ich, mir den Balkon anzusehen. Er nahm die ganze Länge des Zimmers ein, war aber nur ungefähr einen Meter tief. Ein niedriges Geländer rahmte ihn ein, das mir nur bis zu den Knien reichte, weshalb ich mich kaum getraute an den Rand zu treten und hinunter zu sehen.

 

Schließlich wagte ich dennoch einen kurzen Blick in den Garten, durch den ich zuvor gekommen war. Dabei fuhr ich unbewußt mit der Hand über meinen Oberarm. Mich fröstelte, denn ich war nicht ganz schwindelfrei. Genaugenommen, war ich überhaupt nicht schwindelfrei, was sich auf alles bezog, was sich höher als einen Meter über dem Erdboden befand.

 

Dabei bemerkte ich, daß ich noch immer das dünne graue Kleidchen und den elbischen Umhang trug. Ob es hier nicht etwas anderes zum Anziehen gab? Das hätte ich sehr begrüßt. Deshalb entschied ich mich, doch einmal einen Blick in den Schrank zu werfen. Gucken konnte ja nicht schaden. Da hatte sicher niemand etwas dagegen. Ich ging also wieder hinein und öffnete mit leicht zittrigen Fingern die große Flügeltür auf der rechten Seite.

 

Ich kam mir vor wie ein Dieb oder ein Spitzel und zuckte fürchterlich zusammen, als neben mir die bekannte Stimme der jungen Elbenfrau erklang. Wie ein getretener Hund zog ich den Kopf zwischen die Schultern und verdrehte die Hände vor meinem Schoß. Als die befürchtete Schelte ausblieb, hob ich nach einer Weile vorsichtig die Augenlider.

 

Die Frau legte eine Bürste auf den Frisiertisch und dazu ein paar Tücher und einen Schwamm, sowie diverse kleine Utensilien. Dann trat sie zu mir herüber und begutachtete mich ausgiebig aber nicht unfreundlich vom Kopf bis zu den Füßen. Endlich griff sie an mir vorbei in den offenen Schrank, zog ein Gewand hervor und breitete es auf dem Bett aus. Zuletzt öffnete sie die linke Tür des dreiteiligen Kleiderschrankes und - ich glaubte nicht, was ich da sah!

 

Die Schranktür war gar keine. Also nicht im eigentlichen Sinne. Sie war eine Tür, ja, aber dahinter lag nach dem schmalen Durchgang ein weiterer Raum. Ein Badezimmer! Nicht so etwas, wie ich es von zuhause gewöhnt war, aber es war tatsächlich ein kleiner, abgetrennter Teil, mit einem Waschzuber - natürlich alles elbisch-exquisit - und er war mit dampfendem, wundervoll riechendem Wasser gefüllt! Fragt mich nicht, wie das warme Wasser dort hinein kam, oder wie man überhaupt den Zuber durch die enge Öffnung gebracht hatte! Ehrlich gesagt war mir das in diesem Moment auch ziemlich egal. Ein heißes Bad, frische Kleidung, danach fühlte ich mich wie neugeboren.

 

Das Gewand, welches Liriel für mich ausgewählt hatte, war einfach geschnitten und in leichten Grün- und Brauntönen gehalten. Erleichtert erkannte ich, daß es kaum Verzierungen und gar keine aufgestickten Perlen hatte. Man betrachtete mich also nicht als irgend einen ganz besonderen, hochangesehenen Gast. Wenigstens in dieser Hinsicht war ich dem Mary-Sue-Fluch entwischt.

 

Ich hatte Liriel noch ihren Namen entlockt und ihr den meinen genannt, so wie er mir von Radagast gegeben worden war. Dann hatte sie mir zu verstehen gegeben, daß dies für die Dauer meines Aufenthaltes mein Zimmer sein sollte und ich nach Belieben über die Ein- und Ausstattung verfügen konnte. Danach war sie verschwunden.

 

Nur einige Minuten später meldete sich mein Magen. Wie lange war meine letzte Mahlzeit jetzt eigentlich her? Das war gestern Abend gewesen und sie war nicht gerade üppig ausgefallen, erinnerte ich mich. Drei Scheiben Toast und drei Zigaretten. Ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob mein Hunger oder meine Sucht gerade stärker war. Jedenfalls lag etwas Eßbares doch wohl im Bereich des Möglichen. Hoffte ich. Und irgendwo mußte es hier auch eine Küche geben. Also überlegte ich nicht lange und da die einzige Person, die mich hätte führen können, nicht mehr da war, machte ich mich selbst auf die Suche über die langen, gewundenen Gänge.

 

Nachdem ich ungefähr fünfmal abgebogen und einigen Treppen hinauf und hinunter gefolgt war, hatte ich mich hoffnungslos verlaufen. War hier denn gar niemand, den man fragen konnte? Mein Magen begann ganz gemein zu ziehen und meine gute Laune sank langsam aber sicher in den Keller. Vielleicht hätte ich rufen sollen, damit mich jemand hörte und mir nicht nur hier heraus, sondern auch zu etwas Eßbarem half. Aber ich schämte mich und so schlurfte ich schweigend weiter den Gang entlang.

 

In regelmäßigen Abständen von ungefähr zehn Metern waren Halterungen mit Fackeln in die Steinwände eingelassen, die aus welchem Grund auch immer allesamt brannten und eigenartigerweise keinen Ruß abgaben. Jedenfalls waren die Wände makellos weiß und entgegen meiner Erwartungen schlicht und ohne Verzierungen, wenn man von den großartigen Reliefs absah, die im Wechsel mit der Beleuchtung direkt in den Stein gehauen waren. Sie waren nur etwa fünfzig Zentimeter lang und ebenso hoch. Nun, zuviel des Guten wäre schließlich auch zuviel gewesen. Nicht wahr. Und immerhin hatten die Elben bei allem, was ich bisher gesehen hatte, einen sehr guten Geschmack bewiesen – sofern ich mir denn selbst einen solchen zugestehen wollte.

 

Nach drei weiteren Kreuzungen und noch mehr Verwirrung glaubte ich, tatsächlich etwas wie den Duft von frischem Gebäck in der Nase zu haben. Ich betete inständig, daß ich mir das nicht einbildete und beschleunigte meine Schritte, wie ein Durstender in der Wüste beim Auftauchen einer Fatahmorgana. Da vorne rechts und dann -

 

- stieß ich beinahe mit einem Kind zusammen. Nein, kein Kind, korrigierte ich mich, ein... Hobbit? Jedenfalls sprachen die behaarten Füße dafür und die Tatsache, daß er ein großes Tablett mit einem ebenso großzügigen Stück Kuchen, einer Tasse Tee und ein paar wirklich lecker aussehenden Keksen in den Händen hielt.

 

Der kleine Mann lächelte mich freundlich von unten herauf an und sah ein wenig aus wie jemand, den man beim Kirschenstehlen erwischt hatte. Dann verneigte er sich, so gut das ging, ohne den Tee zu verschütten und stellte sich als ein Bilbo irgendwas vor, das zwar weder nach >Baggins< noch nach >Beutlin< klang, mich aber dennoch überraschte. Ein Bilbo in Bruchtal? Seltsame Zufälle gab es.

 

So wie der, daß ich ausgerechnet einem Hobbit begegnete, als mir vor Hunger schon fast schwindlig war. Mit einem kläglichen Gesichtsausdruck legte ich meine Hand auf den Magen. Na also, diese Sprache war international – oder sollte ich besser sagen: interdimensional?

 

Bilbo wäre kein Hobbit gewesen, hätte er nicht sogleich tiefstes Mitgefühl mit mir armem leidenden Wesen verspürt. Er winkte mir, ihm zu folgen und geleitete mich nur wenige Schritte weiter zu seinem Gemach. Da hatte ich den kleinen Dieb also kurz vor seiner Räuberhöhle erwischt!

 

Das Zimmer war um einiges kleiner als meines und befand sich, wie ich bei einem Blick durch die Fenster sah, im Erdgeschoß. Die Möbel waren in Hobbitgröße, aber nicht minder kunstvoll gestaltet. Auf der weiträumigen Terrasse befand sich außerdem ein runder Tisch mit vier Stühlen, zu dem Bilbo mich nun geleitete. Er stellte das Tablett darauf ab und drang so lange in einer Sprache, die ich ebenso wenig verstand wie das Elbische, aber für Westron hielt, auf mich ein, bis ich mich hingesetzt und an dem Kuchen bedient hatte. Dann huschte er erneut aus der Tür, nur um kurz darauf mit einem zweiten und noch reicher beladenen Tablett zurückzukehren.

 

Inzwischen war mein ärgster Hunger gestillt, und ich nahm mir, während ich genießerisch einen Haferkeks auf meiner Zunge zergehen ließ, Zeit, den kleinen Mann näher zu betrachten. Er mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein oder wenig älter. Vorausgesetzt Hobbits alterten ebenso wie Menschen, wovon ich einfach mal ausging, denn der berühmte Bilbo Beutlin hatte damals mit seinen einhundertundelf Jahren doch ein ungewöhnlich hohes Alter erreicht.

 

Als er sich über das Essen hermachte, mußte ich schmunzeln. Denn er begann nun nicht etwa wie ein Vielfraß alles in sich hineinzustopfen, sondern ging dabei wie ein wirklicher Feinschmecker vor. Zuerst wurde der Kuchen einer näheren Untersuchung unterworfen, wobei er mit einem Schnalzlaut feststellte, daß er ganz vorzüglich war. Besonders für die Rosinen darin fand er große Worte des Lobes, wie ich seinen begleitenden Gesten entnahm und was ich gleich dazu ausnutzte, ihm meine aussortierten Exemplare zuzuschieben. Er schenkte mir daraufhin einen solch glückselig-dankbaren Blick, daß ich kurz und hell auflachte. Offensichtlich hatte ich gerade einen neuen Freund gewonnen.

 

Bilbo begann nun zu erzählen. Ich wußte zwar zunächst nicht wovon, aber ich lauschte gebannt seinen Worten. Es klang nach einer Abenteuergeschichte und er untermalte sie mit so geschickten Lautmalerein, daß ich Pferdegetrappel, Orkschreie, Wolfsgeheul und sogar einen Drachen zu erkennen glaubte.

 

Hin und wieder hielt er inne und vergewisserte sich mit einem fragenden Blick, ob ich ihm folgen konnte. Ich nickte fein artig zum Zeichen des Verstehens. Das war keine Vortäuschung falscher Tatsachen, denn ich verstand nach einer kurzen Eingewöhnungsphase in der Tat, daß er mir die Geschichte aus dem >Hobbit< erzählte. Ob jener Bilbo mit ihm verwandt war? Bestimmt. Die Hobbits waren doch alle irgendwie miteinander verwand, wenn auch um ein paar Ecken und Grade, glaubte ich zumindest.

 

Bilbo war sichtlich erfreut über mein Interesse. Seine kleinen Augen leuchteten und seine vollen Backen färbten sich im Eifer noch ein wenig röter. Ein netter Kerl, entschied ich.

 

Als wir beide das ausgiebige Mahl vollständig weggeputzt hatten, zog er eine Pfeife hervor, stopfte sie und zündete sie an. Ich folgte aufmerksam seinen Bewegungen. Noch nie zuvor hatte ich eine Zunderbüchse aus der Nähe gesehen. Nun, ich hatte auch noch nie zuvor einen Hobbit gesehen. Oder einen Elben. Oder Bruchtal...

 

Ich seufzte und starrte ein großes Loch in die Tischplatte. Hier war ich nun. Aber was sollte ich hier? Ich fühlte mich so verloren. Mein Zettel fiel mir ein. Dieser dumme Wisch, den ich meiner Mutter zurückgelassen hatte. Diese respektlose Notiz, von der ich geglaubt hatte, ich würde sie wenige Augenblicke später selbst zerknüllen und in den Papierkorb werfen können. Das war alles mein ignoranter Sturkopf schuld, wie Radagast ganz richtig festgestellt hatte. Hätte ich die Sache doch ernster genommen! Hätte ich meiner Mutter doch eine ausführliche Erklärung geschrieben; sie hätte sie verdient. Hätte ich doch...!

 

Salzige Tränen liefen meine Wangen hinunter. Das konnte ich nie wieder gutmachen. Nie! Ich schniefte und wischte mit der Hand unter meiner Nase durch, die sich selbständig zu machen drohte, als ein weißes Taschentuch in meinem Augenwinkel erschien und sich eine mitfühlende Hand auf meine Schulter legte. Mit verquollenem aber dankbarem Blick nahm ich beides an, die Hilfe und den Trost und schneuzte zunächst einmal ordentlich in das saubere Stückchen Stoff. Danach fühlte ich mich ein wenig besser.

 

„Du hast nicht zufällig noch eine Pfeife?“ fragte ich den kleinen Mann mit brüchiger Stimme. Ich deutete dabei auf sein Rauchwerkzeug und er sah mich ein wenig überrascht an, war sich wohl nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hatte. Ich wiederholte meine Geste und zeigte dann auf mich.

 

Das Strahlen kehrte zurück in sein eben noch ernstes Gesicht und mit Feuereifer kam er meinem Wunsch nach. Er hüpfte vom Stuhl und kramte aus dem Nachttisch irgendeine Ersatzpfeife heraus, die er auch gleich für mich stopfte und anzündete. Ich dankte ihm und nahm zuerst einmal einen tiefen Lungenzug. Das tat gut.

 

Ich nahm gleich darauf einen zweiten Zug und runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte mit diesem Kraut nicht. Schon bei mir zuhause, als ich nur Radagasts Qualm abbekommen hatte, hatte es eine so beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Jetzt, wo ich das Zeug selbst inhalierte, wurde diese um ein Vielfaches verstärkt.

 

Auf so berauschte Weise wieder mit mir und der Welt zufrieden lehnte ich mich zurück und Bilbo brachte mir den Rest des Nachmittags bei, wie man Rauchkringel formte.

 

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