---

 

 

Sagt mal, geht euch die ganze Herumreiserei eigentlich genauso auf die Nerven wie mir? Warum mußte Mittelerde auch so furchtbar groß sein! Aber wirklich. Zum Nazgûl...

 

Es wäre einfach zu ermüdend, jede einzelne Etappe unserer gewaltigen Reise zu beschreiben. Es genügt zu sagen, daß sie von nun an ohne größere Zwischenfälle ablief. Am Schwertel trennten wir uns von den Elben, um am darauffolgenden Tag auf dem selben Weg wie sie nach Süden zu reiten. Radagast hielt es für besser, unser eigentliches Ziel geheim zu halten und wenn der Zauberer sich für etwas entschieden hatte, blieb er auch dabei.

 

Mir selbst war dies zu jener Zeit ziemlich gleichgültig. Ich kämpfte mit den üblichen Reiseunannehmlichkeiten und der neugewonnenen Erkenntnis über meine eigene Blutphobie und war bemüht, das eine wie das andere möglichst aus meinem Bewußtsein zu verdrängen. Bemerkenswerterweise gelang mir dies bei meiner Unvollkommenheit leichter und schneller, denn bald war ich so sehr damit beschäftigt, mich über wundgescheuerte Körperteile und mangelnde Hygieneeinrichtungen zu beklagen, daß ich alles andere um mich herum vergaß.

 

Außerdem wurde ich an meine peinliche Schwäche in den nächsten Wochen nicht mehr erinnert, denn Radagast hatte mit Hilfe Aiwendils eine Art Ork-Frühwarn-System eingerichtet. Es funktionierte denkbar einfach: Sobald sich der Feind von der einen Seite näherte, warnten uns die Tiere und wir wichen zur anderen Seite aus.

 

Aus der Vogelperspektive betrachtet, mußten wir uns in einer immerwährenden Schlangenlinie vorwärtsbewegen. Zumindest kam es mir so vor. So war das ständige Hin- und Hergeschlingere unserer Reise, die einzige Abwechslung, die diese mir bot. Wie langweilig... Oh, und natürlich Radagasts Unterrichtslektionen, zu denen der Zauberer jetzt zu meinem Leidwesen täglich eine Lehrstunde Quenya hinzufügte.

 

Wir ließen uns Zeit. Schließlich hatte Pallando diese Strecke zu Fuß zurückgelegt und wir mußten nun zusehen, daß wir Isengart nicht zu früh erreichten, erklärte Radagast. Deshalb schoben wir lange Pausen und oft ganze Ruhetage ein. Man hätte diese Reise tatsächlich beinahe angenehm nennen können.

 

Vom Schwertel aus ritten wir also mehr oder weniger am Fuße des gigantischen Nebelgebirges entlang, überquerten eine Woche später den Silberlauf, am nächsten Tag die Nimrodel und dann ging es immer weiter und weiter Richtung Süden. Meinem Gedächtnis zufolge hätten wir dabei irgendwann an Lórien vorbeikommen müssen, doch der einzige und dazu riesige Wald, den ich irgendwann am Horizont erscheinen sah, war der des Fangorn, wie Radagast auf meine Nachfrage bestätigte.

 

Wir ritten eine ganze Woche lang in einem weiten, nach Osten ausholenden Bogen an seinem Rand entlang, ohne ihn zu betreten und nächtigten alle Male in einigem Abstand von den uralten Bäumen, so daß der Rauch unseres aus dürrem Unterholz bestehenden Lagerfeuers ihnen nicht schaden konnte. Mir war ganz seltsam zumute, als ich an die Erzählungen dachte. Immerfort starrte ich den Waldsaum an, erwartete, daß einer der Bäume sich bewegte, flüsterte oder des nachts seine Äste über das Feuer beugte, um sich zu erwärmen, so wie ich es in Tolkiens Beschreibungen gelesen hatte. Doch entweder war mein Blick zu getrübt, oder es war nicht die rechte Jahreszeit und die Nächte bereits zu mild, um zum Aufheizen einzuladen.

 

Zu meiner Freude regnete es in diesen Tagen nur spärlich und auch sonst blieben wir von den Tücken des Aprilwetters, das wir im letzten Monat zur Genüge ausgekostet hatten, weitestgehend verschont.

 

In einem kargen Felsental, ungefähr fünf Wegmeilen vom Fangorn entfernt, schlugen wir ein fast schon luxuriöses Lager auf. Während der ganzen Route am Wald entlang, hatte Radagast mich geheißen, sorgfältig einige längere und stärkere Äste einzusammeln, natürlich wieder einmal ohne meine neugierigen Fragen nach dem Warum zu beantworten. Ich hatte es aufgegeben. Ich war viel zu frustriert und erschöpft, um mit ihm über solche Nichtigkeiten zu diskutieren. Jetzt zeigte der Istar mir, wie man diese vielen Zweige mit einfachen Mitteln zu einem kleinen und recht windschiefen Zelt vereinigen konnte. Es war nichts besonderes und gerade groß genug, daß ich auf allen Vieren hineinkriechen und mich hinlegen konnte. Aber mit einer Plane versehen war es dazu geeignet, eventuelle Regenschauer abzuhalten – wenn es nicht zuvor von einer Windböe erfaßt und fortgeweht wurde...

 

In der Nacht regnete es dann auch tatsächlich und am Morgen war Radagast verschwunden. Na toll! Eigentlich hätte mich bereits die Tatsache, daß wir am Abend zuvor nur ein Zelt errichtet hatten, mißtrauisch stimmen sollen! Schmollend lugte ich unter der triefenden Plane hervor. Der Himmel war schwarz verhangen und in der Ferne erklang leises Donnergrollen.

 

Schimpfend zog ich den Kopf zurück und verwünschte die Heimlichtuerei des alten Mannes mit allen mir zu Gebote stehenden Vokabeln aus zwei mittel- und drei irdischen Sprachen und ergänzte die beim Luftholen entstehenden Lücken mit unmutigem Schnaufen und entrüsteten Gebärden. Letztere mußten in dem beengten Raum dürftig ausfallen, was meine Wut noch weiter steigerte. Konnte dieser Mensch – Mann – Istar – was auch immer... nicht wenigstens Bescheid sagen, wenn er fortging und wann er gedachte zurückzukommen? Und überhaupt! Es war einfach in höchstem Grade rücksichtslos, mich hier so allein in der Wildnis zu lassen! Oder etwa nicht?!

 

Vom Zelteingang her hörte ich ein vertrautes Piepsen und hielt die Plane einen Spaltweit auf, damit ein völlig durchnäßtes Etwas hereinflattern konnte. Vorwurfsvoll plusterte Aiwendil sich vor mir auf und stimmte ein klagendes Liedchen an.

 

„Tut mir leid, Kleiner!“ Augenblicklich war mein Groll vergessen. Ich kramte schnell nach einem Taschentuch und versuchte damit, den Vogel ein wenig abzutrocknen, was bei den glatten Federn aber nicht recht funktionieren wollte. Außerdem hielt Aiwendil so gar nicht still, sondern wehrte sich beleidigt gegen meine gutgemeinten Versuche.

 

„Ich sagte doch bereits, daß es mir leid tut! Nun stell dich nicht so an! Ich will dir doch nur helfen! – Autsch!“ Der scharfe Schnabel traf genau die empfindliche Spitze meines Zeigefingers und ich war versucht, dem kleinen Rebellen eine Ohrfeige zu verpassen. Aber das wäre dann doch zu grob gewesen. Also steckte ich den Finger in den Mund und nuckelte grummelnd daran herum.

 

„Statt hier so einen Aufstand zu machen, verrat mir lieber wo unser geheimnisvoller Freund schon wieder hin ist!“ maulte ich.

 

>Nach Isengart<, bildete ich mir ein, aus dem aufgeregten Getschilpe zu verstehen und blinzelte verstört. Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war völlig unmöglich! Oh, nicht, daß Radagast Saruman aufsuchen wollte natürlich. Denn das war ja die Absicht unserer Reise gewesen. Und dieses Wissen war sicherlich auch der Auslöser für meine plötzliche Erleuchtung. Es war schließlich völlig ausgeschlossen, daß ich plötzlich anfing, die Vogelsprache zu verstehen, nicht wahr?! Eben. Also versuchte ich mich zu entspannen und legte nun auch das ohnehin unnütze Taschentuch beiseite.

 

Das Unwetter kam immer näher und bald schon zuckten helle Blitze über den Himmel, die meine kleine Notunterkunft gespenstisch erhellten. Ich begann, die Sekunden bis zum Donnerschlag zu zählen. Eins – zwei – drei... Krawumm! Kreischend verkroch ich mich in meine Decke und zog sie hoch über die Ohren.

 

Der Boden unter mir erbebte unter den Naturgewalten und außerhalb meines bescheidenen Verstecks fiepte Aiwendil so anhaltend schrill, daß ich glaubte, er müsse gleich zerspringen wie eine Glasvase, die auf einen Steinboden aufschlägt. Ich zwang mich, die Decke um wenige Zentimeter zu lüften und ohne Zögern huschte der kleine, noch immer patschnasse Kerl darunter und klebte sich an meine Wange.

 

„Ähm, Aiwendil?“ Plötzlich unheimlich mutig schlug ich die Decke zurück und guckte den Piepmatz vorwurfsvoll an. „Du bist naß!“ beschwerte ich mich.

 

Der Kleine piepste zustimmend und völlig reuelos.

 

„Das ist eklig!“ protestierte ich noch heftiger.

 

Daraufhin erklang ein längeres, recht beleidigtes Plädoyer. Wie? Ich sollte schuld daran sein, daß er um ein Haar in dem niedergehenden Sturzbach ertrunken wäre? Hätte ich nicht geschlafen wie ein ausgewachsener Ork... Hey, Moment mal! Das ist nicht wahr! Ich schnarche nicht! Tu ich doch? Nein! Tu ich nicht! Entrüstet setzte ich mich auf und brachte das Zelt beinahe zum Einbrechen. Es folgten ein tagheller Blitz und ein gleichzeitiger Donnerschlag und mit einem schrillen Aufschrei und einem angsterfüllten Fiepen suchten wir beide erneut unter der Decke Schutz.

 

Aaah! Kaum wurde mir richtig klar, was ich da gerade tat, kam ich auch schon einem Tobsuchtsanfall gefährlich nahe. Ich diskutierte mit einem Vogel und kreischte aus Angst vor einem dämlichen Gewitter wie eine dumme, verhätschelte Zicke! Ich schrie doch normalerweise gar nicht so weibisch! Was war eigentlich los mit mir?

 

Blitz und Donner wüteten über unserer kleinen Zufluchtsstätte wie das Jüngste Gericht. Ich verschob meine Bedenken auf später und machte mir in einem langgezogenen Schrei Luft. Was soll’s. War jetzt ohnehin alles egal!

 

Ich weiß nicht, ob ich die leise schleichenden Schritte vernommen hätte, hätte Aiwendil mich nicht energisch ins Ohrläppchen gezwickt. Ich hielt mitten im Luftholen inne und lauschte angespannt. Irgend jemand oder –etwas war da draußen. Vorsichtig schob ich meinen Kopf unter der Decke hervor - gerade so weit, daß meine Augen heraussahen – und versuchte, das Geräusch genauer zu bestimmen.

 

Zwischen Gewittergrummeln und dem Brausen des Sturmes, prasselte der Regen hart auf den felsigen Untergrund. In einigen Erdlöchern hatten sich längst Pfützen gebildet und ganz dicht an unserem Zelt gluckerte ein kleines Bächlein vorbei. Von den Ästen eines einsamen Baumes platschte hin und wieder ein besonders dicker Wassertropfen auf die regennasse Plane und drückte sie dabei an diesem Punkt stetig ein Stückchen weiter hinab. Die Delle ragte spitz und bedrohlich über meiner Nase nach innen.

 

Man mußte seine Ohren schon sehr anstrengen, um bei all diesen Nebengeräuschen jenes herauszuhören, das von einem Paar schwerer Stiefel herzurühren schien. Nur jeden dritten oder vierten Schritt konnte ich vernehmen, die anderen wurden vom Unwetter übertönt.

 

Zuerst dachte ich, es wäre Radagast, der von seinem Besuch im Orthanc zurückkehrte. Dann hörte ich ein langgezogenes Schnüffeln... und ein zweites Stiefelpaar.

 

Aiwendil begann auf meiner Brust zu vibrieren und mir selbst brach der Angstschweiß aus. Ich spürte Furcht und Entsetzen und wußte in diesem Moment ganz genau, was dies zu bedeuten hatte, denn ich hatte genug über das Grauen gelesen, das diese Wesen verbreiteten. Wenigstens beantwortete sich nun meine Frage danach, weshalb sie laut der Aufzählung der Jahre schätzungsweise fünf Monate für die Strecke vom Anduin bis zum Isen benötigt hatten und später für den vergleichbaren Weg bis zum Auenland nur schlappe vier Tage... oder besser gesagt, ich wußte jetzt, wo sie sich in der Zwischenzeit aufgehalten hatten!

 

Du meine Güte! Ich dachte in der Vergangenheit von etwas, das sich erst noch ereignen würde!

 

Erst nachdem ich mir um ein Haar meine einzige Hose ruiniert hätte, fiel mir auf, daß meine schlimmste Befürchtung unbegründet war, denn die Ringgeister konnten Mordor noch gar nicht verlassen haben. Schließlich befand Gollum sich bei den Waldelben in Gewahrsam und diese Typen würden erst aufbrechen, nachdem das mißgebildete Wesen gefangen und verhört worden war. Oder vertat ich mich da in der Reihenfolge und das Verhör hatte bereits zuvor stattgefunden, ehe Aragorn Gollum ins Waldelbenreich gebracht hatte? Ich wußte es nicht.

 

Mittlerweile waren Schritte und Geschnüffel näher gekommen und befanden sich unmittelbar vor dem Zelteingang. Dort verweilten sie suchend. Die Plane erbebte unter tastenden Berührungen. Immer tiefer verbarg ich mich in meiner Decke. Die Sekunden verrannen schleppend und in banger Erwartung. Jetzt hatte jemand die Stelle entdeckt, wo die beiden Tuchränder übereinandergeschlagen waren und den Einlaß gewährten. Ein energischer Ruck und dann wurde ein Kopf ohne Rücksicht auf die unstabile Konstruktion hereingeschoben. Wie durch ein Wunder wackelte das Zelt nur bedenklich, hielt aber stand.

 

Spätestens jetzt kam mir die Einsicht, daß, sollte es sich um keine Nazgûl handeln, dieser Umstand zwar beruhigend wäre, aber keineswegs zur Entspannung Anlaß gab. Gleich darauf traf mich die Erkenntnis, daß wir uns bereits seit über zwei Monaten auf der Reise befanden und Gollum inzwischen längst entkommen und auch wieder aufgegriffen worden sein konnte!

 

Im gelblich-düsteren Licht des Gewitterwetters, das durch den Schlitz in das noch dunklere Innere des Zeltes hereinfiel, erkannte ich einen unförmigen Kopf mit viel zu langen spitzen Ohren. Rot und bedrohlich glühten die Augen der Kreatur und mit einem feuchten, recht aggressiven Schnauben machte sie ihrem Unmut Luft.

 

„Brasfaloth!“ In meiner Empörung schnellte ich hoch und vollbrachte das begonnene Werk. Erst zögernd, schwankend, dann unaufhaltsam wie ein Kartenhaus, fiel unsere kleine Herberge in sich zusammen...

 

~*~

 

 

zurück     weiter

 

 

Hauptseite

 

---