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Vier Tage waren inzwischen vergangen. Wir hatten das Gebirge Düsterwalds überquert und befanden uns seit gestern auf der Waldstraße. Die erwachsenen Elben waren extrem schweigsam. Ich glaube, sie haben in der ganzen Zeit kaum zwei Sätze gesprochen. Zumindest nicht zu mir. Saßen wir jedoch abends gemeinsam um einen Mittelpunkt, wo eigentlich das Lagerfeuer hingehört hätte, das die Erstgeborenen uns aufgrund der ständigen Bedrohung durch die bösartigen Kreaturen des Waldes nicht erlaubten, so starrten sie einander mit geschlossenen Mündern an. Ihre Mienen verrieten dann, was meine Ohren nicht wahrnehmen konnten. Sie unterhielten sich. In Gedanken. Ausgesprochen unhöflich, wie ich fand. Und doppelt ärgerlich, weil Radagast diesen Gesprächen offensichtlich problemlos folgen konnte. Richtig gemein wurde es, wenn die Kinder aufgeregt ob des Gehörten auf ihrem Hosenboden herumrutschten oder ebenso lautlose Fragen stellten.

 

Einmal hatte ich gewagt ganz vorsichtig darauf hinzuweisen, daß hier ein armes Menschlein sitzt, das gerne Anteil an der Unterhaltung nehmen wollte. Doch ich war einfach ignoriert worden. Danach hatte ich es vorgezogen, mich nach dem kargen und kalten Abendmahl in meine Decke zu wickeln und wenigstens mein Pensum an Schlaf zu erreichen, dessen die Elben nicht im gleichen Ausmaße bedurften.

 

Die Waldstraße verdiente diesen Namen eigentlich überhaupt nicht. Gut, Wald gab es zur Genüge, sogar viel zuviel davon, für meinen Geschmack. Aber die Straße fehlte völlig. Statt dessen sah es hier aus, als wäre vor Urzeiten einmal ein Tornado hindurchgefegt und habe eine ungefähr vier Meter breite Schneise gezogen. Im Laufe der Jahrhunderte waren dann an einigen Stellen wieder Bäume nachgewachsen und versperrten manchmal den gesamten Weg, so daß wir von ihm abweichen und durchs Unterholz reiten mußten.

 

Dabei war es stets so düster, daß ich die vorausreitenden Elben kaum sehen konnte. Sie gaben ein ganz ordentliches Tempo vor. Hatte ich mich vor einem Jahr noch über die wenigen Pausen beklagt, die der Zauberer auf unserer Reise nach Rhosgobel eingelegt hatte, so gelangte ich jetzt allmählich zu der Überzeugung, daß den Erstgeborenen die eigentliche Bedeutung dieses Wortes fremd war. >Pause< hieß bei ihnen soviel wie >wir steigen ab und entlasten die Pferde, indem wir sie am Zügel neben uns herführen<.

 

So kamen zu meinem Reiter-Muskelkater nun auch noch zwei schöne große Fußgänger-Blasen hinzu und zu allem Elend ging mir so langsam Galvorns Wundersalbe aus! Mein Gequengel und Gejammere stieß regelmäßig auf taube Ohren, hielten sich doch selbst die Kinder wackerer – was möglicherweise aber auch daran lag, daß sie bei unseren Marscheinlagen auf den Pferden sitzen bleiben durften, die sie sich ansonsten mit zweien der Lórienelben teilten.

 

Der einzige, der ein klein wenig Mitleid mit mir hatte, war Aiwendil. Er setzte sich auf meine Schulter und trällerte mir ein ohrenbetäubendes Ständchen oder flatterte wie wild um meinen armen Kopf herum, weil er mich auf irgend etwas aufmerksam machen wollte... Er meinte es ja gut, aber in meiner gereizten Stimmung erreichte er mit seinen Bemühungen gerade das Gegenteil.

 

Auch Radagasts immerwährende Beteuerungen wie gut der kleine Piepmatz mich leiden mochte, trugen nicht zur Steigerung meines Wohlbefindens bei. Alles, was ich mir wünschte, war das Ende dieser Reise, überhaupt das Ende aller Reisen! Ich war es gründlich satt, durch halb Mittelerde zu vagabundieren!

 

Es war an einem wunderschönen, ähm... düsteren Morgen. Majestätische Baumstämme hoben sich schwach von der sie umhüllenden Finsternis ab und entzogen sich in vielen Metern Höhe meinen Blicken, verschwammen dort mit dem Dunkel der Blätter und der lichtlosen Atmosphäre des unheimlichen Waldes.

 

Mir selbst fiel keine Veränderung zu den vorangegangenen Tagen auf. Alles war gleich schaurig und bedrohlich. Hinter jedem Baum, jedem Strauch lauerte der böse Geist, der von Dol Guldur ausgehend alles Leben in diesen Gefilden verpestete und wie ein lähmender Schatten jegliches Gefühl der Geborgenheit zusammen mit dem Licht aussperrte.

 

Irgend etwas stimmte dennoch nicht. Die Lórienelben hatten bei unserem Aufbruch darauf bestanden, daß ich Berigond zu mir auf Brasfaloth nehmen sollte und mich angewiesen, neben der blonden Elbenfrau zu reiten, der sie ihr Töchterlein hinaufreichten. Radagast hielt sich dicht neben mir, während die fünf Krieger uns wie eine Leibgarde umzingelten, ihre Bögen schußbereit in den Händen.

 

Nennt mich überängstlich, aber das machte auf mich alles andere als einen beruhigenden Eindruck! Furchtsam lauschte ich hinaus in die Stille, versuchte verzweifelt etwas zu erkennen, verfluchte zum hundertsten Male das Nichtvorhandensein meiner Brille und hätte mich am liebsten in irgendein Erdloch verkrochen – was ich ganz sicher getan hätte, wenn ich nur eines hätte finden können!

 

Die Kinder waren erstaunlich diszipliniert. Der lange Ritt schien sie überhaupt nicht zu langweilen. Sie saßen die meiste Zeit mucksmäuschenstill und beobachteten fleißig die erwachsenen Elben. Nur hin und wieder wandte Berigond sein Köpfchen zu mir hoch und erklärte in einem solch leisen Flüsterton, daß mir die Hälfte seiner Worte und der gesamte Inhalt derselben entging, was er gerade entdeckt oder gehört hatte. Dabei war er mit einem Eifer bei der Sache, der schon jetzt in ihm den mutigen Krieger erahnen ließ, der er ganz ganz schnell werden wollte. Seine Schwester mochte ihm an Courage natürlich nicht nachstehen und blickte so zuversichtlich drein, als könnten alle Ungeheuer Düsterwalds uns kein einziges Härchen krümmen.

 

Nun, ich war mir dessen nicht so sicher. Besonders da selbst Aiwendil sein Getschilpe eingestellt hatte und bedrückt auf meiner Schulter ruhte. Hin und wieder plusterte er sich auf, als durchführe ihn ein kalter Schauder. Dann wieder rutschte er dicht an meinen Hals heran und fiepte wie ein verängstigtes Küken. Ich selbst schlotterte inzwischen von mehr als der morgendlichen Kühle und umarmte den Knaben vor mir etwas fester, als es für seinen sicheren Sitz notwendig gewesen wäre.

 

Hoch oben im Geäst ertönte ein schrilles Kreischen. Fast gleichzeitig sirrte ein schlanker Elbenpfeil hinauf in die Dunkelheit. Als er wieder herunterfiel, hing ein unförmiger Körper daran, und mit einem dumpfen Geräusch schlugen beide nur wenige Meter vor uns auf den Boden auf.

 

Dann ging alles Schlag auf Schlag. Rund um uns her setzte ein nervenzerreißendes Fauchen ein. Radagast rief mir zu, mich nicht von der Stelle zu rühren und trieb seinen Braunen in die Kampfreihe der Krieger. Die blonde Elbendame schwang sich mit einer geistesgegenwärtigen Entschlossenheit vom Pferd, zog ihr Kind mit sich und kaum waren beide herab, plumpste eine fette Spinne am Ende eines starken Fadens auf den Rücken ihres Tieres. Das Pferd stieg in Panik, warf dabei den überdimensionalen Achtbeiner ab und rannte los, als wären tausend Dämonen hinter ihm her.

 

Ich dachte noch wie gut es sei, daß diese Biester nicht so riesig waren, wie ihre Urahne Kankra dort unten in Mordor. Dennoch kam es mir nicht in den Sinn, mich über mangelnde Körpergröße zu beklagen. Ich meine, das waren schließlich Spinnen! Und die trat ich für gewöhnlich mit dem Fuß kaputt oder warf einen Pantoffel nach ihnen! Nicht, daß ich damit jemals eine getroffen hätte. Dafür war ich einfach zu ungeschickt. Aber es tat dennoch gut. Hin und wieder... Hier und jetzt wäre es eine aberwitzige Idee gewesen, es auch nur zu versuchen. Diese Ungeheuer hätten Kleinholz aus allem gemacht, was mir als Wurfgeschoß zur Verfügung stand.

 

Das abgeworfene Vieh saß am Boden und glotzte zu mir herauf. Auf der anderen Seite bekam es Verstärkung von drei weiteren Gefährten. Es war ein seltsames Gefühl, eine hausschweingroße Ausführung unserer heimatlichen Netzweber in Angriffsstellung, mit gefletschten Zähnen – oder wie auch immer man diese Gebisse nennen mochte – und eindeutig zu scharfen Krallen so aus nächster Nähe begutachten zu können. Interessanterweise war alles, was ich mir in diesem Augenblick wünschte, niemals besagte Urahne zu Gesicht zu bekommen.

 

Gerade als ich mir überlegte, ob ich mir hier in Mittelerde nicht eine Spinnenphobie zulegen sollte, fummelte Berigond hektisch am Knauf meines Mithrilschwertes herum und riß mich damit aus meiner nur sekundenlangen Lethargie. Ich schlug Radagasts Anweisung in den Wind und zog todesmutig das Schwert aus der Scheide – was ein wenig umständlich war, da Berigond mich dabei behindere und aufgeregt in einem so wüsten Dialekt auf mich einsprach, daß ich beim besten Willen kein Wort verstehen konnte.

 

Als ich die Waffe endlich entblößt hatte, ergab sich ein weiteres Problem. Sollte ich erst absteigen und dann zustechen oder versuchen, eine der Bestien von hier oben aus zu erwischen? Dazu hätte ich mich aber weit herabbeugen müssen und wäre Gefahr gelaufen, vom Pferd zu fallen. Allerdings wollte ich da unten gerade jetzt auch keinen Fuß hinsetzen. Zögernd sah ich mich um.

 

Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Ich erhielt einen heftigen Schlag in die linke Seite und machte den direkten Abgang zur anderen. Unter mir knirschte der Chitinpanzer einer Spinne und über mir schrie der Elbenjunge erschrocken auf. Brasfaloth kickte mit dem Hinterhuf eines der schwarzen Biester knapp an meiner Nase vorbei, als ich gerade die Augen wieder öffnete, die ich beim Sturz geschlossen hatte, wie wenn dies den Aufprall hätte lindern können.

 

Erstaunlich nüchtern erkannte ich dann, daß ich mein Schwert noch immer fest in der Hand hielt. Nun mußte ich nur noch ein passendes Ziel für das spitze Ende finden – und es treffen, versteht sich. Mit der Linken schob ich den Knaben von mir herunter, der mir die Bewegungsfreiheit nahm und rappelte mich auf.

 

Um uns herum wimmelte es von Spinnen. Fast bedächtig umlauerten sie ihre Opfer und wägten kaltblütig ab, wie sie am ungefährlichsten an uns herangelangen konnten. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, die Schwertspitze nach außen und den Knaben schützend hinter mich geschoben, den Blick starr auf die Bestien gerichtet. Ich wagte nicht, sie auch nur einen kurzen Moment aus den Augen zu lassen, um etwa hinüber zu meinen Begleitern zu sehen. Das Sirren der Pfeile, das Klirren der Schwerter und das viehische Gebrüll der Gegner zeigten mir, daß die Elben eine blutige Ernte hielten.

 

Dies alles ging viel schneller, als es sich erzählen läßt. Vom ersten Schuß bis jetzt war kaum eine Minute vergangen. Ich will gar nicht behaupten, daß ich mich heldenhaft benahm. Es war mehr eine Art verzweifelter Selbsterhaltungstrieb, der mich bei einer günstigen Gelegenheit nach vorne schnellen und eine besonders vorwitzige Spinne sauber aufspießen ließ. Dunkles, rotes Blut spritzte aus der tödichen Wunde, nachdem ich das Schwert angewidert aus dem konvulsierenden Körper gezogen hatte.

 

Rot! Sollte man von Spinnenblut nicht eine andere Farbe erwarten? Welche? Ich hab keine Ahnung. Aber nicht ausgerechnet rot!

 

Und sollte man nicht eigentlich annehmen, daß ich in dieser Situation andere Sorgen hatte, als über die unerwartete Farbe des Blutes zu meditieren? Sollte man.

 

Aber nun geschah etwas, mit dem ich wahrhaftig nicht gerechnet hatte. Denn der Kampf war weit schneller vorbei, als irgend jemand hätte voraussehen können. Zumindest für mich...

 

Es war nicht so, als hätte ich noch nie zuvor in meinem Leben Blut gesehen. Wie jedes andere irdische Kind, so hatte auch ich mir seinerzeit eine Menge Schrammen und Schürfwunden beim Spielen zugezogen, mich später des öfteren mit dem Küchenmesser oder sonst einem scharfen Gegenstand geschnitten und gar in meiner kurzen, niemals zuende gebrachten Lehre zur Krankenschwester, der ein oder anderen Operation beigewohnt.

 

Doch all dies verlor hier in Mittelerde seine Bedeutung. Beim ersten hervorquellenden Blutstropfen begann das spärliche Frühstück in meinem Magen zu revoltieren. Dann wurde mir schwindlig und kurz darauf schwarz vor den Augen. Ich hatte ein Gefühl, als würde ich mich um die eigene Achse drehen. Berigond schrie entsetzt auf und ich mühte mich vergebens, die aufkommende Ohnmacht abzuschütteln. Dann war alles still und ich versank in einem Meer der Dunkelheit.

 

Als ich wieder erwachte, war alles vorbei. Ein beißender Geruch von Blut und einer mir unbekannten Substanz lag in der Luft und brachte das zuende, was meine Bewußtlosigkeit unterbrochen hatte. Um einige Gramm leichter erhob ich mich schließlich, öffnete die verquollenen Augen und sah mich um. Ich lag alleine etwas abseits des Kampfplatzes. Zum allerersten Mal seit über einem Jahr war ich dankbar für meine Sehschwäche, die mir die grauenhaften Einzelheiten des Gemetzels ersparte.

 

Zur Zeit war niemand an meinem Unwohlsein interessiert. Die Elben verbanden sich gegenseitig ihre Wunden und Radagast unterhielt die Kinder mit zweifelhaften Zauberkunststückchen. Die Pferde waren nirgends zu sehen. Auch einer der Lórienelben fehlte und ein anderer schien schwer verletzt zu sein. Er lag bewußtlos am Boden und war beinahe so blaß wie der dicke weiße Verband, der seine Schulter zierte. Ruckartig setzte ich mich auf und riskierte damit einen weiteren Würgereiz.

 

„Wo... wo ist Galdor?“ ächzte ich und spuckte einen Rest des bitteren Mageninhaltes aus.

„Er sucht nach den Pferden“, erwiderte Radagast gelassen und ließ mit einer geschickten Handbewegung eine Nuß in den weiten Ärmel seines Gewandes gleiten, um den Kindern gleich darauf die leere Handfläche zu präsentieren. Ein begeistertes Oh! und Ah! erklang und Berigond tippte ungläubig mit dem Fingerchen an seine Unterlippe.

 

Der Zauberer schmunzelte zufrieden.

 

„Komm her“, forderte er mich auf, „du kannst dich nützlich machen.“

„Ich weiß nicht recht...“ zögernd mühte ich mich auf die Beine und trat vorsichtig näher. Dabei hielt ich den Blick krampfhaft auf die drei gerichtet, um nur ja nicht Gefahr zu laufen, beim Anblick der möglicherweise blutigen Verbände, einer neuen Ohnmacht zu erliegen.

 

Nachdem ich Radagasts Platz eingenommen hatte, widmete er – der übrigens außer mir und den Kindern als einziger unverletzt geblieben war – sich ausschließlich dem Stopfen und Rauchen seiner Pfeife und starrte gedankenverloren den kunstvollen Kringeln hinterher.

 

War mir das peinlich! Zwar machte niemand mir Vorwürfe, aber dennoch fühlte ich mich ganz erbärmlich und war heilfroh, als Galdor endlich mit den Pferden zurückkam und die Reise weitergehen konnte. Der Schwerverletzte erwies sich als nicht ganz so tot oder weit widerstandsfähiger, als es den Anschein gehabt hatte und vermochte sogar alleine zu reiten, nachdem ihm aufs Pferd geholfen worden war.

 

Am Abend des selben Tages erreichten wir endlich den Rand des Waldes. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach einer Woche in der beklemmenden Düsternis, unter einem klaren Sternenhimmel zu schlafen.

 

Ich lag noch lange wach und bestaunte einfach die vielen, silbernen Punkte auf dem samtenen Nachthimmel. Ob das die selben Sterne waren, die ich von zuhause aus sehen konnte? Sie sahen so greifbar nahe aus und waren doch so furchtbar weit entfernt. Eine einsame Träne kullerte langsam über meine Wange und nicht viel später leistete eine zweite ihr Gesellschaft. Da raschelte etwas neben mir und gleich darauf kuschelte sich ein kleiner Körper an meine linke und ein anderer noch etwas kleinerer an meine rechte Seite.

 

„Weinst du, Elanor?“ flüsterte das Mädchen, Beril, falls ich den Namen noch nicht erwähnt haben sollte. „Mama sagt immer, es hilft an etwas Schönes zu denken, wenn man traurig ist. Denk doch an was Schönes, ja?! Ich möchte nicht, daß du traurig bist.“

 

Fast zeitgleich schmatzten beide mir einen Kuß auf die Wangen. Ich grinste unter Tränen und umarmte die Kinder, um sie fest an mich zu drücken. Diese zwei liebenswerten Geschöpfe hatten mich trotz aller meiner Fehler und Unzulänglichkeiten gern! Getröstet und mit einem Gefühl der Geborgenheit schlief ich ein.

 

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