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„Aber ich hab sie zuerst entdeckt, und dann hat Haldor sie mir einfach abgenommen!“

Der kleine Anarion stand schniefend vor mir und wischte sein verschmiertes Näschen an meiner Bluse ab. Ich hatte mich auf den Boden gekniet und fuhr ihm tröstend durch die zerzausten Haare.

 

Früh am Morgen, noch bevor die Kinder meiner Obhut überlassen worden waren, hatte ich mich hinaus auf die Koppel begeben, um ein neues Spiel vorzubereiten. Um ehrlich zu sein, ich war wirklich gespannt darauf, wie die Elbenjungen an diese Herausforderung herangehen würden. Es war nicht so, daß ich das Rad neu erfunden hatte, aber ich wollte doch gerne sehen, ob sich unsere alt bewährte Schnitzeljagd auf mittelirdische Verhältnisse ummodeln ließ.

 

Da ich davon ausgehen konnte, daß die Knaben sich dabei gelangweilt hätten, irgend welche Papierfetzen zu verfolgen, die sie wahrscheinlich bereits aus hundert Meter Entfernung auf Anzahl und Beschaffenheit bestimmen konnten, hatte ich sie einfach weggelassen. Eine Schnitzeljagd ohne Schnitzel also? Ganz genau!

 

Barfuß, um keine allzu deutlichen Spuren zu hinterlassen, war ich kreuz und quer über die Wiese geschlichen. Ich selbst konnte, als ich mich ein paarmal prüfend umblickte, überhaupt keine Eindrücke entdecken, und fast wollte ich mein Vorhaben bereits aufgeben da ich befürchtete, ich würde die Kinder vor ein unlösbares Problem stellen und der Spaß in einer fürchterlichen Enttäuschung enden.

 

Aber ich sollte mich geirrt haben. Es dauerte gar nicht lange, bis die gewitzten Kerlchen meine Fährte aufgenommen hatten. Wären die Pferde allerdings noch vor den Kindern auf die Koppel gelassen worden... - nicht einmal ein erfahrener Waldläufer wie Aragorn hätte danach noch irgendeine Spur entdecken können!

 

Staunend stand ich abseits und beobachtete sie in ihrem Eifer. Irgendwann konnte ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob ich tatsächlich diesen oder einen anderen Weg genommen hatte, aber am Ende desselben hatte ich zu Beweiszwecken in einem dichten Grasbüschel eine Walnuß versteckt.

 

Ausgerechnet der Kleinste von ihnen erwies sich als der geschickteste Spurenleser. Anarion war den anderen immer ein oder zwei Schritte voraus und maulte nicht selten ungehalten, wenn die anderen sich erst noch vergewisserten, ob er auch die richtige Richtung einhielt und er auf sie warten mußte.

 

„Nicht weinen, Anarion“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Aber... aber ich hab doch...“, schluchzte er noch lauter.

„Das weiß ich.“ Ich legte den Zeigefinger unter das kleine Kinn und hob sein Köpfchen an. „Und es war nicht recht von Haldor, dir die Nuß abzunehmen.“

 

Anarion blinzelte die Tränen fort und sah mich groß und erwartungsvoll an. Ich jedoch ließ meinen Blick von ihm hinüber zu dem anderen Knaben wandern, der schuldbewußt abseits stand und seine Tat ganz offensichtlich bereits bereute. Aufmunternd winkte ich ihn mit dem Kopf herbei.

 

Haldor zögerte nur kurz, schlich sich näher und hielt dem Kameraden mit der weit ausgestreckten Hand das Beutestück entgegen. „Tut mir leid“, nuschelte er und blickte zu Boden.

 

Anarion ergriff vor Freude krähend die Nuß und führte einen grazilen Indianertanz auf. Ich nickte Haldor bestätigend zu und verbarg meine Erleichterung darüber, daß ich nicht vor die schwierige Aufgabe gestellt worden war, solch intelligenten Sprößlingen Recht und Unrecht zu erklären, hinter meinen langen Haaren, die mir beim Aufrichten ins Gesicht fielen.

 

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