---

 

 

„Das also ist Legolas!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen, als er hinter den Sträuchern verschwunden war, und erleichtert massierte ich mit der Handfläche meine Stirn.

 

Aufmerksam blickte ich mich um. Die freie Rasenfläche wurde umrahmt von den dunklen hohen Tannen Düsterwalds und zumindest auf dieser Seite hatte die Koppel – sofern man sie als solche bezeichnen wollte – keinen Zaun. Die Waldelben schienen eine Vorliebe für weiße Pferde zu haben. Na großartig! Es würde den ganzen Nachmittag dauern, bis ich Brasfaloth in dieser großen Herde gefunden hatte. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt erkennen würde. Ich hatte viel zu wenig Ahnung von Pferden, um sie anhand geringerer Unterscheidungsmerkmale als ihrer Farbe zu erkennen. Eine markante Blesse oder unterschiedliche Fesseln halfen manchmal dabei, nur eben nicht, wenn es sich um einen blütenreinen Schimmel handelte. Bisher war mir nicht bewußt gewesen, daß es auf der Welt überhaupt so viele schneeweiße Pferde gab!

 

„Mittelerde, Elli, Mittelerde!“ korrigierte ich mich geistesabwesend und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Langsam setzte ich mich in Bewegung, schenkte allen Braunen, Rappen oder anders gefärbten Tieren kaum Beachtung und ging auf jeden Schimmel mit leise lockenden Schnalzgeräuschen zu in der Hoffnung, daß einer von ihnen mir nicht ausweichen würde, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Dabei kam ich mir reichlich dämlich vor.

 

„Hoffentlich sieht dir jetzt bloß niemand zu!“ Ich drehte mich um und vergewisserte mich, daß außer mir kein zweibeiniges Wesen zu sehen war. Woher ich bei meiner Kurzsichtigkeit die Gewißheit nahm unbeobachtet zu sein, wußte ich selbst nicht. Jedenfalls fühlte ich mich nach diesem kurzen Rundumblick wesentlich wohler.

 

Nur wenig später fiel mir auf, daß ich eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf einen Rappen ausübte. Er folgte mir böse schnaubend wohin ich auch ging und blieb nie mehr als zwei Schritte zurück.

 

Erst dachte ich mir nichts dabei. Dann, als er aufdringlicher wurde, versuchte ich es mit Ignorieren. Schließlich ging ich etwas schneller. Als ihn dies nur noch mehr zu erzürnen schien, legte ich endlich einen kurzen Spurt ein, suchte Schutz hinter dem Stamm eines Laubbaumes und schielte vorsichtig um die Ecke. Augenblicklich spürte ich den heißen Atem des Hengstes im Gesicht und zog den Kopf bestürzt zurück.

 

„Er hat Angst du könntest ihm eine seiner Stuten stehlen.“

 

Ich drehte mich um und sah niemanden. Verstört schüttelte ich den Kopf. Das hatte nicht nach meiner inneren Stimme geklungen. Verlor ich jetzt wirklich den Verstand?

 

„Was suchst du eigentlich?“

 

Ich fühlte einen leichten Luftzug neben mir, atmete zischend ein und fuhr herum. Vor mir stand ein halbwüchsiger Elbenknabe und sah mit großen, ehrlichen Kinderaugen zu mir auf. Langsam und zweifelnd wanderte mein Blick hinauf zum Blätterdach.

„Aus dem Boden gewachsen bin ich nicht!“ belehrte mich der Knabe altklug.

 

„Es gehört sich nicht, jemanden so zu erschrecken!“ schulmeisterte ich ihn und bemühte mich, in der vorwurfsvollen Bemerkung, meine Neugierde zu verbergen. Dies war das erste Elbenkind, das ich zu sehen bekam... und das vielleicht schon ebenso alt war, wie ich selber. Oder älter. Alterten die Erstgeborenen nicht langsamer? Hatte der Meister sich nicht irgendwo in der Richtung geäußert? Oder hatten sich all die Fanfiktion-Schreiber nur selbst einen Reim darauf gemacht? Ich meine, es wäre irgendwo logisch, oder nicht? Andererseits sträubte sich etwas in mir den Jungen, der vor mir stand und mich wie ein ausgekochtes Schlitzohr angrinste, für älter als zehn Jahre zu halten.

 

Er strich sich fahrig eine Haarsträhne hinters Ohr. Dabei fiel mir erstmalig auf, daß Elbenohren nicht spitz waren! „Wollte ich nicht. Ich hab nicht dran gedacht, daß die Zweitgeborenen so schlecht hören.“

 

Ich fixierte den Knaben mit hochgezogener Augenbraue und wartete. Statt der Entschuldigung für die vermutet unabsichtlich beleidigenden Worte folgte jedoch nur ein nachlässiges Schulterzucken und ein kurzes bedauerndes, feststellendes Schürzen der Lippen. >Ist doch so<, drückte seine ganze Haltung aus.

 

Ich blies halb entrüstet und halb amüsiert die Luft aus.

 

„Und ihr seht auch nicht besonders gut.“

 

O-Oh! Kindermund tut Wahrheit kund... Ich öffnete bereits den meinen, um den kleinen Bengel zurechtzuweisen - denn ich fühlte mich ernstlich verletzt – da plapperte dieser auch schon munter weiter:

„Onkel Galvorn hat uns davon erzählt, aber so ganz hab ich ihm das nicht geglaubt.

Können wir Freunde sein?“

 

Die zornige Bemerkung erstickte mir im Hals und einen Moment lang vergaß ich das Atmen, so daß meine Lungen sich leer anfühlten und mir die Brust zusammenzogen. Der Knabe vor mir strahlte mich mit seinen treuen Augen und einem Lächeln, das Steine hätte erweichen können, so erwartungsvoll an, daß ich regelrecht spüren konnte, wie sehr eine ablehnende Antwort ihn enttäuschen würde.

 

„Onkel Galvorn?“ erwiderte ich lahm, nur halb bei der Sache.

„Er ist mein Freund!“ Der Junge nickte eifrig, ohne die Augen von mir zu nehmen.

„Dein... Freund?“ Meine Brauen zuckten irritiert.

„Naja“, er winkte nachlässig, „eigentlich ist er der Erzieher meiner kleinen Geschwister...“ Ton und Gestik drückten deutlich aus, wie erwachsen er sich bereits fühlte.

„Ah...“ Ich hingegen kam mir gerade recht dämlich vor. Ein vertrautes Gefühl, das mir einen Teil meines Gleichmutes zurückbrachte.

 

„Natürlich können wir Freunde sein“, beantwortete ich also endlich seine Frage und widerstand dem Drang, ihm kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen.

„Fein! Ich heiße Gilion und das dort ist Mornagil.“ Er deutete auf den Rappen, der inzwischen um den Baum herumgekommen war und uns mit schiefgelegtem Kopf beobachtete. „Er tut keiner Fliege was zuleide.“

 

„Ach nein?“ zweifelte ich und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Doch Mornagil schien nun tatsächlich ganz friedlich. Er wieherte leise und erhielt von Gilion einen Apfel, mit dem er zufrieden kauend zurück zur Herde trottete.

 

„Woher weißt du eigentlich, daß ich die elbische Sprache spreche?“ wunderte ich mich plötzlich. Andernfalls hätte er mich doch sicher auf Westron oder, wenn er nur nicht darüber nachgedacht hätte, dem hier gebräuchlichen Waldland-Dialekt angesprochen.

 

„Du hast Selbstgespräche geführt.“ Er grinste frech. „Tust du das häufig?“

 

Ich räusperte mich verlegen. „Was... äh... machst du so alleine hier draußen?“

„Wieso alleine?“ Gilion grinste noch breiter und bevor ich meine Verwirrung in Worten ausdrücken konnte, nickte der Junge mit dem Kinn zu einer Stelle hinter mir und flüsterte in warnendem Tonfall: „Nicht bewegen! Du bist umzingelt.“

 

Vorsicht wandte ich mich um und sah mich einer Schar von Drei- bis Sechsjährigen gegenüber, die mich mit Luftbögen in Schach hielt. Gespielt erschrocken hielt ich beide Hände in die Höhe.

 

„Oh, oh bitte tut mir nichts!“ bettelte ich und mußte schwer um meinen ernsthaften Gesichtsausdruck kämpfen als ich bemerkte, wie sehr die Kleinen sich bemühten, die selben drohenden Mienen zu zeigen wie die erwachsenen Krieger draußen vor dem Tor.

 

„Was suchst du hier in unserer Festung?“ piepste ein unglaublich süßer kleiner Fratz und mit ungewöhnlicher geistiger Beweglichkeit erkannte ich den Baum als benanntes Bauwerk. Ein Verdienst, der nur dadurch geschmäht wurde, daß der Knirps bei seinen Worten mit der ausgestreckten Hand auf ihn wies.

 

„Ich wollte nicht in eure Festung eindringen“, versicherte ich dem strengen Anführer und ging in die Hocke, um nicht gar zu sehr auf ihn herabsehen zu müssen. „Ich suche mein Pferd.“

 

„In unserer Festung?“ Der Kleine verschränkte die Arme vor der Brust wie er es von den Erwachsenen gesehen haben mochte, ohne zuvor seinen imaginären Bogen abzulegen.

Ich seufzte theatralisch. „Ich muß mich verlaufen haben.“ Ein klägliches Schluchzen sollte den Beschützerinstinkt des tapferen Kriegers wecken.

 

Der betrachtete mich noch eine lange Weile zweifelnd und gab seinen „Männern“ schließlich mit einer Handbewegung den Befehl, die Bögen zu senken.

 

„Die Zweitgeborenen haben nämlich auch keinen besonders ausgeprägten Orientierungssinn“, stellte Gilion seelenruhig fest und klopfte mir nun seinerseits beruhigend auf die Schulter, was dadurch möglich war, daß ich noch immer am Boden kniete.

„Mach dir nichts draus. Ich mag dich trotzdem.“

 

Ich verdrehte die Augen, kam aber nicht dazu etwas zu erwidern, da ich sogleich von einer aufgeregten Kinderschar umlagert wurde.

„Du bist ein Mensch? Wirklich? Wie heißt du denn?“ riefen die Knirpse durcheinander und einer von ihnen streckte prüfend einen Finger nach mir aus wie um zu testen, ob ich auch aus Fleisch und Blut war.

 

„Mein Name ist Elanor“, schmunzelte ich. „Und wie heißt ihr?“

„Haldor – Berigond – Mornel – Anarion“, riefen alle durcheinander. Es war unmöglich sich alle Namen zu merken und auch noch die passenden Gesichter dazu.

 

Interessanterweise verstanden und sprachen sie alle reines Sindarin. Galvorns Verdienst, vermutete ich.

„Und was macht ihr hier draußen? Ich meine, sollte nicht jemand auf euch aufpassen?“ Erst als die Worte schon heraus waren bemerkte ich, daß dies keine taktisch sehr kluge Fragestellung war.

 

„Wir sind Flüchtlinge!“ erklärte Gilion jedoch bereitwillig.

„Flüchtlinge?“ Ich blickte noch dämlicher drein, als es selbst für mich üblich war und verstand überhaupt nichts.

„Naja...“, der Knabe machte eine vage Geste in Richtung des unterirdischen Palastes, „ich hab dir doch von meinem Freund Galvorn erzählt...“ - Eine kurze Pause, die ich mit einem dümmlichen Nicken füllte – „Er ist nach Bruchtal gereist, um seine Familie zu besuchen.“

 

Erwartungsvoll sah ich den Jungen an, doch es folgte keine weitere Erklärung.

„Aah...?“ dehnte ich in der Hoffnung, daß dieser hilflose Laut ihn zu einer solchen animieren würde.

„Celthor“, erklärte statt dessen ein Dreijähriger und nickte kläglich.

„Celthor?“

„Ja, Celthor!“ bestätigte ein anderer Junge und blickte noch gequälter drein.

„Was ist mit ihm?“

„Er spielt immer so blöde Weiberspiele mit uns!“ jammerte ein dritter und ein vierter schüttelte nur mißbilligend den Kopf.

„Das ist sooo erniedrigend!“

 

Erfolgreich rang ich einen Lachanfall nieder. „Und da seid ihr natürlich geflüchtet!“

„Natürlich!“

 

„Was haltet ihr davon: Wenn ihr mir helft, mein Pferd zu finden, spiele ich mit euch.“

„Kannst du das denn?“ Kritisch musterten mich die Kinder.

„Na hört mal!“ Beleidigt stemmte ich die Hände in die Hüften. „Seh ich vielleicht aus, als würde ich Weiberspiele spielen?“

Skeptisch inspizierten sie meine Lederkluft und nach und nach hellten sich die Gesicht auf.

„Nein!“ bekannten sie einstimmig.

 

„Prima! Dann suchen wir jetzt zuerst den Schimmel der edlen Dame!“ kommandierte Gilion mit einer spöttischen Verneigung. „Dein Pferd ist doch weiß, nicht wahr?“ Die letzten Worte waren leise an mich gerichtet und der amüsierte Tonfall zeigte mir deutlich, daß er keine Antwort erwartete. Ein guter Beobachter! Ich grinste schief und schwieg.

 

Kurz darauf stob die ganze Bande auseinander.

„Das dauert nicht lange. Du solltest dir also bereits was ausdenken“, riet Gilion.

Ich überblickte die stattliche Herde. „Wie wollen sie mein Pferd überhaupt herausfinden?“

„Och, das ist leicht. Es ist das einzige, das nicht zur Herde gehört.“

„Willst du damit sagen, sie kennen alle Pferde?“ staunte ich.

 

„Selbstverständlich!“

Wie konnte ich aber auch so dumm fragen!

 

Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis die Kinder geschlossen zurückkamen, Brasfaloth in ihrer Mitte. Der Hengst begrüßte mich halbherzig, nahm aber dennoch dankbar die kleine Leckerei, die ich aus meiner Hosentasche hervorzauberte.

 

Jetzt kam es mir zugute, daß ich mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen und in der Tat selten oder überhaupt keinen sogenannten Weiberkram gespielt hatte. So fiel es mir nicht allzu schwer, einen munteren Strategieplan auszuhecken, der nach einigen Modifikationen selbst die Zustimmung der anspruchsvollen Elbenkinder fand.

 

So verging der Nachmittag wie im Fluge und ich konnte danach mit Zuversicht behaupten, daß nicht nur ich mich großartig amüsiert hatte. Die Kinder waren völlig aufgedreht, als wir uns endlich gemeinsam und erst nachdem ein ziemlich aufgelöst dreinblickender Elb uns gefunden und zum wiederholten Male auf die Zeit zum Abendbrot hingewiesen hatte, zum Speisesaal aufmachten. Dabei mußte ich hoch und heilig versprechen, daß wir am nächsten Tag da ansetzen würden, wo wir heute unser Spiel hatten unterbrechen müssen.

 

Glücklich und beschwingt folgte ich den Kleinen zum Speisesaal. Erst jetzt fiel mir auf, daß die letzten Spuren meiner langen Krankheit verschwunden waren und ich mich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal schwach gefühlt hatte.

 

Der Anblick des ungebetenen Besuchs, der inmitten einer Schar vor Vergnügen krähender Kinder die Halle betrat, zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und nicht wenige mißbilligende Augenbrauen in die Höhe. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und mein Zimmer aufgesucht, aber zum einen kam diese Überlegung reichlich spät, zum anderen hätte ich den Weg dorthin alleine gar nicht gefunden. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich von den Kindern zu einem freien Platz an der langen Tafel drängen zu lassen. Am Kopfende vermutete ich den König und seine nächsten Verwandten. Viel erkennen konnte ich natürlich wieder einmal nicht, wofür ich ausnahmsweise sehr dankbar war.

 

Da die Knaben sich alle auf die Sitze um mich herum verteilten, ragte ich unangenehm isoliert zwischen ihnen hervor und suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, mich unauffällig vor den Blicken der Waldelben zu verbergen. Dabei waren diese nicht einmal feindlich, sondern ungläubig, fragend oder einfach nur neugierig auf mich gerichtet. Ich nickte schüchtern in die Runde. Mein Hunger war plötzlich mit meiner guten Laune verflogen. Da half es auch nichts, daß sich nach einigen sehr langen Minuten Radagast zu uns gesellte.

 

Zufrieden vor sich hin schmunzelnd schob der Istar sich einen Stuhl zurecht und bediente sich ungeniert an einer Karaffe mit dunklem, rotem Wein, von denen mehrere in gleichmäßigen Abständen auf den Tischen verteilt waren und die er hier zwischen all den Kindern für sich alleine hatte. Naja, beinahe. Ich hielt ihm meinen Krug hin und er füllte ihn bis zum Rand.

 

„Wie ich sehe habt ihr euch gut amüsiert.“ Dem Tonfall nach zu urteilen nicht halb so gut wie er dies gerade jetzt tat.

 

Ich trank einen ausgiebigen Schluck. „Was...“, setzte ich an und wurde von den Kindern unterbrochen, die dem Zauberer bereitwillig und voller Begeisterung von unserem Spiel erzählten.

 

Radagast ließ mich die ganze Zeit über nicht aus den Augen, auch dann nicht, als er die schwere Obstschale näher zu sich heranzog und eine Weintraube nach der anderen den Weg zwischen seine zu den Ohrläppchen strebenden Lippen fand.

 

Irgendwann hatte er es geschafft mich so in Hypnose zu starren, daß ich mir ebenfalls ein paar Trauben von der Schale nahm.

 

„Sind sie nicht allerliebst?“ schmunzelte er auf deutsch.

„Ja, eine reizende kleine Rasselbande“, erwiderte ich und meinte es keineswegs so ironisch wie es klang.

Radagast lachte leise auf. „Galvorn wäre stolz auf dich!“

 

Ich errötete bis zum Haaransatz, trank meinen Becher in einem einzigen langen Zug aus und hielt ihn dem Istar zum Wiederauffüllen entgegen – entschied mich dann aber anders und winkte nachlässig ab. Schließlich wollte ich den Kindern kein schlechtes Beispiel geben und außerdem konnte ich mir für den nächsten Tag keinen Katzenjammer leisten. Es galt ein Versprechen einzulösen.

Also griff ich nach dem Wasserkrug und goß mir von diesem ungefährlichen Getränk ein.

 

„Immerhin kann ich mich auf diese Weise ein wenig nützlich machen. Hoffe ich zumindest...“ Ich dachte an den ungehaltenen Gesichtsausdruck des Ersatzkinderhüters, als er mitten in unser fröhliches Treiben geplatzt war und rümpfte die Nase. Vermutlich hatte ich mir wenigstens einen wirklichen Feind im Waldelbenreich geschaffen. Irgendwie war es zur Abwechslung ein gutes Gefühl zu wissen, weshalb man nicht gelitten war.

 

„Oh, um Celthor würde ich mir keine Gedanken machen“, zerstreute Radagast meine Bedenken, „Er fühlt sich ein wenig in seiner Ehre angegriffen, aber im Grunde genommen ist er mehr als froh, wenigstens einen Teil seiner unfreiwilligen Pflichten los zu sein. Wenn es nach ihm ginge, könntest du wahrscheinlich die Mädchen gleich mit übernehmen und die Säuglinge dazu.“

 

„Seh ich so aus als ob ich drei Köpfe und sechs Arme hätte?“ maulte ich entrüstet.

„Galvorn schafft es immerhin auch mit den ihm von Eru gegebenen Mitteln und macht sich nebenbei noch als Heiler nützlich.“

„Er ist auch ein Elb“, schmollte ich halbherzig. Tatsächlich stieg mein Zukünftiger gerade haushoch in meiner Achtung. Wie brachte er das nur alles unter einen Hut?

 

Unsere für die Kinder in fremder Sprache geführte Unterhaltung war übrigens völlig ihrer Aufmerksamkeit entgangen, da sie sich längst irgend einem anderen Thema zugewandt hatten, welches sie eifrig diskutierten und das sich wiederum meiner Kenntnis entzog, da sie ihrerseits den Waldelben-Dialekt gebrauchten.

 

Nach und nach wurden die Gespräche um uns lauter und weinseliger. Im Gegensatz zu den Bruchtalelben hielten es ihre östlichen Verwandten wohl nicht für nötig, für ihre spätabendliche Geselligkeit einen separaten Saal aufzusuchen. Vielleicht waren solche aber in dem unterirdischen Palast auch nicht so reichlich vorhanden.

 

Während ich noch überlegte, ob diese Gesellschaft das rechte Milieu für die Kinder war, wurden sie von ihren Müttern abgeholt. Ich kam mir dabei ein wenig vor wie eine Kindergärtnerin in unseren Landen, die den Tag über auf die Bengel geachtet hat, um sie dann wieder ihren Familien anzuvertrauen. Wir wünschten einander >Gute Nacht< und der kleine Anarion drückte mir sogar einen sehr feuchten Kuß auf die Wange.

 

Als sie mit ihren Müttern von dannen zogen – die mich übrigens kaum eines Blickes gewürdigt hatten – betrachtete ich mir diese etwas näher. Sie machten einen übertrieben hochnäsigen Eindruck und schienen der obersten Schicht anzugehören. Aber das war eigentlich keine allzu große Überraschung.

 

Forschend blickte ich Radagast an, der soeben einen kräftig geräucherten Schinken für sich entdeckt hatte und mit einem scharfen Messer dicke Streifen herunterschnitt.

 

„Erinnerst du dich an unser Gespräch in Bruchtal?“ Ich drehte den Krug in meiner Hand und betrachtete bedauernd den faden Inhalt.

„Welche Stelle meinst du?“ fragte Radagast ohne aufzublicken, aber indem er demonstrativ zurück in die elbische Sprache fiel.

„Die, an der du dich über die affektierten Höflinge aufgeregt hast.“

„Ah... die...“, hielt er es nun doch geratener, die Unterhaltung weiter auf deutsch zu führen.

 

Ich nickte.

Als zur Abwechslung einmal ich mich nicht näher erklärte, sah Radagast endlich von seinem Abendmahl auf.

Ich lächelte still in mich hinein. Ich hatte meinen Wein zu schnell hinuntergeschüttet und so zeigte selbst die doch geringe Menge bereits ihre Wirkung. Ich fühlte mich großartig. Nicht zuletzt, wegen dieser wenn auch geringen Genugtuung.

>Jetzt weißt du, wie ich mich ständig fühle!< dachte ich bei mir und beglückwünschte mich insgeheim zu dem gelungenen Schachzug.

 

Radagast legte die Stirn in nachdenkliche Falten, entschied schließlich, daß sich eine Nachfrage nicht lohnte und widmete sich weiter seinem Schinken.

 

Meine Vergeltung verlor somit augenblicklich an Bedeutung und da zu gleicher Zeit mein Wasser zur Neige ging, ergriff ich kurzerhand die Weinkaraffe. Diesmal genoß ich den schweren Roten langsamer und stellte fest, daß Thranduils Weine nicht umsonst so gelobt wurden.

„Ist der aus Esgaroth?“ verlangte es mich zu wissen. Das folgende Grummeln des Zauberers hätte man gut und gerne in jede beliebige Richtung auslegen können. Ich entschied mich, es als >ja< zu werten.

 

„Hast du schon darüber nachgedacht, wann wir dorthin reisen?“ fragte ich rundheraus.

„Nach Esgaroth?“ Radagast versuchte gerade ein Stück Schinken von dem abgeschnittenen Streifen zu beißen und preßte seine Worte durch die kämpfenden Zähne.

„Ach, sag bloß du hattest nicht vor, mich dorthin zu verschleppen?“ stellte ich mich erstaunt. „Wie wäre es mit Gondor? Oder Rohan? Hast du nicht einen Grund mich in den Fangorn zu bringen?“

 

„Du bist heute in einer wahrlich eigenartigen Laune...“ Radagast blieb völlig ruhig und ließ die versteckten Vorwürfe einfach an sich abprallen.

Ich seufzte. „Tut mir leid. Es ist nur...“ Ich zuckte resigniert die Schultern und seufzte noch kläglicher.

„Ich weiß“, lenkte der Zauberer ein, „ich weiß...“

 

~*~

 

 

zurück     weiter

 

 

Hauptseite

 

---