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Als wir drei weitere Tage später noch immer diesseits des Nebelgebirges entlangritten, glaubte selbst ich nicht mehr daran, daß der Hohe Paß unser Ziel war. Sagte ich bereits, daß ich etwas langsam im Denken bin? Sicherlich. Falls nicht, so wird der geneigte Leser dies spätestens jetzt bemerkt haben – vorausgesetzt er leidet an demselben Krankheitssyndrom...

 

Allerdings war mir nicht klar, was Radagast mit diesem Umweg bezweckte. Was konnte ihn dazu bewegen den Rothornpaß oder die Pforte von Rohan anzusteuern? Ich ging davon aus, daß er nicht so verrückt sein würde, uns durch die Minen Morias zu führen. Aber konnte ich mich wirklich darauf verlassen? So oder so ergab es einfach keinen Sinn. Wir schlugen in jedem Fall einen weiten Bogen nach Süden, der nur unnötig Zeit kosten würde. Wie paßte das mit unserem überstürzten Aufbruch von Bruchtal zusammen?

 

Ganze zwei Tage lang gab ich mich der unsinnigen Hoffnung hin, selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden. Dann streckte ich enttäuscht die Waffen. Mit einem auffordernden Schenkeldruck lenkte ich Brasfaloth neben den voranreitenden Zauberer. Das Pferd war so erschrocken über meinen plötzlichen Eifer, daß es aus seinem Gleichmut gerissen beinahe über die eigenen Beine gestolpert wäre. Auch Radagast sah erstaunt aus seinem geistesabwesenden Zustand auf.

 

„Hmm... wie ich sehe hast du dich endlich an das Reiten gewöhnt“, bemerkte er lobend.

„Wie? Oh, nein... nicht wirklich.“ Ich rückte mich wieder auf dem Pferderücken in Position, aus der ich durch den flotten Trab gerutscht war. „Ich glaube, wenn man eine gewisse Schmerzgrenze überschritten hat, spürt man einfach nichts mehr.“ Eine ironisch wegwerfende Geste unterstrich den schlechten Scherz. Tatsache war, daß Galvorns Salbe wahre Wunder bewirkt hatte.

 

„Also klär mich auf“, forderte ich, „Rothornpaß oder Rohan?“

„Rothornpaß.“ Radagast sah mich spitzbübisch von der Seite her, an als hätte er dieser Antwort am liebsten eine dämliche Bemerkung über meine Kurzsichtigkeit folgen lassen.

„Wieso?“

 

Er stöhnte ein wenig gelangweilt und deutete mit der ausgestreckten Rechten nach vorne auf eine bestimmte Stelle des Gebirges. „Siehst du die drei steilen Berggipfel dort?“

Ich verengte die Augen, als könne mir dies dabei helfen, besser zu sehen.

„Wo?“ fragte ich unnötigerweise, in der Annahme ich könnte vielleicht doch etwas erkennen, hätte ich nur die genaue Richtung.

„Direkt vor deiner Nase. Hast du denn keine Augen im Kopf?“ wetterte Radagast ungeduldig und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Hey!“ protestierte ich. „Du warst es schließlich der verlangt hat, daß ich meine Brille zuhause lasse!“

 

Ich versuchte, meine Arme beleidigt vor der Brust zu verschränken, als eine kleine Mulde und die damit verbundene schaukelnde Bewegung meines Fortbewegungsmittels diesen Plan durchkreuzten. Es gelang mir gerade noch rechtzeitig das Gleichgewicht zu halten, um nicht schon wieder einen unplanmäßigen Abstieg zu vollführen. Ja, ganz recht, schon wieder...

 

Radagast schenkte meinen Bemühungen nur einen kurzen Seitenblick und konzentrierte sein Augenmerk erneut geradeaus, auf die für mich hinter einem diesigen Schleier verschwindende Landschaft.

 

„Der vorderste und mächtigste der drei Gipfel ist das Rothorn. So benannt nach seinem rötlichen Gestein. Die beiden dahinter sind Silberzinnen und Wolkenkopf.“

 

„Warum nicht der Hohe Paß?“

Radagast brummte nichtssagend und ich formulierte die Frage neu.

„Er wäre der kürzere Weg zum Waldelbenreich gewesen.“

Diesmal klangen die Laute unter dem dichten Bart zustimmend.

 

Ich stöhnte theatralisch. „Jetzt werde ich dir mal eine deutsche Redewendung beibringen!“ drohte ich ihm, der mich seit vier Tagen in elbischen Sprichwörtern unterrichtete. Inzwischen unterhielten wir uns fast die meiste Zeit auf Elbisch, außer wenn mir die Geduld oder die Vokabeln ausgingen. Dann konnte es passieren, daß die wundervolle Sprache der Erstgeborenen mit stumpfklingenden deutschen Worten verunstaltet oder derben Kraftausdrücken gewürzt wurde. Oder beidem. So wie jetzt.

 

„Es heißt, sich die Worte aus der Nase herausziehen lassen.“

 

Radagast schmunzelte. Wissend. Entschied sich aber, noch eine Weile mit mir Katze und Maus zu spielen.

„Ist es nun der kürzeste Weg zum Düsterwald oder nicht?“ Langsam wurde ich wütend. Ich mochte es nicht, wenn man mich auf diese Weise hinhielt.

 

„Das kommt ganz darauf an, welches Ziel man anstrebt. Der Düsterwald ist sehr groß und langgestreckt. Nicht ganz so lang wie das Nebelgebirge, aber dennoch beeindruckend.“

 

Es bereitete Radagast sichtlich Freude, was mich noch weiter erzürnte. Ich holte bereits zu einer gesalzenen Strafpredigt Luft, während sich die Worte für meinen erregten Zustand zu langsam in meinem Kopf formten, als ich plötzlich inne hielt.

 

Hatte er von mehr als einem Ziel gesprochen?

 

„Ähm, Radagast? Da unten im Süden gibt es außerdem nur noch Dol Guldur...“, nuschelte ich unsicher und der Ärger war mit einem Mal verflogen. „Du willst doch nicht etwa...?“

 

„Neeein.“ Er dehnte das Wort auf eine Art, daß nicht ganz deutlich wurde, ob es beruhigend oder sarkastisch klingen sollte.

 

Wieder folgte eine Pause. Der Zauberer blickte mit entrücktem Blick vor sich hin und ich verlor nun entgültig die Geduld.

 

„Du sagst mir jetzt sofort was du vorhast oder...“, schrie ich beinahe hysterisch und bekam den Zipfel seines Ärmels zu fassen.

Um meine Drohung zu untermalen zog ich ein paarmal ruckartig daran, ließ ihn dann jedoch freiwillig wieder los, weil ich die Hand zum Balancieren brauchte.

 

„Wir reiten nicht nach Dol Guldur.“

Ich atmete tief durch und tastete meine Stirn nach Perlen von Angstschweiß ab.

„Aber wir reiten auch nicht ins Waldelbenreich.“

„Reiten wir nicht?“ wunderte ich mich. „Aber...“

 

Radagast unterbrach mich mit einem tadelnden Blick, der mir beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Da war er wieder, der mächtige Maia, der sich hinter dieser unauffälligen Hülle verbarg. Keine Spur von Humor oder Zynismus war mehr an ihm und die Handbewegung, mit der er seine gereizte Laune untermalte, verbot jedes weitere Widerwort von selbst.

 

„Ich reite zu den Waldelben. Dich werde ich zuvor an einem sicheren Ort in Verwahrung geben.“

 

Oh weh! Das klang nach einem Schmuckstück, das man nach Belieben wegschließen und wieder hervorholen konnte. Und nicht einmal einem wertvollen. Betrübt zog ich eine Schnute, wagte aber nicht mehr, weiter nachzuhaken. Hier war einmal mehr jener magische Punkt erreicht, an dem Radagast eisern schwieg.

 

Überdies stellte ich fest, daß der Istar bisher immer nur soviel gesagt hatte, wie er mir ohnehin hatte mitteilen wollen, unabhängig von meiner Nachfrage und meinem Drängen nach Antworten. Langsam fiel ich wieder hinter ihm zurück.

 

~*~

 

 

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