---

 

 

„Radagast?“ Ich stützte mich mit den Händen auf dem Widerrist ab, um meine Kehrseite zu entlasten. Seit drei Tagen folgten wir nun bereits dem Lauf des Nebelgebirges in südlicher Richtung. Eine banale Erkenntnis, auf die ich mir wirklich nichts einbildete. Wenn man die Karte Mittelerdes auch nur halbwegs im Kopf hatte, konnte man gar nicht irren, solange sich das riesige Gebirge zur Linken befand. Selbst dann, wenn die Sonne auf dieser Seite der Mittelerdhälfte mittags im Norden stünde, hätte es an der Himmelsrichtung keinen Zweifel geben können.

 

Der Istar ritt wie stets einige Pferdelängen voraus. Das lag nicht etwa daran, daß mein Tier langsamer oder schwächer war, sondern weil ich wie ein nasser Sack auf seinem Rücken hing und bei jeder etwas stärkeren Erschütterung, wie dem mühelosen Überwinden eines größeren Steinbrockens, kläglich jammerte. Brasfaloth schien Mitleid mit meiner Unfähigkeit zu haben und bewegte sich so sanft wie ein gut geölter Schaukelstuhl. Dennoch war mein Hinterteil inzwischen so wund, daß ich das Gefühl nicht loswurde, meine Beckenknochen würden sich jeden Moment nach unten durchdrücken und ein Loch in meine Lederhose stanzen.

 

Alles was bei diesem Dauerritt herrlich war, war das Wetter. Die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel und kein Lüftchen wehte. Es war genau das Klima, das ich für einen gemütlichen Sonntagnachmittag im Garten auf der Liege mit einem Buch in der Hand bevorzugte.

Nichts tuend wohl gemerkt! Außer hin und wieder dem Umblättern einer Seite.

Es war eindeutig ungeeignet für körperliche Arbeit, auch wenn diese sich darauf beschränkte, sich mit letzter Kraft und Überwindung aller Muskelkrämpfe und Scheuerschmerzen auf dem Rücken eines Pferdes zu halten.

 

Radagast reagierte nicht auf meinen Anruf, was aber nicht heißen mußte, daß er mich nicht gehört hatte. So langsam war ich mit einigen seiner Macken vertraut. Deshalb rief ich ihn nicht nochmals an, sondern sprach einfach weiter.

„Ich dachte, der Hohe Paß befindet sich ganz in der Nähe Bruchtals. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß wir so lange auf dieser Seite des Nebelgebirges reiten müssen, um ihn zu erreichen.“

„Der Hohe Paß?“

„Naja, du weißt schon. Der, der Bruchtal und die Alte Waldstraße miteinander verbindet.“

 

Er hielt sein Pferd an und blickte sich mißmutig um. „Ich kenne den Hohen Paß“, brummte er.

„Hätte ja sein können, daß er tatsächlich anders heißt“, schmollte ich und verlagerte stöhnend mein Gewicht. „Radagast... ich kann nicht mehr. Wirklich nicht. Mir tun alle Knochen weh. Meine Beine fühlen sich an, als hätten sie zu lange in der Streckbank geklemmt, und mein Hintern brennt wie der ganze Schicksalsberg. Wenn wir jetzt keine Rast machen, laß ich mich einfach zu Boden fallen!“

 

Meine Drohung machte nicht den geringsten Eindruck auf den alten Mann. Er betrachtete nur kurz den Stand der Sonne und schüttelte ablehnend den Kopf.

 

„Wir haben noch zwei Stunden Sonnenlicht.“

„ZWEI Stunden? Das ist nicht dein Ernst!“ Empört richtete ich mich auf und sackte gleich darauf mit einem Schmerzenslaut wieder zusammen.

 

„Bitte, Radagast. Hab Erbarmen mit mir!“ klagte ich und setzte meinen treuesten Hundeblick auf. Dieser hatte zuhause nie versagt. Hier in Mittelerde mußte er seine zweite bittere Niederlage einstecken. Nach Lindor war es nun Radagast, der ihm widerstand. Das heißt... eigentlich konnte ihm damit noch immer kein Mensch widerstehen. Ich seufzte. Ich wollte wieder dahin, wo mein Leid echtes Mitgefühl hervorrief!

 

Als wir endlich anhielten, fiel ich wirklich zu Boden, doch nicht aus eigenem Antrieb. Ich zog um abzusteigen ein Bein mühsam herüber auf die andere Pferdeseite und konnte mich danach einfach nicht mehr halten. Mit einem dumpfen Aufprall landete ich ziemlich hart auf der Erde, drehte mich auf den Rücken und streckte alle Viere von mir. „Ich bin tot!“ Erschöpft schloß ich die Augen und rührte mich nicht mehr. Es war mir egal, daß ich mit einer Pohälfte auf einem spitzen Stein lag und ein dorniges Gestrüpp meinen linken Arm drangsalierte. Dann war da noch mein schmuckes neues Schwert, das sich unter meinen Beinen verklemmt hatte. Ich fuhr hoch. Bitte nicht! Bitte laß es heil sein! Hastig zog ich es hervor und inspizierte es eingehend.

 

„Mithril ist nicht deshalb so wertvoll, weil es leicht brechen oder verkratzen würde.“

Und er konnte doch Gedanken lesen!

 

„Am Ende des Dritten Zeitalters war es noch weit kostbarer als zuvor, weil die Minen in Moria stillagen, nicht wahr?“ flüsterte ich und fuhr ehrfürchtig mit einem Finger über die Breitseite der blanken Klinge. Es war lächerlich, aber ich hatte Angst, ich könnte es auf irgend eine Weise kaputt machen. Es gab nun einmal Momente, da traute ich mir alles zu. Selbst das Unmögliche. Hatte ich es doch sogar fertig gebracht, meine angeblich unzerstörbare Ceran-Kochplatte mit einem einfachen Spülschwamm zu beschädigen! Jeder hatte mir bestätigt, daß dies völlig ausgeschlossen sei und dennoch war sie von diesem Tag an ruiniert.

 

Ich blickte auf und sah Radagast fest in die Augen. Er grummelte eine unverständliche Antwort und entließ die beiden Pferde zum Weiden, nachdem er ihnen die Bindfäden abgenommen hatte.

 

„Oder?“ hakte ich nach.

Ein weiteres Brummen, gefolgt von einem betont ignoranten Stopfen der knorrigen Pfeife.

 

Nun, das war so gut wie eine Antwort. Ich ließ mich erneut zu Boden sinken und starrte in den Himmel. Soeben ging die Sonne im fernen Westen unter und färbte die wenigen Schönwetterwolken in ein orangenes Licht.

 

„Erzähl mir von Lindor“, bat ich nach einer Weile. In gespannter Erwartung zog ich ebenfalls mein Rauchwerkzeug hervor.

Radagast hob alarmiert eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts.

 

„Also gut, ich hab herausgefunden, daß er Galvorns Vater ist. Na und?“ verteidigte ich mich ein wenig zu hastig.

„So, hast du das.“

Diese stoische Geduld war zum Verrücktwerden! Mir war danach, Radagast an beiden Schultern zu packen und ordentlich durchzuschütteln! Mühsam zwang ich mich zur Ruhe und zog zweimal kräftig an meinem hypnotisierenden Pfeifenkraut. Schon besser. Entspannt drehte ich ihm den Kopf zu und grinste benebelt. „Nun?“

 

„Dir ist die Ähnlichkeit zwischen deinem neuen Reittier und Glorfindels Roß aufgefallen“, bermerkte der Istar statt dessen. Er setzte sich ein Stück entfernt von mir mit dem Rücken gegen einen glatten Buchenstamm und sammelte sich einen Moment, bevor er weitersprach.

„Brasfaloth stammt aus derselben Zucht.“

 

Ich richtete mich auf, um den Zauberer besser betrachten zu können, der wieder einmal eine seiner furchtbar nervtötenden Pausen einlegte.

 

„Er ist ein Geschenk des Elbenfürsten an dich.“

„Er ist...“ Vor Schreck ließ ich beinahe die Pfeife fallen. Glorfindel kannte mich doch gar nicht. Ich hatte während meines Aufenthaltes in Bruchtal nicht ein Wort mit ihm gewechselt! Außerdem fiel mir gerade ein, daß ich mich weder von ihm, noch von Elrond verabschiedet hatte! Ich errötete vor Scham und verwünschte meine Vergeßlichkeit. Es hätte sich nun wirklich gehört, mich wenigstens bei meinem Gastgeber – als solchen betrachtete ich Elrond wohl zurecht – für die mir erwiesene Freundlichkeit und die Unterkunft zu bedanken. Aber so war ich nun einmal. Ich stöhnte und schlug die Augen nieder.

 

Radagast hatte meinen stummen Gefühlsausbruch lächelnd verfolgt.

„Ich habe mir erlaubt, den beiden Fürsten in deinem Namen zu danken, da du bei der Eile unseres Aufbruchs unmöglich die Zeit dafür finden konntest.“ Er zwinkerte mir zu.

Oh, toll! Undankbar, eingebildet und ignorant waren noch die schmeichelhaftesten Bezeichnungen, die ich mir hierfür selbst gegeben hätte. Dann doch lieber vergeßlich!

Wieder einmal wünschte ich mir ein Loch zum Versinken. Ein bequemes, wenn das machbar war...

 

„Wieso?“

„Er ist ein enger Freund Lindors.“

„Glorfindel?“ Ich riß ungläubig die Augen auf. Wie lange hatte ich mich in Bruchtal aufgehalten? Fast ein halbes Jahr. Fünf Monate oder so. Irgendwie war ich beim Zählen der Tage durcheinander geraten. In dieser Zeit hatte ich die beiden nicht ein einziges Mal beisammen gesehen!

 

„Elben messen die Zeit anders als Sterbliche. Was euch als eine lange Zeitspanne erscheint, ist nur ein Wimpernschlag in ihrer Wahrnehmung.“

Ich verstand. Schmollend schob ich die Unterlippe vor. Ein weiterer Wimpernschlag und Liriel und Lindor würden sich nicht einmal mehr an mich erinnern...

 

„Die beiden kennen sich aus Gondolin“, sprach Radagast unbefangen weiter. „Lindor war einer von Glorfindels Hauptmännern. Er war auch einer jener Flüchtlinge, denen der Fürst auf der Flucht durch seinen Kampf gegen den Balrog das Leben rettete.

 

Nach seiner Rückkehr nach Mittelerde, lernte Fürst Glorfindel Lindors Sohn kennen, der gerade seine Kampfausbildung begonnen hatte. In Erinnerung an alte Tage und die Freundschaft zu seinem Vater nahm er Galvorn unter seine Fittiche. Er lernte schnell. Er erwies sich als sehr geschickt im Umgang mit allen Arten von Waffen und entwickelte sich zu einem hervorragenden Reiter.“

 

Radagast sprach, als wären seine Worte nicht an mich gerichtet. Sein Blick glitt in weite Ferne und folgte den Rauchkringeln auf ihrem Weg zur Auflösung.

 

Ich verhielt mich mucksmäuschenstill und wagte kaum zu atmen. Dies war eine Seite, die ich an meinem geliebten Babysitter gar nicht vermutet hätte.

 

Radagasts Blick verfinsterte sich und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort.

„Dann sollte er sich im Ernstfall bewähren. Eine Horde wilder Orks fiel in die Gebiete um Bruchtal ein und Glorfindel führte eine Schar seiner Männer an, um sie ins Gebirge zurück zu treiben. Bei dem Angriff stellte sich heraus, daß der junge Mann kein Blut sehen konnte...“ Er ließ die nähere Erklärung in der Luft hängen und atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Als er wieder zu sich kam, floh er beschämt in die Wildnis.

 

Glorfindel brachte ihn zurück in die Sicherheit Bruchtals. Doch von diesem Tag an war Galvorn nicht mehr derselbe. Er zog sich zurück. Mied jeden Kontakt mit seiner Familie und seinen Freunden. Erst als Elrond begann, ihn in der Heilkunst zu unterrichten, überwand er langsam seine Selbstzweifel. Es stellte sich heraus, daß er über außergewöhnlich ausgeprägte Kräfte verfügte.

Später bat er darum, in den Düsterwald gehen zu dürfen, da er behauptete, er könne seinen alten Freunden nicht mehr in die Augen sehen.

Er hat nie wieder über jenen Tag gesprochen, aber er hat die Schande bis heute nicht überwunden.“

 

„Wie lange ist das her?“ Ich hätte mich ohrfeigen können für diese Neugierde. Galvorn tat mir ehrlich leid, aber ich hatte einfach keinen Bezug zu ihm, der stärkere Gefühle gerechtfertigt hätte.

 

Radagast rechnete kurz in Gedanken nach.

„Ich bin mir nicht sicher. Aber das muß in etwa um das Jahr 2060 gewesen sein. Zu jener Zeit nahm die Macht des Bösen in Dol Guldur zu. Ungefähr 500 Jahre später bot er König Thranduil seine Dienste als Heiler an.“

 

„Und so lange trägt er diese seelische Last bereits mit sich herum?“ staunte ich. Und da behauptete man immer, die Zeit heile alle Wunden.

„Ein Sprichwort das nicht auf alle Wunden und nicht einmal alle Menschen zutrifft“, murmelte Radagast, „Elben hingegen vergessen niemals.“

 

Ich starrte ihn an. Niemals ist eine lange Zeit. Vor allem für jemanden, der unsterblich ist. Ich schluckte hart. „Wird er jemals darüber hinwegkommen?“

„Mit einer ganzen Meute affektierter Höflinge um sich, die ihn bei jeder Gelegenheit daran erinnern?“ staunte Radagast. „Wohl kaum.“

 

Er begann in den riesigen Taschen seines Gewandes herum zu suchen. „Edeldamen, die keine Ahnung von den Schrecken des Krieges haben und Adlige, die ihre Untergebenen für sich kämpfen lassen“, schimpfte er.

 

„Aber ich dachte Thranduil...“

 

„Ich spreche nicht von König Thranduil!“ Radagasts Augen glühten und ich schrumpfte unter dem stechenden Blick zusammen. „Ich rede von den Speichelleckern, die an seinem Hof herumlungern und seinen Staat mit ihren schönen Reden und schlechtem Beispiel vergiften“, grollte er. „Thranduil täte besser daran, sie nach Mordor zu jagen, anstatt großmütig ihre Launen zu ertragen!“

 

„Und wie denkt der König über Galvorn?“ wagte ich kaum zu fragen und hielt bange den Atem an.

 

Radagasts Stimme wurde milde und die dunklen Wolken über unserem Lagerplatz verzogen sich so schnell, wie sie gekommen waren. „Er achtet ihn als seinen Heiler und ich glaube, ganz heimlich schätzt er auch seinen Rat.“

 

Als ich aufblickte lag ein Schmunzeln um seine Züge.

 

„Den Rat eines Kindermädchen?“

 

„Sprich nicht so respektlos von Galvorn! Es war nicht Thranduil, der ihn dazu gemacht hat. Der König hat keine Kinder in diesem Alter.“

 

„Oh... Aber...“

 

„Kein aber!“ Es klang endgültig. Radagast zog etwas aus seinem Gewand und hielt es mir hin. „Diese Salbe hat Galvorn hergestellt. Ich denke, du wirst Verwendung dafür finden.“

 

Zaghaft nahm ich das kleine silbrige Döschen entgegen. Es war so groß wie meine Handfläche, blank poliert und mit wunderschönen Ornamenten aus rankenden Blüten verziert. Staunend betrachtete ich die Sorgfalt, mit der es gearbeitet war und drückte es instinktiv zärtlich an meine Brust. Es gehörte ihm! Ich lächelte dümmlich. Dies war das erste Zeichen, das ich von ihm erhielt, wenn es auch noch so gering war. Ein kleiner, schmachtender Seufzer entrang sich meiner Brust.

 

„Die Salbe ist hervorragend gegen die Art von Wunden und Verspannungen, die dich quälen“, zerstörte Radagast schonungslos die Romantik.

 

~*~

 

 

zurück     weiter

 

 

Hauptseite

 

---