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Estel war nur wenige Tage in Bruchtal geblieben, und ich hatte nicht erfahren können, wohin er von hier aus gegangen war.

>Ist er noch auf der Suche nach Gollum? Oder befindet dieser sich bereits in Thranduils Gewahrsam?< grübelte ich, während ich meinen heißen Tee schlürfte.

 

Etwas hatte ich aber doch herausgefunden. An einer abgeschiedenen Stelle des Parkes hatte ich Gilraens Grabstein entdeckt. Wann war sie nur gestorben? Ich glaubte mich zu erinnern, daß Bilbo ungefähr fünfzehn Jahre vor dem Ringkrieg nach Bruchtal gekommen war und Aragorns Mutter zu dieser Zeit noch lebte. Das brachte mich dann etwas näher an den kritischen Punkt heran, verriet mir aber eigentlich nichts wirklich Neues, jedenfalls nicht ohne die Kenntnis von Gilraens Todesjahr.

Es war von Anfang an ersichtlich gewesen, daß der Hobbit sich schon längere Zeit hier im Tal aufhielt.

 

Eine Weile hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Aragorn nach seinem Alter zu fragen. Ich grinste selbstironisch. Das hätte vielleicht einen falschen Eindruck erweckt. Dennoch hätte ich es tun sollen. Ich wußte nämlich, daß Aragorn zur Zeit des Ringkrieges siebenundachtzig Jahre zählte, hatte aber keinen blassen Schimmer, wie lange Bilbo durch Mittelerde gewandert war, bevor er sich hier niedergelassen hatte. Also würde die unverfänglichere Frage nach seinem Alter mir nicht weiterhelfen.

 

Noch einfacher wäre es für mich natürlich gewesen in Erfahrung zu bringen, im wievielten Jahr des dritten Zeitalters wir uns nun befanden. Theoretisch. Praktisch warf dies zwei Probleme auf. Zum ersten konnte ich auf Sindarin noch immer nicht weiter als bis Hundert zählen und zum zweiten wußte ich nicht mehr, in welchem Jahr der Krieg stattgefunden hatte, beziehungsweise ~finden würde. Peinlich. Aber wahr...

 

Ein vorwurfsvolles Räuspern richtete mein Augenmerk auf mein Vergehen. Ich befeuchtete meine Fingerspitze mit der Zunge, tupfte den Kuchenkrümel vom A-Tehta der Imperfektbildung und steckte ihn zu den übrigen halbzerkauten in meiner Mundhöhle.

 

„Bilbo? Was ist das hier für ein Zeichen? Das kenn ich nicht.“

„Welches? Das hier?“

„Nein, dieses da!“ Ich drehte das Buch herum und streifte dabei gefährlich die noch halbvolle Tasse.

„Das ist kein Zeichen“, erklärte der Hobbit nebenher, „das ist ein Fettfleck.“

 

WAS? Das durfte doch nicht wahr sein! Panisch unterzog ich die Stelle einer genaueren Untersuchung. Richtig. Und er verschmierte, wenn man hektisch mit dem Finger darüber rieb... Erestor würde mich umbringen!

 

Unauffällig schielte ich dorthin, wo Elronds erster Berater hinter einem Berg von Schriftrollen fast verschwand. Erestor war genau so, wie die meisten Fanfics ihn beschrieben. Verstaubt, langweilig und wahnsinnig sexy, wenn er wie jetzt mit griesgrämigem Blick über den Blattrand schielte. Ich winkte verklemmt und lächelte dümmlich.

 

Er hatte Bilbos Feststellung nicht gehört, was nur daran liegen konnte, daß dieser mit vollem Mund gesprochen hatte und vor lauter Schmatzen die Worte kaum verständlich gewesen waren. Mein Glück. Jetzt hatte ich eine Chance, den Klecks verschwinden zu lassen. Wobei wir wieder bei der Herausforderung zwischen Theorie und Praxis angekommen waren. Hätte der Fleck sich zu Anfang vielleicht noch entfernen lassen, hatte ich Tölpel es nun fertig gebracht, die Tinte der umliegenden Tengwar aufzuweichen und zu verschmieren.

 

Was tun? Immerhin war mein Leben ernsthaft in Gefahr!

 

Sorgfältig prüfte ich die Bindung. Sie war genäht und zwar mit einem ganz ähnlichen Stich wie meine Bettlaken. Ich stöhnte.

 

Bilbo kritzelte begeistert in seinem dicken, roten Buch. >Hin und wieder zurück< stand in großen Lettern auf der ersten Seite, wie ich jetzt wußte, ohne es lesen zu können. Ich stöhnte noch kläglicher.

 

Erestor sah herüber. Ich bedeckte unauffällig den großen braun-schwarzen Fleck mit der Linken und schob mit der Rechten die Tasse ein wenig beiseite wie um dafür zu sorgen, daß nur ja kein Tee auf das Buch tröpfelte. Dabei setzte ich meine naivste Unschuldsmiene auf und grüßte lächelnd zu dem Elben hinter dem Blätterstapel.

 

Er grummelte mißmutig, senkte den Blick auf seine Arbeit – Ratsch! Die Schandtat war vollzogen. Blitzschnell verschwand die Seite zwischen den Falten meines Gewandes und das Geräusch überdeckte ich perfekt mit einem großangelegten Hustenanfall, für den ich mich bezeichnenderweise seitlich von den wertvollen Schriftstücken weg- und Erestor meinen Rücken zudrehte.

 

Die Abtrennung war sauber. Niemand würde bemerken, daß hier eine Seite fehlte, wenn er nicht danach suchte. Jetzt konnte ich nur hoffen, daß auch keiner dieses Kapitel vermissen würde.

Oh Mist! Wahrscheinlich war ich gerade dafür verantwortlich, daß man in meiner Welt so wenig und Widersprüchliches über die Bildung der Vergangenheit wußte...

 

Dann stand er plötzlich in der Tür. Auf ebenso rätselhafte Weise, wie er damals in meiner Wohnung aufgetaucht war. Er mußte wohl ein schnelleres Reisemittel gefunden haben und war fast einen Monat früher dran, als wir ihn erwartet hatten.

 

Radagast sah angegriffen und müde aus und ebenso verstaubt wie Erestor. Wenn auch auf andere Weise. Und nicht annähernd so sexy...

 

„Hier drinnen ist rauchen verboten!“ Ui! Der düstere Bibliothekar konnte also doch reden! Ich schnaubte belustigt, weil mir die Situation irgendwie bekannt vorkam. Radagast murrte mißbilligend, ließ die Pfeife aber dennoch auf dem Säulenpodest zurück, bevor er eintrat.

 

„Das höre ich in letzter Zeit öfter“, maulte er und warf mir einen bösen Blick zu. Den kurzen Abstand zu unserem Tisch durchmaß er mit großen Schritten. „Wollen wir ein kleines Andenken mitnehmen?“

 

„Öhm... wir?“ tat ich einfältig und fluchte innerlich. Mußte er ausgerechnet jetzt kommen? Eigentlich hatte ich ihm doch bei seiner Rückkehr gehörig die Leviten lesen wollen. Von wegen mich einfach so lange allein zu lassen und mir wichtige Informationen vorzuenthalten und so. Und jetzt hatte er für seine Ankunft den denkbar ungünstigsten Moment der gesamten drei Monate erwischt! Naja, beinahe... Jedenfalls hatte er auf diese Weise den Spieß erfolgreich umgedreht. Wenn er jetzt schwieg, stand ich in seiner Schuld.

 

Ich weiß nicht, ob Istari Gedanken lesen können. Wirklich nicht. Aber er schwieg. Lächelte geheimnisvoll oder eigentlich eher unverschämt, stibitzte sich eines unserer Plätzchen und ließ sich auf dem freien Stuhl nebenan nieder. Eine Weile beobachtete er den Hobbit, dessen Nase tief in seinem Buch steckte und der den Ankömmling noch gar nicht bemerkt hatte.

 

„Man sagte mir, daß ich dich hier finden würde“, überging Radagast die für mich so heikle Situation, wobei er sich wieder der deutschen Sprache bediente. „Was macht dein Elbisch?“

„Och, ich komm ganz gut voran“, erwiderte ich wegwerfend, „gut genug zumindest um zu verstehen, daß hier niemand – und ich meine niemand – über mich Bescheid weiß! Nicht einmal Elrond!“ Ich funkelte ihn verhalten an, noch im Zweifel, ob mein Geheimnis bei ihm sicher war.

 

Radagast begegnete meinem Blick streng. „Du hast hoffentlich nicht zu viel Schmutz aufgewirbelt.“

„Staub.“

„Wie?“

„Es heißt Staub aufwirbeln. Nicht Schmutz.“

Einen Moment war ich unaufmerksam und verlor den Kampf um den letzten Keks.

 

„Es ist nicht leicht, so lange untätig herumzusitzen“, wich ich seiner Frage aus und stierte ins Leere. „Hättest du mich nicht vorwarnen können?“

„Du weißt es also?“

Ich grunzte zustimmend und konnte gerade noch verhindern, daß Radagast sich an meiner Tasse bediente. „Nimm die von Bilbo. Sein Tee wird sonst ohnehin wieder kalt.“

Radagast hob beide Augenbrauen und ertastete die Wärme des Getränks durch das Porzellan. „Bilbo wird tatsächlich alt. Früher wäre ihm das niemals passiert“, murmelte er und trank einen Schluck.

 

„Es tut mir leid, daß ich dich nicht besser vorbereiten konnte. Aber es war leider nötig, daß ich diese Reise unternahm. Ich hatte gehofft, deine Sprachstudien würden etwas langsamer voranschreiten.“ Er schmunzelte und zwinkerte mir entschuldigend zu.

 

„Ähm, wieso früher? Ich dachte, von euch Zauberern kennt sich nur Gandalf mit Hobbits aus.“

„Soo, dachtest du das?“ Radagast kicherte leise und wie es schien entweihte dies die ehrwürdige Stille der Bibliothek einmal zu oft.

Erestor begnügte sich nicht mehr damit tadelnd zu husten, sondern legte die Pergamentrolle beiseite und durchbohrte uns mit starrem Blick.

 

„Komm, laß uns nach draußen gehen“, forderte diesmal ich den Istar auf. „Hier ist stets schönes Wetter und dann können wir uns beide ein Pfeifchen stopfen.“

 

Kurz überlegte ich, ob ich den Hobbit stören sollte, entschied mich dann aber dagegen. Er würde schon merken, daß ich fort war. Radagast trank genüßlich den Tee aus und wenig später befanden wir uns in der freien Natur, zwischen Rosendüften und Vogelgezwitscher. Der Frühling war in Bruchtal eingekehrt. Ja, ganz recht. Erst jetzt und nicht bereits vor drei Monaten, wie ich fälschlicherweise angenommen hatte.

 

„Ich war in Lórien“, nuschelte Radagast, während er eifrig paffte, um seine beinahe verglühte Pfeife wieder anzufachen.

„Oh, in Lórien?“ tat ich ein bißchen zu erstaunt und erregte so seinen Verdacht.

 

Er brummte unzufrieden und verschwand für einige Zeit hinter einer dichten, erregten Rauchwolke. „Wie hast du es erfahren?“

 

„Tja, also, das ist so...“, druckste ich herum und schalt mich insgeheim einen Idioten. Auf gar keinen Fall durfte ich Radagast erzählen, daß ich Lindor eingeweiht und dieser sich wiederum mit Galvorn ausgetauscht hatte. Das hatte ich ihm schließlich versprochen und Versprechen sollte man einhalten. Eigentlich. Allerdings hatte ich mein Ehrenwort, das ich dem Istar gegeben hatte, gebrochen, und ich kann nicht sagen, daß ich stolz darauf war. Im Gegenteil. Aber zumindest konnte ich mich in diesem Fall darauf berufen, daß seine Angaben nicht besonders genau gewesen waren.

 

Mit der Zusage an Lindor verhielt es sich anders. Außerdem hatte er mir versichert, daß sein Sohn keinen Verdacht schöpfen und die einzige Auswirkung seiner Kontaktaufnahme mit ihm, Galadriels Unmut über die Nichtbefolgung ihres Befehls sein würde. Wie er das bewerkstelligt haben wollte, hätte ich zu gerne erfahren. Leider mußte ich statt dessen lernen, daß Lindor völlig unbestechlich und immun gegen die Überredungskünste einer Frau war. Er hatte mich eine Weile – eine sehr lange Weile – zappeln lassen und mir dann amüsiert mitgeteilt, daß ein Mann, der länger als sechstausend Jahre verheiratet gewesen, für meine verhältnismäßig unerfahrenen Bemühungen unempfänglich war.

 

Zum Glück hatte ich mir alle diese Gedanken schon früher gemacht, sonst wäre die unangenehme Pause, die ich damit verbrachte eine halbwegs glaubhafte Ausrede zu finden, noch länger ausgefallen.

 

„... ich meine, hab ich gar nicht. Aber wenn ich inzwischen nicht in Erfahrung gebracht hätte, daß wir uns zeitlich vor einem gewissen Ereignis befinden, müßte mir spätestens jetzt auffallen, daß Lórien sonst gar nicht mehr existierte, nicht wahr?“ versuchte ich schnell die Kurve zu kriegen, und „In welchem Jahr befinden wir uns eigentlich?“ lenkte ich weiter ab.

 

Radagast verengte die Augen zu engen Schlitzen. Er schien mir doch nicht ganz zu trauen. „Im Jahr 3017 des dritten Zeitalters“, erklärte er dennoch bereitwillig.

„Ah ja. Und wann sagtest du war nochmal – na du weißt schon.“

„Das weißt du nicht?“ Der Istar zögerte und verschluckte sich dann fast an einem halb unterdrückten Lachanfall.

„Ich kann mir Jahreszahlen nicht merken.“ Schmollend schob ich die Unterlippe vor und erstarrte. „Das Blatt!“

 

„Welches Blatt?“

„DAS Blatt! Es muß heruntergefallen sein, als ich aufgestanden bin! Ich muß...“, und schon rannte ich los, ohne den Satz zu beenden. Das durfte jetzt einfach nicht wahr sein! Sowas konnte auch nur mir passieren!

 

Keuchend stürzte ich kurz darauf in die Bibliothek, wo mein seltsamer Auftritt für die Aufmerksamkeit beider Anwesenden sorgte.

„Hab vergessen das Tablett aufzuräumen“, log ich hemmungslos drauf los und vermochte kaum meine Erleichterung zu verbergen, als ich meinen Fuß unbemerkt auf das Corpus delicti stellen und es so unter dem langen Gewand verstecken konnte. Betont langsam suchte ich Tassen und Teller zusammen.

 

Erestor vertiefte sich kopfschüttelnd in seine Studien und auch Bilbo begann nach einem leutseligen Gruß wieder zu schreiben. Ich schob den Stuhl ein wenig lauter an den Tisch, als es nötig gewesen wäre, um das Rascheln des Pergaments zu übertönen, als ich die Seite vom Boden aufhob und rasch zusammenknüllte, damit ich sie in der geschlossenen Hand verbergen konnte. Dann nahm ich das Tablett auf und machte mich schleunigst von dannen.

 

Ich fand Radagast in einer Efeu-umrankten Gartenlaube. Zu seiner Rechten saß ein bunter Vogel im wirren Geäst und zwitscherte ein fröhliches Lied. Sachte schob ich das Tablett auf den Tisch und beäugte den kleinen Sänger argwöhnisch.

 

„Du solltest es möglichst rasch vernichten wenn du nicht willst, daß Erestor dir doch noch auf die Schliche kommt“, stellte der Zauberer kühl fest und formte einen Rauchkringel, der sich wie die Schlinge eines Henkers um meinen Hals zu legen drohte. Unbehaglich wedelte ich den Dunst auseinander.

 

„Heißt das du wirst mich nicht verraten?“

„Wieso sollte ich dich in Schwierigkeiten bringen?“ Radagast wandte den Kopf langsam und irgendwie aussagekräftig zu dem gefiederten Kerl in den Zweigen. „Das schaffst du auch ganz ohne meine Hilfe.“

„Wie meinst du das?“ piepste ich und räusperte mich verlegen, um meine Stimme wieder in eine normale Tonlage zu zwingen.

 

„Hast du auch niemandem gesagt, woher du kommst?“

Auf diese direkte Frage war ich nicht vorbereitet, und wie stets, wenn ich mich schleunigst auf eine neue Situation einstellen sollte, versagte meine Koordination. Meine Hand begann nervös zu zucken und ich stotterte mir eine dumme Ausrede zusammen, die sehr viele >ähm< und wenig Sinn ergab.

 

„Hmm...“, war alles, was Radagast dazu zu sagen hatte. Aber dieses Brummen klang nach einem aus dem Winterschlaf geweckten, bösartigen Bären.

 

Ich zog denn auch sogleich den Kopf zwischen die Schultern und schloß entmutigt die Augen. Irgendwie machte ich alles falsch. Trotz meiner eher ungemütlichen Situation mußte ich zynisch grinsen. Wenigstens bewies mir dies, daß ich nicht träumte und auch in dieser fremden Welt die Alte geblieben war. Die Dummheit stirbt eben zuletzt.

 

Ein wenig überrascht war ich dann aber doch, als Radagast nicht weiter nachhakte, sondern seinerseits zu erzählen begann.

„Ich mußte herausfinden, was und wieviel Galadriel durch ihren Spiegel erfahren hat. Die Reise zu ihr duldete keinen weiteren Aufschub und ich wußte dich hier in Bruchtal in guten Händen. Den besten, wenn ich das einmal anmerken darf.“

 

Er paffte einige Male an seiner Pfeife und blickte in die Ferne. Seine Augen nahmen einen drohenden Glanz an und zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, welche Macht sich hinter diesem unscheinbaren Äußeren verbarg. Ich schluckte und fühlte mich mit einem Mal so klein und unwichtig wie noch nie zuvor in meinem Leben... und das will etwas heißen bei jemandem, der nicht gerade an Selbstüberschätzung leidet.

 

„Kannst du dir vorstellen was geschieht, wenn die Falschen davon Kenntnis erlangen, über welches Wissen du verfügst?“

„Das kann ich mir denken“, murmelte ich kleinlaut.

„So? Kannst du das?“ Ich fuhr zusammen unter dem schneidenden Blick und dem Grollen der Stimme. „Du kannst dir denken, was der Feind dafür geben würde, deiner habhaft zu werden? Du kannst dir denken wie es ist, wenn Mittelerde in die große Finsternis Seiner Herrschaft fällt?“

 

Die kurze Stille war nervenzerreißend und fast flüsternd fügte er hinzu: „Keine Ahnung hast du!“

 

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Wo war nur der nette alte Mann geblieben, den ich mit meinen spärlichen Vorräten durchgefüttert hatte? Der da neben mir saß war kein ulkiger, tierverliebter Narr. Das war ein Maia in all seiner Macht und Würde! Am liebsten wäre ich aufgesprungen und heulend fortgelaufen, aber eine unsichtbare Hand hielt mich auf meinem Platz. Dieselbe Kraft hinderte mich auch daran, etwas zu sagen. Es war, als wäre meine Zunge am Gaumen festgeklebt und schnürte mir jemand mit eisernem Griff die Kehle zu. Nicht einmal die Hand oder auch nur einen Finger konnte ich bewegen.

 

Nach einer endlos erscheinenden Pause fuhr Radagast fort.

„Galadriel hat von dir erfahren. Eru möge ihren Spiegel trüben! Sie weiß nicht, wie du aussiehst und wo sie dich finden kann. Aber sie weiß oder ahnt, daß ein Mensch durch die Welten gereist ist. Das hat ihre Neugierde angefacht.

Irgendwie hat sie in Erfahrung bringen können, daß Galvorn, des Königs Heiler aus dem Düsterwald eine enge Verbindung zu diesem Menschen hat und nun versucht sie durch ihn weitere Informationen zu erlangen.

Oh, diese Elbenhexe und ihr unseliger Wissensdurst!

Niemals darf sie etwas über dich in Erfahrung bringen!

Sie ahnt nicht, welche Folgen dies haben könnte!“

 

Längst hatte Radagast seine Pfeife beiseite gelegt und allmählich erstarb die Glut. Noch immer war ich keines Wortes mächtig.

 

„Die Vögel pfeifen es schon von den Bäumen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Späher des Dunklen Herrschers ihm diese Botschaft überbringen.“

 

Der Schreck war so gewaltig, daß es mir nun doch gelang, den Kopf in einem eckigen Ruck zu dem bunten Vöglein zu wenden, das noch immer ganz in der Nähe Radagasts saß. Es hatte aufgehört zu singen als der Istar zu sprechen begonnen hatte und putzte sich soeben sorgfältig das Gefieder.

 

„Dies ist mein Freund. Er begleitet mich auf meinen Wegen und er war es, der für mich diese Nachrichten gesammelt hat.“

 

Die Frage mußte in meinen Augen gestanden haben, denn er fügte erklärend hinzu: „Ich konnte nicht wagen, sie selbst aufzusuchen, denn niemand darf mich mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen. Also hielt ich mich am äußersten Saum des Waldes verborgen, während Aiwendil sich für mich umhörte.“

 

Aiwendil? Freund der Vögel. War das nicht Radagasts Beiname?

 

„Ein Übersetzungsfehler, weiter nichts“, bemerkte er gleichgültig und der Bann fiel von mir ab.

 

„Was könnte Galadriel durch Galvorn erfahren?“

Radagast stopfte seine Pfeife neu und erwiderte im Plauderton: „Keiner weiß im Voraus, was der Spiegel zeigen wird. Er ist tückisch. Aber ein einziges Bild von dir könnte genügen, die Zukunft wie wir sie kennen zu gefährden.“

 

„Vielleicht“, räumte ich ein. „Andererseits... Vielleicht könnten wir mein Wissen auch zu unserem Vorteil gebrauchen.“

Radagast schüttelte traurig den Kopf. „Dies ist die Vergangenheit, Elanor.“

„Ich verstehe nicht.“

„Wir befinden uns in der Vergangenheit Mittelerdes. Es war nur auf diese Weise möglich, dich hierherzubringen.“

„Wie kann das sein?“

Radagast schüttelte erneut den Kopf - eine Geste, die zu seinen bevorzugten zu zählen schien - als wolle er damit sagen, daß ich es ohnehin nicht verstehen würde.

„Wir dürfen die Vergangenheit nicht verändern. Dies würde weitgreifende Folgen auf die Gegenwart haben. Folgen, die niemand vorhersehen kann!“

 

Er hielt inne um nachzudenken. „Galvorn darf nicht hineinsehen!“ Er betonte jedes einzelne Wort.

„Ähm... vielleicht könnte... irgend einer der Elben hier es ihm verbieten. Du weißt schon über dieses“ – ich machte eine wage Handbewegung – „Osanwe-kenta.“

„Nein“, entschied Radagast, und ich erschrak über seine Heftigkeit. „Das ist zu riskant. Ich möchte nicht, daß eine Spur hierher zu dir zurückverfolgt werden kann!“

 

Auch das noch! Mir wurde übel. In diesem Fall war es unmöglich, mein Lindor gegebenes Versprechen zu halten. Ich schwankte noch einen Augenblick zwischen zwei Möglichkeiten, Radagast die grausame Wahrheit schonend mitzuteilen.

 

„Wir müssen selbst in den Düsterwald!“ beschloß dieser derweil.

„Und das ist unauffälliger?“ zweifelte ich und sah ihn mit großen Augen an. Hatte er >wir< gesagt? Sollte das heißen, ich mußte nicht hier in Bruchtal versauern, bis ich alt und grau war – oh, halt, das wurde ich ja jetzt ohnehin nicht mehr! – sondern würde endlich die Liebe meines Lebens kennenlernen? Konzentriert klemmte ich meine Zunge zwischen die Zähnen und verhinderte so, daß ich etwas weiteres sagen konnte, das Radagast von seinem glorreichen Einfall abbringen konnte.

 

„Ich bin unwichtig. Ich bin Radagast der Braune, der Einfältige. Radagast der Narr!“ Er lachte sarkastisch. „Niemanden wird es interessieren, wohin ich gehe, noch wer mit mir reist.“ Er betrachtete mich scheel von der Seite. „Es wird wohl besser sein, wenn ich dich nicht mehr aus den Augen lasse.“

 

„Dann ist das nur eine Tarnung, daß du dich nicht mehr für die Geschicke Mittelerdes interessierst?“ Eine rhetorische Frage. Dachte ich, weil ich immer noch nicht verstand.

„Nein“, murmelte er wie zu sich selbst und mit einiger Überwindung fügte er hinzu: „Ich war ein Narr.“

 

„Ah, verstehe.“ Ich rutschte auf der Bank herum als hätte mir jemand eine ganze Kolonie Ameisen unter meinen Hintern gesteckt. „Dann warst du wohl der einzige, der nicht anderswo gebraucht wurde und zu meiner Bewachung abgestellt werden konnte.“

In meiner Gekränktheit bemerkte ich gar nicht, wie verletztend meine Worte waren.

 

„Du fragst zuviel.“ Radagast erhob sich deutlich verstimmt und beendete das Gespräch somit entgültig. „Du weißt ohnehin schon mehr, als gut für dich ist.“

„Aber...“

„Kein aber. Wir werden morgen in aller Frühe aufbrechen.“

 

Morgen schon? Entgeistert starrte ich ihm nach, als er hinter einer blühenden Rosenhecke verschwand. Mußte dieser Mann es denn immer so eilig haben? Natürlich war ich froh, endlich ein Ziel vor Augen zu haben und nicht länger in der Ungewißheit zu leben. Aber daß ich die mir inzwischen vertraute Umgebung und meine neuen Freunde nun so Hals über Kopf verlassen sollte, kam mir dennoch ungelegen. Gerne hätte ich mit Bilbo zusammen meine Elbischkenntnisse verfeinert und mit Liriel die Anlagen Bruchtals weiter erkundet. Es gab noch so vieles zu sehen und zu lernen. Einzig die Handarbeitsstunden würde ich nicht vermissen.

 

Ich schmunzelte verträumt und pickte einen Kekskrümel vom leergeputzten Geschirr. Und Lindor... Ich spürte wie mein Blick jenen unbeschreiblich sentimentalen Glanz annahm, der mich in kitschigen Fernsehfilmen immer so verärgert hatte. Ich mochte Lindor. Sehr sogar. Vielleicht ein bißchen zuviel. Und genau deshalb mußte ich ihn warnen.

 

Sorgfältig legte ich mir die Worte zurecht, mit denen ich ihn von dem unterrichten wollte, was ich für nötig hielt. Ich vertraute fest darauf, daß er meine Informationen auf die rechte Weise nutzen würde.

 

~*~

 

 

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