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Während der Handarbeitsstunde war ich so unaufmerksam, daß Laineth mich frühzeitig entließ. Ich hatte nicht einen einzigen Stich richtig ansetzen können und mir so böse in den Finger geschnitten, daß die Wunde von einem Heiler behandelt werden mußte. Nachdenklich strich ich über den sauberen, weißen Verband und lenkte meine Schritte zielstrebig zu Lindors Gemach.

 

Ich hatte einen Entschluß gefaßt. Auch auf die Gefahr hin alles nur noch schlimmer zu machen, wollte ich Lindor reinen Wein einschenken. Als ich ihm erzählt hatte, woher ich kam und weshalb ich hier war, hatte ich einen eklatanten Fehler begangen, das begriff ich jetzt. Radagast hatte das Wesen meiner Person nicht ohne Grund allen gegenüber geheim halten wollen. Aber nun es einmal heraus war, war es besser, wenn ich ihm auch den Rest verriet, bevor sonst noch jemand davon erfuhr, redete ich mir ein. Und genau das würde der Fall sein, wenn Lindor in seinem Mißtrauen gegen mich einen anderen ins Vertrauen zog.

 

Vor seiner Tür angekommen atmete ich zunächst einmal tief durch. Dann klopfte ich. Keine Reaktion. Ich klopfte erneut. Wieder kam keine Antwort. Ich wollte mich bereits abwenden, als ich ein seltsames Kribbeln in den Fingern verspürte. Das ist nur die Wunde, die pocht ein bißchen, schob ich es beiseite, aber das unangenehme Gefühl blieb.

Kurz entschlossen öffnete ich einfach die Tür und trat energisch ein.

 

Lindor stand auf dem Balkon und regte sich nicht.

„Lindor?“ Ich ging auf ihn zu. „Lindor? Ich muß mit dir reden!“

Er bewegte sich noch immer nicht und ich befürchtete bereits, er könnte schon damit begonnen haben, jemanden einzuweihen. Aber etwas war anders als am Morgen, als er mit seinem Sohn Kontakt aufgenommen hatte. Wieder war er völlig in sich gekehrt, doch ohne daß sein Gesicht dabei eine solch unbewegliche Maske geworden war. Im Gegenteil arbeitete es sehr deutlich hinter seiner Stirn.

Ich zupfte ihn bettelnd an seinem Ärmel. „Lindor! Bitte! Ich muß mit dir reden! Es ist wichtig!“

 

„Willst du mir endlich die Wahrheit sagen?“ Er wandte den Kopf in Zeitlupentempo zu mir herum. Sein Blick war hart und bohrte sich unbarmherzig in meine Augen.

„Du hattest recht, ich habe dir etwas verschwiegen“, gab ich kleinlaut zu und war dankbar dafür, daß er mir seinen Triumph ersparte. Seine Züge wurden weicher und er geleitete mich zu einer kleinen Sitzgruppe.

„Also? Was ist es, das Galadriel erfahren möchte?“

 

Geistesabwesend fuhr ich mit dem Zeigefinger die Verziehrungen am Rand der Tischplatte nach. Dabei fiel mir auf, daß Lindor mich gar nicht auf meine Verletzung ansprach. Er will mir keinen Anlaß geben, vom Thema abzulenken, erkannte ich, schluckte mehrmals um mir Mut zu machen und fand dennoch keinen Anfang.

 

Lindor fühlte meine Unentschlossenheit. „Mir gefällt nicht, daß sie meinen Sohn dazu benutzen will. Also behaupte nicht, es ginge mich nichts an!“ drängte er.

 

„Tu ich nicht. Aber zuvor mußt du mir zwei Dinge versprechen, Lindor.“ Ich sah auf, blickte ihn fest an und ignorierte stur seine verärgerte Bemerkung.

„Du darfst niemandem etwas davon sagen. Weder von dem, was ich dir kürzlich mitgeteilt habe, noch von dem, was du heute erfahren wirst.“ Er nickte ernst.

„Und du mußt akzeptieren, daß ich dir nicht alles sagen kann.“ Wieder dieser lauernde Blick! „Lindor, glaube mir. Es geht nicht anders!“ Ich hielt die Luft an und irgend etwas in meinem Gesichtsausdruck oder meiner Stimme mußte ihn wohl von meiner Verzweiflung überzeugt haben. Er nahm meine verletzte Hand sanft in die seine und streichelte sie behutsam.

„Versprochen!“

 

„Ich vermute Galadriel ahnt, daß ich etwas über die Zukunft Mittelerdes weiß“, platzte ich nun heraus und preßte Augen und Zähne im Anschluß daran fest aufeinander. Ich ritt mich immer tiefer hinein, dessen war ich mir durchaus bewußt. Aber was hätte ich denn nur anderes tun sollen?!

 

„Was?“

„Genau das darf ich dir nicht sagen.“

„Woher?“

Ich verzog schwermütig die Lippen. „Würdest du mir glauben wenn ich dir sage, daß ich nicht nur durch die Welten, sondern auch durch die Zeit gereist bin und daß ich es in einem... ähm, einer Art Geschichtsbuch gelesen habe?“ Ich selbst würde mir solch einen Unfug nicht glauben!

„Wenn es die Wahrheit ist.“

„Es ist die Wahrheit.“

 

Lindor erhob sich, trat zum Geländer und starrte über das Tal. Was mochte in seinem Kopf vorgehen? Was war in meinem Kopf vorgegangen, als Radagast in meinem Eßzimmer aufgetaucht war? Das war noch gar nicht so lange her und trotzdem konnte ich mich kaum mehr daran erinnern. Die Vorurteile, die mich damals beherrscht hatten, hatten sich als falsch erwiesen und meine Besserwisserei als Dummheit. Kraftlos ließ ich Kopf und Schultern hängen und sackte völlig in mich zusammen. Die ganze Weisheit der Elben würde Lindor nicht davor bewahren, den gleichen Fehler zu begehen! Dachte ich. Ich sollte vielleicht versuchen, mein Denken einzustellen...

 

„Dann glaube ich dir“, sagte Lindor schlicht.

Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Ohren trauen sollte und öffnete mühsam die Augen, deren Lider heute mit Blei oder etwas ähnlichem gefüllt waren.

Der Elb lächelte einfach und nickte zufrieden. „Etwas in der Art hatte ich befürchtet.“

 

Hatte er? Nur am Rande bemerkte ich, wie mir die Kinnlade herunterfiel. Vielleicht war man in Mittelerde doch weit aufgeschlossener, als ich erwartet hatte.

„Ich gehe davon aus, daß das Wissen um unsere Zukunft und das Handeln danach, diese... nun, sagen wir ungünstig beeinflussen könnte?“

 

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wollte aber lieber nichts riskieren, ohne vorher mit Radagast darüber zu sprechen. Also nickte ich steif und mit zusammengebissenen Zähnen. Lindor nickte ebenfalls und machte keinen Versuch, weiter in mich zu dringen.

 

„Was jetzt?“ fragte ich hoffnungsvoll. Ich war bereit, mich in allem Lindors Willen zu fügen. Er war erfahrener und weiser als ich es jemals werden würde, und er hatte mir soeben bewiesen, daß er fähig war, diese heikle Situation einzuschätzen und damit umzugehen. Zumindest machte er diesen Eindruck auf mich oder ich wollte, daß er ihn erweckte, weil ich selbst nicht weiter wußte. Ich begann erbärmlich zu zittern.

 

„Wir warten auf Radagast.“ Lindor stieß sich vom Geländer ab und wanderte mit festen Schritten auf der Terrasse hin und her, beinahe wie ein Feldherr, der vor seiner Kompanie auf und ab marschiert. „Er muß gewußt haben, auf was er sich einläßt, als er dich hergebracht hat, sonst wäre er nicht so heimlich vorgegangen. Ich vermute, sein Besuch in Lórien steht in engem Zusammenhang mit der Wißbegierde Galadriels.“

Ich brummte zustimmend, nur halb bei der Sache. Es war schon bewunderungswürdig, wie dieser Mann so forsch auftreten und dabei kaum ein Geräusch verursachen konnte!

 

„Und jetzt mußt du mir etwas versprechen.“

„Alles was du willst, Lindor!“ versicherte ich eifrig und neugierig zugleich.

„Du sagst Radagast kein Wort davon, was du mir erzählt hast.“

 

Einige Herzschläge lang herrschte absolute Stille. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Mußten wir jetzt nicht alle zusammenhalten? Welchen Grund konnte Lindor haben, dies von mir zu verlangen?

 

„Weshalb?“

„Das weiß ich selbst noch nicht so genau“, gab Lindor leise zu und setzte sich neben mich. „Aber wenn du dieses Wissen wirklich bewahren willst, ist es vielleicht besser zu verschweigen, wer sonst noch die Kenntnis davon besitzt, daß du darüber verfügst.“

Das leuchtete mir ein.

 

„Und jetzt entschuldige bitte. Denn jetzt werde ich meinem Sohn einen Befehl erteilen und mögen ihm die Valar gnädig sein, wenn er den Wunsch einer Fremden, selbst wenn sie die Herrin des Goldenen Waldes ist und Galadriel heißt, über den seines Vaters stellt!“ Hinter dem bösartigen Glitzern seiner Augen, blitzte der Schalk.

 

~*~

 

 

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