Es war
einmal ein kleine neugierige Ratte, die so gerne und viel las, daß alle sie nur
„die Leseratte“ nannten. Ihre Tage verbrachte sie am liebsten bei ihrem Vater
in der großen Bibliothek. Ihr Vater war der Direktor der örtlichen Schule, und
er hatte sehr viele Bücher - große und kleine, dicke und dünne, mit festen
Einband und Taschenbücher, solche mit bunten Bildern, andere mit schwarz-weißen
Bildern und welche ganz ohne Bilder. Sie standen alle fein säuberlich in einem
großen Regal an der Wand.
Eines
Tages ging ihr Vater auf eine lange Reise. Da erlaubte er der kleinen Ratte,
während seiner Abwesenheit in die Bibliothek zu gehen, wann immer sie mochte.
Er stellte aber zwei Bedingungen: Zum ersten mußte die kleine Ratte ordentlich
mit den Büchern umgehen und sich zuvor die Pfoten waschen, um keine Fettflecke
auf den Seiten zu hinterlassen. Essen und Trinken waren in der Bibliothek
ohnehin streng verboten, und so mußte es nicht eigens erwähnt werden. Zum
zweiten sollte sie die Bücher nach dem Lesen wieder an ihren Platz stellen.
Kaum war
der Vater aus dem Haus, da machte es sich die kleine Ratte mit einem dicken
Wälzer auf der Fensterbank gemütlich. Und da sie so eine fleißige Leseratte
war, so dauerte es gar nicht lange, bis sie das Buch durchgelesen hatte.
Anstatt es nun jedoch zurück ins Regal zu stellen, ließ sie es auf der
Fensterbank liegen. Dies war bequemer, und sie kam schneller zu ihrem nächsten
Lesestoff, als wenn sie es zuvor zurück an seinen Platz gebracht hätte.
Aufräumen konnte sie schließlich später. Irgendwann.
Das neue
Buch legte sie einfach über das andere und auch mit dem dritten und vierten
verfuhr sie ebenso. So wurde der Stapel immer höher. Doch der Turm war schief,
denn die kleine Ratte hatte die Bücher so übereinander gelegt, daß sie jeweils
auf dem darunter liegenden sitzen konnte, und das aktuelle Buch dazu jedes Mal
ein Stückchen weiter nach hinten geschoben. Immer, wenn die kleine Ratte mit
einem neuen Buch ankam und über die entstandene Treppe nach oben huschte,
schwankte der Bücherturm ein bißchen mehr.
Es kam
natürlich, wie es kommen mußte. Die kleine Ratte hatte sich soeben einen
besonders dicken Schmöker aus dem Regal geholt und lief damit eifrig zu ihrem
gemütlichen Fensterplätzchen. Mit flinken Beinen lief sie ihren Turm hinauf,
als dieser plötzlich und ohne Vorwarnung zusammenbrach. Mit lautem Gepolter
purzelten da alle Bücher von der Fensterbank. Drunter und drüber fielen sie.
Das oberste zu unterst und das unterste als letzes hinterher und irgendwo in
dem ganzen Durcheinander die völlig erschreckte kleine Ratte.
Auf dem
Weg zum Fußboden flogen ihr die schönen Bücher um die Ohren. Sie versuchte
verzweifelt, sie von sich abzuhalten, doch es half nichts. Sie geriet mit den
Vorderbeinen zwischen die Seiten eines Bandes, wurde herumgewirbelt, dann fiel
das Buch wie ein Dach über sie. Mit hartem Aufprall landeten Ratte und Buch am
Boden, das Buch kippte zur Seite und klemmte dabei die Ratte zwischen seinen
Seiten ein. So steckte sie da. Der schwere Wälzer hatte ihren Körper
verschlungen und nur Kopf und Arme schauten oben, und Schwanz und Beine am
anderen Ende heraus. Die Ratte aber war völlig platt und erschlagen und froh,
mit dem Leben davon gekommen zu sein.
Und wenn
sie nicht gestorben ist...
©
Ithrenwen, Weihnachten 2016