Am frühen Morgen des ersten Wochentages, als eben die Sonne aufging.

 

 

 

Maria wog das irdene Gefäß in ihrer Hand und betrachtete es aufmerksam von allen Seiten. Obschon ihre Gedanken weder von diesem Behältnis gefesselt wurden, noch von dessen Inhalt, konnte sie ihren Blick nicht davon abwenden. Im Osten färbte ein schmales helles Band den Himmel und verkündete den nahen Aufgang der Sonne. Die Luft war klar nach dem reinigenden Gewitter, und in den Büschen am Wegesrand zwitscherten die Vögel vergnügt um die Wette. Dort vorne raschelte es im Gestrüpp, und ein flinker Hase flüchtete vor den drei Wanderern.

 

Die andere Maria, es war die Mutter des Jakobus, räusperte sich nervös. „Wer wird uns wohl den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“ fragte sie ihre beiden Begleiterinnen. Diese Frage hatten sie sich bereits gestellt, bevor sie beim Händler die Spezereien gekauft hatten, und sie hatten noch immer keine Antwort parat.

 

„Vielleicht könnte man die Wachen bitten...“ schlug Salome etwas unsicher vor.

 

Sie würden wohl keine andere Wahl haben, aber die Vorstellung, die Soldaten, die ihrem Herrn dies angetan hatten, um einen Gefallen zu bitten, behagte ihnen nicht.

 

Langsam zog sich der gewundene Weg den Berg hinauf, und schweigsam gingen sie weiter. Keiner von ihnen war wirklich nach Reden zumute. Zu sehr lastete noch das traurige Ereignis auf ihren Seelen.

 

Es war noch keine drei Tage her, da war ihr geliebter Herr grausam gefoltert und gekreuzigt worden und eines qualvollen Todes gestorben. Sie befanden sich jetzt auf dem Weg zu seinem Grab, um seinen Leichnam zu salben, und ihm so den letzten Liebesdienst zu erweisen.

 

Die Sonne schickte soeben ihre ersten Strahlen auf den Hügel, als die Frauen oben ankamen. Die Lichtung breitete sich deutlich vor ihnen aus. Doch sie sahen nicht, was sie zu sehen erwartet hatten: Den schweren Stein vor der Öffnung des Grabes und die beiden römischen Wachen zu beiden Seiten.

 

Wie erschraken die Frauen, als sie sahen, daß der Stein zur Seite gewälzt und die Soldaten verschwunden waren! Was hatte das zu bedeuten? Schnell liefen sie hinzu und gingen ohne zu zögern in das Grab.

 

Da sahen sie zur Rechten einen Jüngling sitzen, angetan mit einem weißen Gewand.

 

Die Frauen verwunderten sich, denn sie hatten nicht erwartet, jemanden hier vorzufinden. Dann erhob sich der Jüngling und sie wichen erschrocken zurück, denn schien er auch jung an Jahren zu sein, so war er doch ein Mann, mit der Gestalt und dem kühnen Blick eines Kriegers.

 

„Fürchtet euch nicht!“ beruhigte er sie. Fast immer waren dies die ersten Worte, die er und seine Brüder an die Menschen richteten, wo auch immer sie ihnen erschienen. Gewöhnliche Sterbliche erschauderten vor dem Anblick dieser mächtigen Geister, selbst wenn sie in menschliche Gestalt gekleidet waren.

 

„Fürchtet euch nicht!“ sagte er noch einmal. „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden und nicht mehr hier. Seht den Ort, wohin sie ihn gelegt hatten. Geht hin und sagt seinen Jüngern und dem Petrus, daß Er euch nach Galiläa vorausgeht.“

 

Salome schlug aufjauchzend die Hände vor den Mund. Auch die beiden Marias freuten sich sehr. Sie nahmen sich gar nicht die Zeit, dem Engel für seine frohe Botschaft so recht zu danken, denn sie waren so erfüllt von Glück, daß sie davon schnellstmöglich den Jüngern des Herrn mitteilen wollten. Rasch liefen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren - jubelnd und weit weniger schweigsam, als auf dem Hinweg.

 

Der Engel schmunzelte. Seine Wahl war gut getroffen. Durch diese Frauen würde die Nachricht von der Auferstehung des Herrn viel schneller verbreitet, als wenn er sie in die Hände der eher mundfaulen Männerschar gelegt hätte.

 

 

 

Hauptseite

 

---

 

© 25. März 2016