Ochs und Esel

 

 

 

Der alte Esel verdrehte seine langen Ohren wie Windmühlenflügel und reckte den dürren Hals so weit es ihm möglich war über den hölzernen Balken, der die niedrige Viehunterkunft vom übrigen Teil des Stalles trennte.

 

„Da ist ein Kind!“ flüsterte er aufgeregt. „Wo kommt das Kind her? Als sie hereinkamen, waren sie doch zu zweit! Oder hast du ein Kind gesehen?“ Er blähte seine Nüstern ganz weit auf und schnupperte intensiv, als müsse die Antwort auf seine Frage in der Luft liegen.

 

„Du hast nicht richtig hingesehen“, kam die gelangweilte Antwort. „Ganz sicher hast du einfach nicht richtig hingesehen.“ Etwas regte sich in der dunklen Ecke, aus der diese Worte erklungen waren.

 

„Doch, hab ich!“ widersprach der Esel beleidigt. „Oh! sieh nur!“

 

Aus der Ecke erklang ein fragendes Gähnen. Offenbar war sein Stallnachbar jetzt doch ein wenig neugierig geworden.

 

„Sieh nur!“ hakte der Esel entzückt nach. Er mußte etwas Wundervolles sehen, denn seine rauhe Stimme klang ungewöhnlich weich. Aber er machte keine Anstalten, eine Erklärung folgen zu lassen.

 

„Was denn?“ verlangte der andere jetzt mürrisch zu wissen, erhielt aber keine Antwort. Der Esel stand wie gebannt und starrte mit lang ausgestrecktem Hals und gerade vorausgerichteten Ohren auf das Menschenpaar, das vor einiger Zeit, völlig durchgefroren, in ihrem Stall Zuflucht gesucht hatte.

 

Nun wurde es dem anderen zu bunt. Schnaufend erhob sich eine schwere Masse im Halbdunkel, und langsam kam er nach vorne ins Licht. Ein Ochse war es. Groß und ausgezehrt und nicht weniger alt - und nicht ansehnlicher - als der dürre Esel.

 

Er schlurfte neben seinen Kumpel und folgte dessen Blick. „Oh...“ kam es unerwartet sanft aus dem grobschlächtigen Maul.

 

Da lag ein kleines Kind inmitten ihrer Futterraufe! Aber es war nicht etwa die Unerhörtheit einer solchen Zweckentfremdung, die die beiden so staunen ließ. Das Kind war so wunderschön und strahlte trotz der Kälte, der ärmlichen Bettstatt und der traurigen Umgebung eine so große Freude und Zufriedenheit aus, daß es das Herz der beiden Tiere erwärmte, die eine lange Weile nur da standen und vor Begeisterung synchron die Ohren verdrehten.

 

„Wir wollen ihm eine Freude bereiten!“ schlug der Esel schließlich vor. Der Ochse nickte zustimmend.

 

„Ich werde ihm mein schönstes Lied singen!“ kam dem Esel in den Sinn, und sogleich fing er begeistert an, lautstark seine Stimme zu erheben.

 

Kaum hatte er die ersten Töne hervorgebracht, da schlug ihm der Ochse empört ein Horn seitlich an den Hals. „Willst du wohl ruhig sein?! Vergraule die armen Leute doch nicht mit deiner häßlichen Stimme!“

 

Beleidigt schwieg der Esel.

 

„Ach, könnte ich doch zu ihm hinübergehen“, überlegte der Ochse, „Würde dieser Balken mich nicht davon abhalten! Dann würde ich ihm die Fliegen vertreiben.“

 

„Doch nicht etwa mit deinem schmutzigen Wedel!“ erschrak der Esel.

 

„Schmutzig?“ empörte sich der Ochse.

 

Und so ergab ein Wort das andere, bis beide sich schließlich die wildesten Schimpfwörter an den Kopf warfen, von denen „Dummer Ochse“ und „Dämlicher Esel“ noch die harmlosesten waren.

 

Josef seufzte. Es war schlimm genug, daß er seiner Gemahlin keine anständige Herberge hatte besorgen können, und sie hier in dem schmutzigen und zugigen Stall ihr Kind hatte zur Welt bringen müssen. Aber dieses ohrenbetäubende Geschrei der beiden Tiere, war noch weniger zum Aushalten. Er warf den beiden einen mahnenden Blick zu.

 

Maria lächelte verstehend. Beruhigend legte sie ihm eine Hand auf den Arm und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Kind.

 

Der Knabe lag in seiner Krippe und betrachtete traurig den Streit der beiden alten Freunde.

 

Die waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie es zunächst nicht bemerkten. Dann streifte der Blick des Esels das Kind. Mitten im Satz hielt er inne und starrte. Der Ochse, auf diese Weise aufmerksam gemacht, tat es ihm gleich.

 

Diese Traurigkeit. Die kam nicht allein von dem Lärm, der das Kind belästigte. Es war... ja, es war als ob...

 

„Denkst du, es versteht uns?“ raunte der Esel mit schiefgelegtem Kopf ganz dicht an des Ochsen Ohr, ohne dabei den Blick von dem Kind abzuwenden.

 

Der Ochse blinzelte verwirrt. „Hast du das gesehen? Mir war, als hätte es soeben bestätigend genickt.“

 

„Unsinn!“ flüsterte der Esel. „Jetzt, jetzt hat es den Mund zu einem traurigen Lächeln verzogen, als ob es mir widersprechen wollte...! Aber wie kann das sein?“

 

„Weiß ich nicht“, brummte der Ochse.

 

„Warum es wohl so traurig ist?“ fragte sich der Esel.

 

„Weil wir einen solchen Lärm veranstalten“, mutmaßte der Ochse.

 

„Aber jetzt sind wir doch ganz leise“, hauchte der Esel so sanft, daß sein Kamerad die Worte kaum erahnen konnte.

 

Eine Weile standen sie beide schweigend da und beobachteten das Kind. Das sah sie flehend an, und plötzlich begriffen sie.

 

„Es will nicht, daß wir uns streiten!“ erkannten beide zur gleichen Zeit.

 

Der Esel wäre am liebsten puterrot angelaufen, wenn ihm dies möglich gewesen wäre. Er dachte an die bösen Worte, die er seinem Freund an den Kopf geworfen hatte.

 

Und dem Ochsen ging es nicht anders, als er an die eigene Wortwahl dachte.

 

„Tut mir leid!“ preßte der Esel zwischen den Zähnen hindurch. Er meinte es ehrlich, auch wenn es ihm schwerfiel, seinen Fehler zuzugeben.

 

„Wir wollen uns wieder vertragen!“ stimmte der Ochse ihm bei, und gestand damit seine eigene Unvollkommenheit ein.

 

Um ihre guten Absichten zu unterstreichen, schob der Esel dem Ochsen ein Häuflein frisches Heu zu, und der Ochse wedelte dem Esel sanft ein paar Fliegen von seinem Rücken.

 

Stille kehrte ein.

 

Die Tiere standen versöhnt nebeneinander und betrachteten mit leuchtenden Augen das Kind.

 

Das Christkind aber, lächelte die beiden dankbar und strahlend an.

 

 

Hauptseite

 

---

 

© Ithrenwen, Weihnachten 2019