Gylthains Traum

 

 

 

Seine Gedanken schweiften ab. Es war nicht so, daß er die Unterstützung seiner Berater nicht zu schätzen gewußt hätte. Er war dankbar dafür, von solch fähigen Männern umgeben zu sein, die sich in der Staatführung auskannten. Im Gegensatz zu ihm. Er hatte sich nie mit diesen Dingen auseinandergesetzt. Er war ein Krieger. Ein Anführer. Kein Regent.

 

Ein Seufzen entrang sich der Brust des jungen Königs, als sein Blick zur Fensteröffnung hinausglitt. Seine Handwerker hatten im letzten Jahr mit Unterstützung der Zwerge vom Erebor die Goldene Halle in Meduseld wieder aufgebaut. Doch ihren Namen verdiente sie nicht. Nicht mehr. Oder noch nicht.

 

Er trat an die Öffnung und legte die Hände auf die scheibenlose Fensterbank.

 

Seine Geste mißdeutend, bemühte Guthláf sich zu erklären: „Frau Baraz ließ uns eine Nachricht zukommen, in der ihre Landsleute versprachen, das Bergkristall für die Scheiben...“ Gylthain winkte ab. Zwang sich zu einem Lächeln und nickte Forthond zu, in seinem Bericht über den Wiederaufbau der Westfold fortzufahren.

 

Der alte Invalide räusperte sich, durch die Unterbrechung aus seinem Konzept gebracht, und setzte an einer Stelle mit seinen Erläuterungen wieder ein, von der Gylthain nicht sagen konnte, ob seine Worte an einen unvollendeten Satz anschlossen, oder einen Teil davon wiederholten.

 

Der Herr der Mark ließ sich auf seinem Thron nieder und bemühte sich, Interesse zu zeigen. Zuzuhören. Zu verstehen, was sein Berater ihm zu erklären suchte. Doch seine Gedanken gingen erneut auf Wanderschaft.

 

Was kümmerte ihn in einem solchen Moment die anstehende erste Ernte nach dem Wiederaufbau des Landes! Sicher, es waren harte Jahre gewesen, in denen der karge, ausgelaugte Boden keine Früchte hergegeben hatte. Sie waren vollständig auf die Hilfe der Elben aus Mithlond und die Unterstützung aus dem Süden Gondors angewiesen gewesen. Es war gut, wieder unabhängig zu sein. Für sich selbst sorgen zu können.

 

Und Gylthain konnte stolz darauf sein, was sein Volk in diesen Jahren geleistet hatte. Dennoch wollte sich keine Freude bei ihm einstellen. Nicht seit der Nachricht, die er am Morgen erhalten hatte.

 

Er hatte versucht, es ihm schonend beizubringen. Nicht in den unbeholfenen Worten, die über Gylthains Lippen gekommen wären. Er hatte lange gebraucht, bis er zu dem Grund seiner ausführlichen Schilderungen gelangt war. Doch das Ergebnis war das gleiche und keine noch so wohl gesetzten Worte konnten es schönreden. Keine wohlplatzierten Formulieren den Schmerz nehmen, den die Botschaft in seine Brust gebrannt hatte, keine Erklärung ihn lindern.

 

Sein bester Freund und guter Kampfgefährte trat seine letzte Reise an. Nun, zumindest die letzte, auf der er ihn würde begleiten können.

 

Gilthor ging in den Westen.

 

Erneut entfloh ein Seufzen Gylthains Brust. Wieder unterbrach Forthond seinen Bericht, und seine Berater sahen den jungen Herrscher fragend an.

 

Dieser erhob sich, völlig in sich versunken und die Anwesenheit seines Stabes ignorierend, und trat mit auf dem Rücken gefalteten Händen an das selbe Fensterloch, das eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn auszuüben schien.

 

Noch wenige Stunden, dann würden sie aufbrechen. Und wenige Tage, dann würde er ihn zum letzten Mal sehen. Zum letzten Mal für alle Ewigkeit!

 

Wirklich zum letzten Mal?

 

Gylthains Brust hob sich in einem schweren Atemzug. Seine Stirn zog sich in schmerzerfüllte Falten.

 

Ein lautes und freudiges Kindergeschrei drang von draußen in die Stille der großen Halle. Der Holzgriff der hellen Eingangstür ruckte ungleichmäßig einige Male, bevor er weit genug hinabsank, um die Verriegelung zu lösen. Ein dreijähriges Mädchen, auf Zehenspitzen und die nach oben ausgestreckte Hand hoch am Griff, den es mit Mühe hatte erreichen können, blickte schüchtern herein. Hinter ihr stand ihr zwei Jahre älterer Bruder, reckte den Kopf vor, um besser durch den Spalt sehen zu können. Ein Erkennen blitzte in seinen Augen auf und ohne sich durch die Anwesenheit der vielen vornehmen Männer beeindrucken zu lassen, schob er mit einem Schnaufen die schwere Tür weit auf, schlängelte sich um sein Schwesterlein herum und stapfte schnurstracks auf Gylthain zu, die Kleine an der Hand hinter sich herziehend.

 

„Papa!“ quiekte er schon von weitem, „sag du es ihr! Sag ihr, daß Túrin den Bösen am Ende doch noch verhaut!“ Eine energische Geste seiner rechten Hand, als hielte er ein imaginäres Schwert darin, mit dem er gegen einen unsichtbaren Feind kämpfte, begleitete die aufgebrachten Kinderworte.

 

Schon beim Anblick der beiden hatten sich Gylthains Gesichtszüge deutlich entspannt. Seine Augen glänzten in väterlichem Stolz. Auf die Forderung des empörten Knaben, lachte er herzlich. Er empfing die Kinder in gebückter Haltung und einladender Geste und hob sie beide zugleich mit einem schwungvollen Ruck auf seine Arme, wo das kleine Mädchen ihm sogleich um den Hals fiel und sein Gesichtchen in den Haaren des Vaters vergrub. Der Knabe legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn ungeduldig am Hemdkragen.

 

„Sag doch! Sag schon Papa!“ drängte er.

 

„Das ist schon richtig“, bestätigte dieser artig. „Am Ende aller Zeiten wird der böse Feind wiederkommen durch die Tür der zeitlosen Nacht...“ Irritiert unterbrach Gylthain sich selbst und blickte nachdenklich seinen Ältesten an.

 

Woher kannte dieser eigentlich die Geschichte über das grausame Schicksal der Kinder Húrins? Und wie kam er dazu, seiner kleinen Schwester davon zu erzählen? Sie waren beide noch viel zu jung für so brutale Erzählungen!

 

Doch da es nun einmal geschehen war, ließ sich nichts mehr daran ändern.

 

„Dann wird Túrin sein Schwert gegen ihn erheben“, fuhr er deshalb fort, „und der Schwarze Feind wird endlich sein gerechtes Ende finden.“

 

Túrin... Er würde an der Seite Tulkas’ und Fionwes kämpfen. Eines Vala und eines Maia...

 

Gylthain schob seinen Kopf in den Nacken und seine Augen glänzten feucht. Er bekam nur unterschwellig mit, wie der Knabe sich voller Begeisterung vor seiner Schwester damit brüstete, wie recht er doch behalten hatte.

 

Ein Mensch an der Seite der Mächtigen Valinors!

 

Es war nicht für alle Ewigkeit. Sie würden sich wiedersehen!

 

 

ENDE

 

 

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© Juli 2018