Urgroßmutter
Frederic
und Orgulas waren schon zwei reichlich unartige kleine Hobbitkinder. In ganz
Breth war nahezu nichts vor ihrem Schabernack sicher, weder der alte,
ehrwürdige Amtshut des Thain, noch die wohlbehüteten Hühner von Primula
Haferstroh. Dennoch waren die beiden pausbäckigen Lockenköpfe im ganzen Dorf
beliebt, denn sie verstanden es mit ihren liebenswerten Streichen und ihrer
warmherzigen Art, die Gemüter der Dörfler zu erheitern. So sah man gerne einmal
mit einem Lächeln darüber hinweg, wenn die Lausebengel den Klöppel der
Gemeindeglocke versteckten oder dem Gockel einen Becher Gebrautes zu trinken
gaben, so daß dieser am nächsten Morgen den Sonnenaufgang verschlief – und das
ganze Dorf mit ihm.
Frederic
und Orgulas hatten eine Urgroßmutter, die sie beide abgöttisch liebten, denn
Urgroßmutter hatte viel Geduld und immer Zeit für sie.
Urgroßmutter
ging schon so gebeugt, daß ihre von harter Arbeit krummen Beine sie kaum noch
tragen wollten. So saß sie beinahe den ganzen Tag, wenn die Jahreszeit es
zuließ und die Sonnenstrahlen Luft und Erde erwärmten, auf ihrer Liege im
Garten vor dem Haus und im Winter in ihrem gemütlichen, gepolsterten Lehnstuhl
am Kamin.
Urgroßmutter
war schon so taub, daß sie kaum noch etwas hören konnte, schon gar nicht den
Klatsch der Weiber, noch das Gezeter ihrer Männer.
Urgroßmutter
war schon so blind, daß sie gerade genug sah, um die Speisen vor sich auf dem
Tisch zu erkennen und ohne Hilfe mit ihren zittrigen Fingern zu essen.
Und sie war
schon so alt, daß alle sie nur „die Urgroßmutter“ nannten.
Im
Frühjahr und Sommer saß sie meist alleine und döste zufrieden vor sich hin,
während die Kinder sich bei vergnügten Spielen im Freien austobten und im
Herbst halfen diese ihren Eltern die Ernte einbringen. Aber im Winter, wenn es
draußen stürmte und schneite, versammelte sich an eisigen Abenden die gesamte
Dorfjugend um die alte Dame, um ihren Geschichten zu lauschen. Denn sie konnte
gar wundervoll erzählen und weil sie schon so lange gelebt hatte, verfügte sie
über einen schier unerschöpflichen Vorrat an seltsamen und abenteuerlichen
Anekdoten.
„Erzähl
und was von deinem Urgroßvater Hamfast“, bettelte Rorimac. Begeisterte
Kinderstimmen wurden laut und unterstützen das Anliegen des kleinen
Pummelchens.
„Das war
mein Ur-ur-urgroßpapa!“ erklärte Frederic altklug und zählte die „Ur“ dabei an
seinen dicken, von der eben genaschten Wurst fettigen Fingern ab.
Gormadoc
verdrehte die Augen, weil er dies jedes Mal sagte, wenn der Name des legendären
Abenteurers fiel.
„Onkel
Hamfasts bester Freund, hieß genauso wie ich!“ piepste Orgulas stolz.
„Ja, und
er war genaußo dick wie du!“ lispelte Rose dazwischen.
Urgroßmutter
bekam von der ganzen schnatternden Schar um sich herum, außer ihrer Anwesenheit,
nichts mit, weil sie zu taub war, um die quiekenden Stimmchen zu hören und zu
blind, ihre wilden und aufgeregten Gesten zu sehen.
Melilot
trat neben ihren Stuhl, stellte sich auf die Zehenspitzen, um möglichst nahe an
ihr Ohr heranzukommen und sagte laut, jede einzelne Silbe betonend:
„Wir
möchten eine Geschichte von Onkel Hamfast hören!“
Ein
sonniges Lächeln erhellte die verwitterten Züge der Alten, die unzähligen
Fältchen und Runzeln in ihrem Gesicht schienen sich ein wenig zu glätten und
ihr Blick strahlte plötzlich jugendliche Unternehmungslust aus. Sie faltete die
Hände in ihrem Schoß über ihrer großen, bunt bestickten Schürze. Im Kamin
prasselte ein warmes Feuer. Neugierige Schatten huschten über das Halbdunkel
des Gemaches und erweckten den Eindruck, als ob noch andere Zuhörer sich
hereingeschlichen hätten, geheimnisvoll und leise, Wesen, die nicht von dieser
Welt waren. Und als Urgroßmutter den Kopf hob, um über die Kinderschar zu ihren
Füßen hinwegzublicken, wie wenn sie durch Raum und Zeit hindurch sehen würde,
da war es, als ob selbst das Feuer verstummte, um zu lauschen und die
flüchtigen Schatten kamen zur Ruhe.
Mit
brüchiger und zittriger, aber nichts desto trotz begeisterter Stimme begann sie
zu erzählen. Ihre blinden Augen leuchteten, während sich die Geschichte, die
sie beschrieb, vor ihrem Geist ausbreitete.
„Es war einmal, vor vielen Jahren. Damals war unser
schönes Dorf Breth noch nicht so groß wie heute. Die Smials der Familien Goldblume
und Weidendorn am Ende der Straße, waren noch nicht erbaut und auf dem
Dorfplatz, dort, wo sie im letzten Frühjahr den neuen Apfelsetzling gepflanzt
haben, stand ein großer Baum, mit den herrlichsten Früchten, die ihr euch
denken könnt.“
„Warum
steht er nicht mehr da, Urgroßmutter?“ begehrte Orgulas zu wissen.
„Ssscht!“
Urgroßmutter
lächelte. Ob sie die Frage wirklich verstanden hatte, oder aus einer Eingebung
heraus sprach, weiß ich nicht.
„Er war
schon sehr alt, aber das mit dem Apfelbaum, das ist eine andere Geschichte.
Unsere Felder und Obstplantagen erstreckten sich nur
bis jenseits der Sommerhalde und dahinter gab es nichts als endlose grüne,
duftende Hügel. Wenn man dem Weg weiter folgte, viel weiter, als man an einem
Tag gehen kann, gelangte man an einen unglaublich großen Wald. Die Bäume dieses
Waldes waren dreimal so hoch, wie die alte Rindeneiche unten am Bühl und so
dicht, daß sie nicht den geringsten Lichtstrahl auf den Waldboden durchließen.
Niemand von uns hat sich jemals so weit über die Grenzen unseres Heimes
hinausgewagt. Niemand außer -“
„Hamfast
Gerstenbräu!“ tobte die junge Meute begeistert und diesmal konnte Urgroßmutter
gar nicht überhören, was sie gebrüllt hatten. Sie nickte zustimmend.
„Ja, das
ist richtig, liebe Kinder. Hamfast Gerstenbräu ist einmal mit seinem treuen
Freund Bôr –“
„Das war
sein Pony!“
„Ssscht!“
„– und
vier Gefährten in diesen Wald geritten. Doch auch dies ist eine andere
Geschichte und ich muß achtgeben, daß ich nicht von meiner abkomme.
Es war ungefähr fünf Tage, nachdem Hamfast den
dunklen Wald wieder verlassen hatte und er befand sich alleine mit Bôr auf dem
Heimweg. Die helle klare Frühsommersonne schien auf die beiden herab. Der junge
Mann ging neben seinem Pony her und erfreute sich an dem herrlichen Tag und dem
duftenden, saftigen Gras, das seine Füße wie ein weicher Flaum umgab. Keiner
von ihnen wußte so genau, wo sie sich gerade befanden, doch dies konnte den
gestandenen, welterfahrenen Mann nicht erschüttern. Denn Hamfast hatte als
kleines Hobbitkind immer vorbildlich den Belehrungen des Büttel zugehört und
war auch nicht faul gewesen, sie eifrig zu lernen. Deshalb wußte er auch, daß
Mitternachtsampfer nur weit im Norden wachsen kann und Mitternachtsampfer wuchs
dort, wenn auch spärlich. Und da unser Dorf zu weit südlich liegt, als daß es
hier welchen gäbe, so wußte er, in welche Richtung er sich wenden mußte. Zwar
kannte er den kleinen Bachlauf nicht, an dem er am Morgen erwacht war, wußte
aber, daß kleine Flüsse in große fließen. So folgte er dem Bächlein wohlgemut,
in der Überzeugung, daß er ihn früher oder später zum Großen Strom bringen
würde, dem er dann auf seinem Lauf nach Süden folgen wollte, damit er ihn
nachhause brachte.
Gegen Mittag des gleichen Tages erreichten sie eine
Stelle, an der das Wasser durch einige große, glatte Steine, die quer über das
Bett lagen, gestaut wurde. Es wurde dadurch in seinem munteren Lauf gehemmt und
bevor es hinter der Sperre hell glucksend herunterrann, stand es davor beinahe
still und war fast doppelt so tief, wie an seinen anderen Stellen. In diesem
ruhigen Becken schwammen einige wundervolle, regenbogenfarbene Forellen, und
Hamfast rieb sich erfreut die Hände.
>Bôr, mein Junge<, sagte er, mit einem
begeisterten Glitzern in den Augen, >dies wird ein herrliches Mittagsmahl
für mich, und für dich gibt es hier genügend saftiges Gras, an dem du dich
gütlich tun kannst.<
Er nahm seine große, lederne Umhängetasche von den
Schultern und stellte sie schwungvoll auf den Boden. Dann durchwühlte er sie
eifrig nach etwas, das sich zum Fischfang eignen würde. Ein kleines Stückchen
Draht, von dem er selbst nicht mehr recht wußte, wozu es einmal gedient hatte,
kam zum Vorschein, aber er konnte einfach keine Schnur finden. So nestelte er
seine wollene Decke vom Sattel, den er dem treuen Bôr natürlich bereits
abgenommen hatte, bevor das Pony zufrieden losgetrottet war, um sich ein paar
besonders schmackhafte Grashalme zu suchen, und löste geschickt einen Faden aus
ihrem Gewebe. Mit kundigen Fingern formte er eine kleine Hakenschlinge aus dem
Draht und befestigte ein Ende der Schnur daran. Leise wie ein Schatten legte er
sich mit dem Bauch auf den Boden am Ufer nieder und ließ den Haken ins Wasser
gleiten. Dann wartete er geduldig, bis eine Forelle angebissen hatte und zog
sie mit einem schnellen Ruck heraus. Er erhob sich, drehte sich um – und
erstarrte bis in die tiefsten Tiefen seines Inneren.
Vor ihm stand ein großer, furchteinflößender,
zottiger Bär!“
Das
ängstliche Einatmen und Luftanhalten der Kinder zerschnitt die Luft des Raumes
scharf wie ein Messer. Orgulas riß die Augen weit auf und rutschte noch näher
an Urgroßmutter heran. Diese hielt einen langen Moment in ihrer Erzählung inne.
So lange, bis die Spannung beinahe unerträglich wurde und man sie fast mit den
Händen greifen konnte. Dann fuhr sie mit einem verräterischen Schmunzeln fort.
„>Guten Tag!< sagte der Bär.
Hamfast lüftete wohlerzogen seinen breitkrempigen
Hut und schwenkte ihn großspurig, wie es seine Art war. >Hamfast
Gerstenbräu, zu Euren Diensten<, sagte er mit einem wonnigen Lächeln.
Aufmerksam musterten seine Augen das Wesen, das ihm gegenüberstand und
unmöglich ein wirklicher Bär sein konnte. Nicht, daß ich behaupten möchte,
Bären wären nicht so höflich, oh nein! Aber wie ihr wißt, liebe Kinder, können
Bären nicht sprechen.
>Verzeiht, wenn ich ungehörig erscheine<,
sagte Hamfast deshalb, als das Wesen nicht sogleich weitersprach, sondern ihn
ebenso verwundert musterte, wie er ihn, >aber gehe ich recht in der Annahme,
daß Ihr kein Bär seid?<
Das Wesen ließ ein solch tiefes, zustimmendes
Brummen hören, daß der tapfere Hobbit einen Moment lang an der Richtigkeit
seiner Deutung zweifelte, gab aber weiter keine Erklärung ab. Es warf einen
Blick über Hamfast hinweg in den Bach und es war so groß, daß es sich dafür
nicht einmal recken mußte.
>Schöne Forellen, nicht wahr?< schmunzelte es.
>Wie ich sehe, habt Ihr Euch schon bedient. Wenn Ihr für das nötige
Feuerholz sorgt, lade ich Euch ein und wir können gemeinsam speisen.<
Hamfast sah das Wesen mit großen Augen an. Er
begriff.
>Ihr habt den Fluß gestaut.< Es war keine
Frage, sondern eine vorsichtige Feststellung und er war sich bewußt, daß er in
diesem Fall eigentlich nicht das Recht gehabt hatte, hier zu fischen. Doch das Wesen
ließ nur ein weiteres, gutmütiges Brummen hören und gleich darauf sprang es mit
einem Satz in den Bach. Der seltsame Mann – Hamfast vermutete wegen der tiefen
klangvollen Stimme, daß es sich unmöglich um eine Frau handeln konnte, wußte
aber, daß es unschicklich gewesen wäre zu fragen – fing die Forellen mit bloßen
Händen und warf sie ans Ufer. Dies ging so schnell, daß Hamfast, der ihn eine
Weile mit Staunen beobachtete, kaum Zeit blieb, das Holz zusammenzutragen.
Einige Zeit später saßen die beiden schmausend
beisammen. Feorld, so hieß der bärenartige Mann, hatte eine solche Menge an
Fischen gefangen, daß sie beide rundherum satt wurden. Nach einem ausgiebigen
Nickerchen verabschiedeten sie sich freundschaftlich voneinander. Feorld
erklärte Hamfast, daß er wohl am Nachmittag des nächsten Tages den Großen Strom
erreichen würde. Und so setzten er und Bôr frohgemut und wohlgestärkt ihre
Reise fort.“
Stille
breitete sich im Raum aus, als das letzte Wort verklungen war. Orgulas war vor
Begeisterung immer dichter an Urgroßmutter herangerückt, hatte seine patschigen
kleinen Kinderhändchen in ihre Schürze gekrallt und war schließlich,
überwältigt von der Müdigkeit, mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen.
Vorsichtig
tastete die alte Dame nach dem Kind und fuhr ihm sachte durch die wirren
Locken.
ENDE
© 2007