Das Geständnis

 

 

 

Tindómerel saß im Gras am Ufer des kleinen, künstlich angelegten Teiches. Er war nur einer der vielen Gewässer und wunderschönen Plätze, die hier im Park zum Verweilen einluden. Aber er war der abgelegenste und versteckteste von allen.

 

Viele bunte Blumen umsäumten den Rand des Weihers. Erfüllten die Luft mit ihrem lieblichen Duft.

 

Zahllose Bienen summten. Flogen von einer Blüte zur anderen.

 

Einige Vögel sangen in den Büschen und Bäumen.

 

Außer diesen Lauten der Natur herrschte absolute Stille.

 

Es war ein friedlicher Ort und ein Anblick, der das Herz erfreute.

 

 

 

Die frische Morgenluft strich durch das hohe Schilfgras. Spielte mit ihren schwarzen Haaren. Zog leicht an ihrem Gewand.

 

Die junge Elbenfrau fröstelte. Noch dichter zog sie die Füße an ihren Leib und umschlang die Knie mit ihren Armen. Sie blickte geistesabwesend auf die glatte Oberfläche des Wassers und ihre Augen verrieten die große Angst, die ihr Herz wie eine eiserne Faust umfaßte und zu zerbrechen drohte.

 

Ein leichtes, raschelndes Geräusch hinter ihr ließ sie auffahren. Erschrocken und keines Wortes mächtig, starrte sie auf den Weg, den sie selbst, vor - sie wußte nicht mehr wie langer Zeit - gekommen war. Ihr Gesicht war bleich und eine ihrer Haarsträhnen hatte sich bei der plötzlichen Bewegung aus ihrer Frisur gelöst und hing nun anklagend über die Mitte ihrer Stirn an ihrem linken Mundwinkel herunter. Fasziniert betrachtete der Verursacher dieser Verwirrung die junge Frau. In dieser zarten Unordnung erschien sie ihm noch schöner, noch begehrenswerter als sonst.

 

Ihre vor Furcht geweiteten Augen klagten ihn an und riefen ihn in die Realität zurück. Was ihr stolzes Auftreten bisher nicht vermocht hatte, das erreichte der Anblick dieses schwachen und verängstigten Wesens, das nun vor ihm stand: Beschämt senkte er den Blick. „Verzeiht", murmelte er. „Ich wollte Euch nicht erschrecken." Unsicher hob er die Augen wieder, doch er wagte es nicht, den ihren zu begegnen. Langsam wandte er sich ab.

 

„Bleibt." Es war nur der leise Hauch eines Flüsterns, doch er hatte sein Ohr erreicht. Mitten im zaghaft angesetzten Schritt hielt er inne. Er spürte, wie sein Herz vor Freude zu zerspringen drohte. Es war das erste Mal, daß sie ihn angesprochen hatte. Das erste Mal, daß sie überhaupt Notiz von ihm zu nehmen schien, außer, um ihm mit einer eleganten Bewegung auszuweichen. Zögernd wandte er sich um. Richtete fragend seinen Blick auf sie. Sie, die Stolze, die Unnahbare, die stets mit unverhohlener Herablassung - nicht auf ihn hernieder, sondern an ihm vorbeigeblickt hatte. Hatte sie ihn wirklich aufgefordert zu bleiben?

 

Tindómerel ließ sich erneut auf dem Grasboden nieder und betrachtete einige Libellen, die einen munteren Reigen dicht über der Wasseroberfläche aufführten. Schien es nur so, oder amüsierten sie sich über die kleinen Fische, die immer wieder ihre Köpfe aus dem Teich hervorstreckten und verzweifelt versuchten, ein leckeres Mahl zu erhaschen? Das plätschernde Geräusch des Wassers, war alles, was eine zeitlang zu hören war.

 

Unschlüssig stand Galadhion an seinem Platz. Wagte nicht, etwas zu sagen, oder gar zu ihr zu gehen. Sollte er sie doch besser alleine lassen? Er atmete tief durch. Wozu war er ihr überhaupt gefolgt? Was erwartete er? Die Schreckensnachricht des Hohen Königs hatte sie hierher fliehen lassen. Sie wollte allein sein. Wollte das Erfahrene in Ruhe verarbeiten. Die Kraft finden ihre Angst zu bemeistern. Alleine. Ohne lästige Zeugen.

 

Der Blick des Elben wurde forschend. Er hatte nicht geglaubt, daß er sie einmal so sehen würde. Schwach. Verängstigt. In gewisser Weise unbeherrscht. Zerbrechlich. Was wollte er hier? Sich an ihrer Niederlage ergötzen? Sicher nicht. Würde sie Trost von ihm annehmen? Das noch weniger. Er hatte einfach einem inneren Drang nachgegeben, als er ihr gefolgt war. Über sich selbst verärgert schüttelte er den Kopf.

 

„Verzeiht", murmelte er noch einmal und wußte im selben Moment, wie töricht dies klang. Wieder wandte er sich zum Gehen.

 

„Nein. Bitte." Ihre Stimme klang jetzt lauter. Fester. Bestimmt. Und irgendwie warm. „Setzt Euch ein wenig zu mir", bat sie ihn, ohne sich umzudrehen.

 

Mit gemischten Gefühlen folgte Galadhion ihrer Aufforderung. Energisch sein Herz zur Gelassenheit mahnend. Nur jetzt nicht schwach werden. Nur jetzt nicht ihre Freundlichkeit und Rücksichtnahme falsch verstehen. Ein leiser Seufzer entrang sich trotz aller guten Vorsätze der Brust des jungen Waldelben.

 

Tindómerel hob den Kopf und sah ihn fragend an.

 

„Die Mitteilung der Hohen Herren hätte nicht unheilvoller ausfallen können", redete er sich ungewohnt ungeschickt heraus und bemühte sich, seine Augen nicht vor Scham niederzuschlagen. Scheinbar interessiert betrachtete er einen Zaunkönig, der in der bunt blühenden Hecke am anderen Ufer ein munteres Lied angestimmt hatte.

 

Seine Ausrede klang so aufgesetzt, daß ein schwaches Lächeln Tindómerels schwere Mundwinkel hochzog. Er brauchte sich nicht vor ihr zu verstecken. Schon vor langer Zeit hatte er ihr seine Liebe gestanden und sie wußte, daß sie nur seinetwegen in den Palast gebeten worden war.

 

 

 

Als ein Bote des Königs ihr an jenem Morgen die Einladung überreicht hatte, wäre sie vor Wut am liebsten aus der Haut gefahren und hätte rundheraus abgelehnt.

 

Doch eine Dame brüllte nicht, warf nicht trotzig Gegenstände durch die Stube oder brachte ihren Zorn auf andere gemeine Art zum Ausdruck.

 

Schon gar nicht einem Diener gegenüber. Einem Grauelben! Ein Grauelb stand - nach all dem, was man sie seit ihrer Kindheit gelehrt hatte - so tief unter ihr, daß sie für gewöhnlich zu stolz war, ihm auch nur in die Augen zu sehen.

 

Und die Einladung eines Königs - ihres Königs - schlug man ebenfalls nicht aus.

 

Mit unbewegter Miene und dem leicht angedeuteten Nicken ihres Hauptes, gefolgt von einer entlassenden, leicht fließenden Bewegung ihrer Hand, hatte sie dem Boten ihre Zustimmung zu verstehen gegeben und sich selbst dann nicht ihren Gefühlen hingegeben, als sie wieder allein gewesen war. Es schickte sich nicht. Man wußte nie, ob man nicht doch beobachtet oder gehört werden konnte. Niemals die Selbstbeherrschung verlieren, war das oberste Gebot. Äußerst gefaßt hatte sie den Brief zu ihrem Schreibpult gebracht, in eine Schublade geschoben und sich dann wieder ihrer Stickerei gewidmet.

 

 

 

Tindómerel zog ihre Knie erneut fest an ihren Körper. Wieder fröstelte es sie. Trotz der lauen Morgenluft. Und diesmal war der Grund dafür nicht mehr die Nachricht Gil-galads, die sie noch vor kurzem hatte erzittern lassen.

 

Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, glitt ihr Blick hinüber zu dem jungen Elben, der sich ein wenig steif und sichtlich verlegen in einigem Abstand von ihr niedergesetzt hatte. Die ganze Gelassenheit, die er seit ihrer Ankunft im Palast zur Schau getragen hatte, war dahin. Seine Augen schweiften unruhig über den Teich und hin und wieder schien er einen Kloß in seinem Hals möglichst unauffällig hinunterzuschlucken und nach den passenden Worten zu suchen, die ihm nicht einfallen wollten.

 

Ein wohlwollendes Lächeln legte sich über Tindómerels Züge. Noch vor kurzem hatte sie die Waldelben für ungehobelte, unzivilisierte Holzklötze gehalten. Es war nicht etwa die elegante Kleidung der Noldor, gegen die sie ihre einfachen, robusten Gewänder für ihren Aufenthalt in Mithlond getauscht hatten, die sie ihre Meinung ändern ließ. Nein. Sowohl Galadhion als auch sein Gefährte hatten ihr das Gegenteil bewiesen. Wiederholt hatten die Beiden sie durch ihre gewählte Ausdrucksweise und ihr höfisches Benehmen, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen verblüfft. Dies waren keine Barbaren, wie man sie seit ihrer ersten Lebensjahre hatte glauben machen wollen.

 

Galadhion spürte ihren Blick auf sich ruhen. Eine leichte Röte breitete sich gegen seinen Willen über seine sonnengebräunten Wangen aus und verlieh ihm ein seltsam reizvolles Aussehen.

 

Tindómerel sog die Luft scharf ein und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Wieso war ihr bisher noch nicht aufgefallen, wie attraktiv dieser Elb war? Verärgert über ihre eigenen Gedanken ergriff sie einen kleinen Stein und schleuderte ihn unmutig in den Teich, mitten zwischen die tanzenden Libellen, die mit einem ängstlichen Surren auseinanderstoben.

 

Galadhion ruckte auf und sah sie schuldbewußt an. „Ich wollte Euch mit meiner Anwesenheit nicht verärgern...", setzte er an, als ihm einfiel, daß sie selbst ihn darum gebeten hatte zu bleiben. Er brach ab und senkte den Blick. „Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe", murmelte er, zögerte jedoch sich zu erheben und zerbrach statt dessen das Ästchen, das er schon seit einer ganzen Weile in seiner Hand hin und her gedreht hatte.

 

„Ja, das wird wohl besser sein." Tindómerel klang nicht überzeugt. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie ihm das Gesicht zu und wollte ebenso plötzlich zu sprechen anheben. Doch sie öffnete nur den Mund, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Einige Herzschläge lang sahen sich die beiden Elben tief in die Augen. „Es tut mir leid, daß ich Euch mit solcher Verachtung begegnet bin", hauchte sie schließlich. „Ich hatte weder ein Recht noch einen Grund dazu. Bitte verzeiht!" Jetzt war sie diejenige, die beschämt den Blick senkte.

 

Galadhion saß wie angewurzelt. Fast schien es, als habe er vor Überraschung das Atmen vergessen. Schließlich ergriff er langsam und vorsichtig ihre Hand. Immer gewärtig, daß sie sie ihm entziehen würde. Doch das tat sie nicht. Ihre Augen suchten den Boden neben ihren Füßen und sie spürte, wie ihr heiß wurde und sich ein Kribbeln über ihren ganzen Körper ausbreitete.

 

Daß sie sich nicht gegen seine Berührung wehrte, ließ Galadhion kühner werden. Sachte hob er ihre Hand ein kleines Stück an, neigte sich zu ihr hinunter und näherte seine Lippen ihren jetzt zitternden Fingern. Sanft, kaum spürbar strich er darüber. Nur der warme Atem, der stockend seiner Nase entwich, verriet Tindómerel seine Nähe. Als er sich wieder zurückzog seufzte sie leise und schloß die Augen. Sie schämte sich, schämte sich für ihre Unbeherrschtheit. Was war nur los mit ihr? Alles in ihr rebellierte. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr einordnen. Konnte sie sich nicht eingestehen. Wollte sie sich nicht eingestehen.

 

„Ihr hattet das Recht der freien Noldo und als Grund meine dreiste Hoffnung." Galadhions Stimme klang warm und melodisch und aus seinen Augen strahlte die tiefe Liebe, die er zu dieser Frau empfand.

 

„Sie war nicht dreist!" Tindómerel hätte sich am liebsten geohrfeigt für diesen unkontrollierten Ausruf!

 

Galadhion lachte leise auf. „Dann darf ich hoffen?" Es lag nichts Anzügliches oder Höhnisches in seiner Frage. Nur die bange Zuversicht eines wider besseren Wissens Hoffenden. Das ängstliche Flehen eines unglücklich Verliebten.

 

„Das dürft Ihr", sagte Tindómerel einfach und lächelte ihn unsicher an.

 

„Ich danke Euch." Mit einem stummen Gruß neigte er den Kopf, erhob sich und zog sich leisen Schrittes zurück.

 

Tindómerel saß wie in einem Traum gefangen. Sie merkte nicht einmal, wie ihre Hände nach dem Schal tasteten, ihn langsam von ihrem Hals lösten und ins Gras sinken ließen. Ihr war mit einem Mal wohlig warm.

 

 

ENDE

 

 

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