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Es war ein grauer, nebliger Dezembermorgen. Die ganze Nacht hatte es geschneit, doch die weißen Flöckchen waren auf dem zu warmen Boden getaut und hatten schwammige Pfützen auf Wiesen und Wegen hinterlassen. In den frühen Morgenstunden war der Schnee in Regen übergegangen. Doch auch dieser war nun versiegt und alles was blieb, war eine unangenehm feuchte Kälte.

 

Ich stand auf meinem Balkon und blickte in das Tal hinab. Fröstelnd zog ich meine wollene Decke um die Schultern und blickte mich nach einem trockenen Sitzplatz um. Fehlanzeige. Ich murrte mein Unzufriedenheit vor mich hin und ging zurück ins Zimmer. Vielleicht sollte ich mir erstmal etwas überziehen und frühstücken gehen. Ein ordentlicher Happen zu essen und eine heiße Tasse Tee - dann würde die Welt schon viel weniger trübe aussehen.

 

Und vielleicht sollte ich ausnahmsweise einmal ein Kleid anziehen. Meine Hose hatte eine Wäsche dringend nötig! Nicht, daß ich sie in den letzten Wochen nicht ein paarmal gereinigt hätte, aber das letzte Mal war doch ein wenig länger her, als dem Kleidungsstück und meinem Aussehen darin gut getan hatten. Ich seufzte, als ich den kirschkerngroßen Rotweinfleck entdeckte und rollte die Hose zu einem Bündel zusammen, das ich mir bequem unter den Arm klemmen konnte. Im Schrank hingen eine ganze Reihe schicker Kleider, alle in meiner Größe, aber außer dem schlichten grauen und dem braunen hatte ich bisher keines davon getragen. Ich fühlte mich unsicher darin, wie in einer Maskerade.

 

Ich lächelte. Zwei Jahre in Mittelerde und es gab noch immer ein paar Dinge, an die ich mich nicht gewöhnen konnte. Wie dieses leise Kratzen an der Tür zum Beispiel. Konnte dieser Elb nicht einfach anklopfen, wie jeder vernünftige Mensch?

 

„Minno Lindor!“ rief ich energisch, und meine noch unausgeschlafenen Stimmbänder kratzten wie eine Mundvoll Wüstenstaub. Ich hustete und mußte mich hinsetzen, weil mir leicht schwindlig dabei wurde.

 

„Guten Morgen, Elli“, begrüßte mich mein früher Gast. „Du wirst doch nicht krank?“

Ich winkte ab und hustete weiter. „Nein, nichts passiert.“

 

Lindor musterte mich eingehend und setzte sich aufs Bett.

„Schau mich nicht so an.“ Genervt warf ich meine Bürste nach ihm. „Ich hab mich nur verschluckt. Ich hatte noch kein Frühstück!“

„Du hast dich verschluckt, ohne etwas zu essen?“ Lindor grinste amüsiert. Richtig. Dafür gab es in Sindarin zwei verschiedene Vokabeln. Das hätte ich wissen können. Ich stöhnte genervt.

 

„Die Gefährten brechen heute auf.“

„Ich weiß.“

 

Nachdenklich betrachtete Lindor mich.

„Du wirst ihnen doch nicht folgen?“

„Ich? Nein! Bewahre!“ Wie kam er bloß auf solch einen Unfug?

„Du hast in den letzten Tagen sehr viel Zeit mit ihnen verbracht.“

„Mehr als zuvor?“ wunderte ich mich. Nun gut. Ich mußte mir eingestehen, daß ich mich vor allem sehr um Bilbo gekümmert hatte - weshalb dürfte bekannt sein. Aber was hatte das mit Lindors Befürchtung zu tun? Der alte Hobbit war nicht einmal Teil der Gemeinschaft.

 

Ging hier sonst noch etwas vor, von dem ich nicht wußte? Unbehaglich stand ich auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Das Kratzen im Hals legte sich nach einem ausgiebigen Schluck.

 

„Nein, ich werde mich den Gefährten ganz sicher nicht anschließen“, bestand ich mit Nachdruck. Wer war ich denn? Eine Mary-Sue?!

 

Lindor seufzte. „Ich dachte nur.“

„Du dachtest nur - was?“

„Daß du wieder eine Dummheit begehen könntest.“

 

„Wieder?!“ Empört baute ich mich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften.

Lindor sah mir von unten in die Augen, lachte, ergriff meine Hände und zog mich zu sich heran. Mit einem uneleganten Plumps landete ich auf seinem Schoß, wollte mich verschämt wehren und fand mich im nächsten Augenblick in einer väterlichen Umarmung wieder.

 

„Ich würde dich anketten, wenn es sein müßte, weißt du?“

„Mußt du nicht.“

„Sicher?“

„Sicher!“

„Gut.“

 

Wohlig kuschelte ich mich an ihn, den ich eher als großen Bruder ansah, denn als Schwiegervater in spe. Es tat gut, seine Fürsorge und Liebe zu spüren.

 

„Oder hast du nur Angst, daß ich die Mission gefährden könnte?“ fragte ich keck.

 

Lindor lachte.

„Ich glaube, das wäre etwas viel verlangt - selbst für deine Tolpatschigkeit!“

 

Hmm...

Ich legte meinen Kopf zurück an seine Schulter.

„In ein paar Monaten werde ich dir - euch - alles erzählen können“, versprach ich und verspürte keine geringe Erleichterung über die Aussicht auf das Ende des unbequemen Versteckspiels.

 

Der Tag verging träge und langsam. Alle waren irgendwie beschäftigt. Alle außer mir. Die letzten Vorbereitungen für den Aufbruch der Gemeinschaft wurden getroffen. Die Hobbits waren den ganzen Vor- und Nachmittag verschwunden und erschienen nur kurz zum Mittagessen. Sie waren schweigsam und in sich gekehrt. Ich ahnte, wie ihnen zumute war. Vielleicht wurde ihnen erst jetzt bewußt, worauf sie sich da eingelassen hatten. Aber wenn dem so war, so wirkten sie kein bißchen unentschlossener als in den letzten Wochen.

 

Ich verbrachte die Zeit hauptsächlich damit, meine Geschichte auf den neuesten Stand zu bringen. Vor allem die deutsche Version, bei der ich weit schneller vorankam, weil mir die Tengwar noch immer nicht so flüssig von der Hand gehen wollten. Soweit möglich hatte ich es mir dazu in meinem Zimmer gemütlich gemacht. Aber so richtig wohlfühlen konnte ich mich an diesem Tag nicht. Durch die großen Fensteröffnungen, vor denen sonst jedes Wetter halt machte, zog es unangenehm. Oder bildete ich mir das ein? Die Öllampe auf dem Tisch flackerte unruhig und die Flamme, sonst traut und warm, wirkte kalt. Ich hatte sie bereits am Nachmittag anzünden müssen, weil es heute gar nicht richtig hell hatte werden wollen. Die Schreibfeder kratzte rauh über das scheinbar viel zu grobe Papier.

 

Endlich kam der Abend. Ich schrak auf, als ich einen lauten, klaren Ton vernahm. Drunten im Tal war er erklungen, und sein Echo wurde von den Felsen weitergetragen. Achtlos ließ ich die Feder fallen und eilte hinaus auf den Balkon.

 

Dort unten standen die Gefährten. Einfach und zweckdienlich gekleidet und ohne übermäßiges Kriegsgerät. Ein struppiges Pony wurde von Sam am Halfter geführt und trug die Verpflegung. Boromir hielt sein Horn in der Hand, und Elrond beendete soeben einen Satz, den er zu ihm gesprochen hatte. Der breitschultrige Mensch erwiderte ihm mit stolzer Haltung. Leider konnte ich kein Wort davon verstehen. Elrond nickte zustimmend. Er hatte dem nichts hinzuzufügen.

 

Viele Bewohner Bruchtals hatten sich im Hof zusammengefunden. Standen in den Schatten, beobachteten wie ich, schwiegen wie ich. Kein Lied. Kein Lachen. Stille herrschte über dem Tal, wie selten zuvor.

 

>Nicht einmal ein Vogel ist zu hören<, dachte ich und wie aufs Stichwort flatterte Aiwendil herbei und setzte sich mit einem Schweigen so laut, daß es mir unheimlich über den Rücken lief auf meine Schulter.

 

Alles wartete auf Gandalf. Als er endlich aus dem Haus kam, sprach Elrond zu der Gemeinschaft. Ich spitzte die Ohren. Vergeblich. Nach seiner kleinen Rede warf Gimli eine Bemerkung ein und es entwickelte sich ein kurzer Dialog zwischen ihm und dem Herrn Bruchtals, den ich ebensowenig verstehen konnte.

 

Endlich hörte ich Bilbo rufen:

„Viel... viel Glück! Ich vermute, du wirst kein Tagebuch führen können, Frodo, mein Junge, aber ich erwarte einen vollständigen Bericht, wenn du zurückkommst. Und bleibe nicht zu lange fort! Lebewohl!“*

 

Ich lächelte wehmütig. Der gute Bilbo!

 

Leise verdrückte ich eine Träne, als die Gefährten sich schweigend abwandten und in der Dämmerung verschwanden.

 

Fort. Sie waren fort! Alles war so schnell gegangen. Ich hatte noch gar nicht richtig begriffen, daß es passiert war. Ich stand auf dem Balkon und starrte in die dunkler werdende Nacht.

 

Die Gefährten waren fort und das Schicksal Mittelerdes lag in unbekannter Zukunft. So vieles konnte geschehen, das die Ereignisse, wie ich sie kannte, verändern konnte.

Ja... waren die Ereignisse überhaupt so, wie ich sie kannte?

 

Fröstelnd legte ich die Arme um mich. Machte keine Anstalten zurück in ins Zimmer zu gehen oder mir eine Decke zu holen.

 

Sie waren fort...

 

Wie lange ich so gestanden hatte, weiß ich nicht. Aber als ich schließlich aus meiner Lethargie erwachte, war niemand mehr da außer mir.

 

Ich wollte gerade wieder hineingehen, da vernahm ich Hufgeklapper vom Eingang der Talschlucht.

 

Lauschend trat ich einen Schritt näher zum Geländer und versuchte dort unten etwas anderes zu erkennen als ein schwarzes Loch inmitten all der Dunkelheit. Etwas bewegte sich. Möglicherweise war es auch Einbildung. Nein. Jetzt erklang der Hufschlag dumpf auf dem bemoosten Boden. Jemand war angekommen. Doch wer es war, vermochte ich nicht zu sagen. Ich sah rein gar nichts. Diesmal hätte mir nicht einmal meine Brille etwas genützt.

 

Das Pferd wurde unter mir vorbeigeführt. Ich hörte jetzt deutlich den Schritt des Reiters, der nebenher ging. Das Tier schnaubte und atmete schwer, wie nach einem langen, schweren Ritt.

 

Da kam auf einmal Leben in das stille Vögelchen auf meiner Schulter. Aiwendil tschilpte schrill, flatterte aufgeregt mit den Flügeln und war im nächsten Augenblick über das Geländer hinaus verschwunden, mit einem Tempo als wäre ein Habicht hinter ihm her.

 

„Aiwendil! Alter Freund!“ hörte ich da den Ankömmling lachen. Vor Freude wäre ich beinahe geradeaus gerannt, dem Vogel hinterher, als mir einfiel, daß ich doch lieber die Treppe benutzen sollte.

 

Radagast! Das war Radagast! Endlich!

 

Eilig hastete ich durchs Zimmer, den Flur entlang, die Treppe hinunter, durch den Eingangsbereich und ab durch das Haupttor.

„Radagast!“ rief ich, doch ich vernahm keine Antwort. Wo war er denn hin? Ich hatte kaum zwei Minuten gebraucht, um hierher zu gelangen. Ratlos lauschte ich in die Nacht.

 

„Radagast?“ Ein mißtrauisches Schnauben erklang zu meiner Linken.

 

„Hey Brauner! Na? Lange nicht mehr gesehen.“ Ich tastete mich zu ihm. Auf kurze Entfernung war es möglich zu sehen. Aber alles dahinter lag in undurchdringlichem Dunkel. Kein Licht brannte auf dieser Seite in den Räumen oder Hallen Bruchtals. Alles war wie ausgestorben.

 

Gerade rechtzeitig noch zog ich meine Hand zurück, als der Braune giftig nach mir schnappte.

 

„He-y!“ Empört erhob ich die Stimme. „Was soll das? Ich denke wir sind Freunde?!“

 

Doch Radagasts Brauner schien da ganz anderer Ansicht zu sein. Kaum hatte ich mich ihm erneut genähert, da drehte er sich um, und kickte nach mir.

 

Das war zu viel! Schimpfend wandte ich mich ab und machte mich auf die Suche nach dem Reiter, der hoffentlich besserer Laune war als sein biestiges Roß.

 

Radagast war wie vom Erdboden verschluckt. Ich suchte jeden Winkel des Hofes ab, und machte mich schließlich daran, die Anlagen zu erkunden. Auf der Rückseite des Tales lag die Halle mit dem großen dreigeteilten Fenster, in der wir uns so gerne am Abend zu Geschichten und Gesang versammelten. Dort oben brannte ein Feuer im Kamin und viele Kerzen warfen ihren heimeligen Schein hinaus in die Gärten. Hier fand ich Radagast, endlich, nachdem ich eine gefühlte Stunde nach ihm gesucht hatte.

 

Freudig wollte ich zu ihm laufen, da bemerkte ich, daß er im Gespräch mit jemandem war. Deshalb verlangsamte ich meine Schritte. Als ich näher kam, erkannte ich Galvorn.

 

Er stand stolz aufgerichtet vor dem Zauberer, mit vor der Brust verschränkten Armen und schwieg gerade.

Radagast hatte beide Hände beschwichtigend erhoben. „Aber... es ist der Wille Erus!“

 

Ich runzelte die Stirn und blieb stehen wo ich war. Worüber stritten die beiden?

 

„Eru hat uns einen freien Willen gegeben und damit riskiert, daß wir uns seinem Willen widersetzen“, entgegnete Galvorn abblockend.

 

„Die Menschenfrau, die ich dir zuführen würde, würde beim Eintritt nach Mittelerde ihre Sterblichkeit verlieren“, versuchte Radagast ihm seine Absicht schmackhaft zu machen.

 

Ich stand wie vom Blitz gerührt, denn plötzlich begriff ich, was hier vor sich ging. Ich mußte mich an den nächsten Baumstamm lehnen, um nicht zu umzukippen, als Galvorn den Zauberer wütend anfuhr:

„So versuchst du mich, Radagast? Geh hinfort!“

 

Doch dann bereute er seine harschen Worte und entschuldigend fügte er hinzu: „Es tut mir leid, Radagast, aber ich kann dir meine Einwilligung dazu nicht geben. Mein Herz ist nicht mehr mein, es zu verschenken, und ich werde lieber die kurze Zeit, die uns gegeben ist mit der Frau verbringen, die ich liebe.“

 

Ich spürte mein Herz vor Freude einen Sprung machen. Es war wie ein Traum! Stand ich wirklich gerade hier und durfte das hören? Oder bildete ich mir das alles nur ein? Glücklich unterdrückte ich ein Schluchzen.

 

Radagast aber seuftze tief und erleichtert nach dieser Offenbarung Galvorns.

„Dann soll es so sein, und mir wird eine schwere Reise erspart.“

 

Wie? Was? Nein! Das geht nicht! Dann komme ich doch nicht nach Mittelerde!

 

Grausam aus meinem Siebten Himmel gerissen, riß ich schockiert den Mund auf um etwas zu rufen, das aber nicht hinaus wollte, schüttelte energisch den Kopf und fuchtelte wild mit beiden Händen durch die Luft - gerade in dem Moment, als Radagast sich in meine Richtung drehte und mich zwischen den Bäumen bemerkte.

 

„Hmmm...“, hörte ich sein tiefes Brummen. Er legte den Kopf schief und betrachtete mich aufmerksam. „Ach ja... Richtig“, ergänzte er sein Selbstgespräch. Er nickte verstehend und ein Lächeln glitt über sein faltiges Gesicht.

 

„Wäre dein Herz noch dein, würdest du dann den Willen Erus erkennen?“

„Das ist eine hypothetische Frage, Radagast.“ Galvorn fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es fiel ihm nicht leicht, einem Istar zu widersprechen.

Streng forderte dieser eine Antwort: „Würdest du?“

„Ja.“

 

Radagast nickte stumm und zog den braunen Strick um seine Lenden straffer.

„Ich muß gehen. Ich habe einen Auftrag zu erledigen.“

 

„Warte!“

 

Es hatte nur eine Schrecksekunde lang gedauert, bis mir etwas sehr Wichtiges eingefallen war. Radagast hatte sich kaum abgewandt, da rannte ich schon auf ihn zu und hielt ihn am Ärmel zurück, als hätte ich Angst, daß er mir doch noch entkommen könnte.

 

Der alte Mann lächelte nachsichtig und blickte mich erwartungsvoll an.

 

Mit zitterndernder Hand zog ich meine Brusttasche durch den Ausschnitt des Kleides hervor und vermochte vor Aufregung kaum, die Schlaufe der beiden Kordeln zu lösen und den Inhalt zu entnehmen. Aufgewühlt und unsicher hielt ich ihm den Brief hin.

 

„Kannst du den auf meinen Schreibtisch legen? Bitte. Und... und die blöde Notiz entfernen, die ich meiner Mutter dort hinterlassen werde? Bitte!“

 

Flehentlich sah ich ihm in die Augen.

 

Radagast betrachtete den Brief nachdenklich. Dann legte er den Kopf schief und lächelte. Seine Augen blitzten vergnügt und ohne ein Wort zu sagen nahm er das Papier an sich.

 

„Oh, und vergiß bitte nicht mir zu sagen, daß ich einen Brief an meine Mutter schreiben soll“, hielt ich für erwähnenswert. „Und...“

 

„Hast du noch weitere Anweisungen für mich, junge Frau?“ Radagast konnte nur schwer seine Heiterkeit bemeistern.

 

„Öh... nein. Ich glaube das sollte reichen.“ Erleichtert atmete ich auf. „Außer vielleicht...“

 

Jetzt war es um die Selbstbeherrschung des Alten geschehen. Er lachte dröhnend und schlug sich die Hände auf die Oberschenkel. Die Situation war aber auch zum Brüllen! Und als ich daran zurückdachte, welche Abneigung ich damals empfunden hatte, als ich diesen wundervollen Mann kennenlernte - nein, in wenigen Augenblicken kennenlernen würde - oder... ach egal. Jedenfalls stimmte ich in sein Lachen ein.

 

„Du machst das schon“, grinste ich ihn frech an, zögerte einen Moment, und in einem plötzlichen Impuls umarmte ihn herzlich.

 

„Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, weißt du“, erzählte ich ihm, „Es ist ein kleines Buch geworden. Am liebsten würde ich es dir mitgeben - für meine Mutter. Aber... das Ende fehlt...“

 

„Soooo?“ Da war es also. Zum erstenmal. Das langgezogene kleine Wort, das Radagast in so vielen Nuancen auszusprechen vermochte, daß es nahezu jede Bedeutung annehmen konnte.

 

Oder sollte ich sagen: zum letztenmal? Befand ich mich eigentlich gerade in der Zukunft oder in der Vergangenheit? Irgendwie war das alles fürchterlich verwirrend.

 

„Nun, das ist nicht gut. Eine Geschichte sollte ein Ende haben“, stellte er fest.

„Ein ordentliches Ende“, nickte ich.

„Ein gutes Ende“, brachte Radagast die Sache auf den Punkt.

 

Ich lächelte. „Das hätte von Bilbo kommen können.“

 

Radagast schmunzelte. „Schreib es fertig.“

„Wie?“

„Ich breche morgen noch vor dem Aufgang der Sonne auf. Bis dahin hast du Zeit, deine Geschichte abzuschließen.“

 

„Meine Geschichte abzuschließen...“, nachdenklich senkte ich den Blick.

Radagasts markantes Lachen ließ mich wieder aufblicken.

 

„Deine aktuelle Geschichte“, konkretisierte er, „nicht deine Lebensgeschichte. Aber jedes Abenteuer muß einmal zu Ende gehen, auf daß ein neues beginnen kann, nicht wahr?“

 

Ich gluckste vergnügt, als ich meine Lieblingsfloskel aus dem Mund eines Radagast, der noch nichts davon wissen konnte, vernahm.

 

„Wohl wahr!“ ulkte ich.

 

„Wenn du fertig bist, so lege deine Notzen auf den kleinen Tisch neben deinem Bett. Ich werde sie mitnehmen, bevor ich gehe.

 

„Versprochen?“

 

Radagast nickte, wünschte eine gute Nacht und verschwand zwischen den Bäumen.

 

Mit einem glücklichen Seufzen drehte ich mich um und sah mich einem äußerst gefaßt wirkenden Galvorn gegenüber. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, keinen Mukser von sich gegeben und sah mich mit einer Mischung aus Verständnis, Verwirrung und Unglauben an.

 

Ehe einer von uns beiden etwas sagen konnte, raschelte es in den Büschen, die der Seite, nach der Radagast verschwunden war, entgegenlagen.

 

Und es erschien... Radagast! Er führte seinen Braunen locker am Halfter hinter sich her und steuerte auf uns zu.

 

„Na endlich!“ beklagte er sich. „Ich dachte schon, ich gehe gar nicht mehr. Konnte mich nicht daran erinnern, daß ich soviel geredet hatte.“ Er zwinkerte mir zu.

 

Äh... Irgentwie fühlte ich mich ein bißchen wie in >Zurück in die Zukunft<. Ihr wißt schon: die Stelle im dritten Teil, in der der Professor noch dem Zeitreisenden hinterher blickt, als dieser hinter ihm wieder auftaucht...

 

„Radagast?“ fragte ich zweifelnd. „Bist du das?“

„Na, wer sollte ich wohl sonst sein?“

„Ach, vergiß es.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. War ja jetzt auch egal, oder?

 

Der Braune kam auf mich zu, stupste mich mit der Nase an und suchte nach einer Leckerei.

„Plötzlich wieder versöhnlich?“ motzte ich und stutzte. „Du hattest doch nicht etwa dein Pferd mit auf die Reise genommen? Radagast?“

 

Der Zauberer zuckte die Achseln. „Ich brauchte eine Fortbewegungsmöglichkeit, wenn ich wieder in Mittelerde war. Bei solchen - Reisen - weiß man nie genau, wo man landet. Es war sicherer, ihn mitzunehmen.“

 

Der einzige, der die ganze Situation überhaupt nicht verwirrend fand, war Aiwendil. Das kleine bunte Vöglein freute sich über den „neuen“ genauso wie über den „alten“ Radagast und das war nicht etwa Unwissenheit, denn offenbar konnte er die beiden recht gut auseinanderhalten.

 

Er flatterte nämlich begeistert auf die Schulter seines alten Freundes und wollte ihm gerade erzählen, was sich alles während seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Doch Radagast unterbrach ihn höflich und wandte sich an mich.

 

„Vergib einem alten Mann seine Neugierde, aber eines begehre ich zu wissen, bevor ich euch zwei alleine lasse.“ Er deutete auf Galvorn und mich. Ich errötete wie ein kleines Schulmädchen und senkte die Augenlider.

 

„Es ist von größter Wichtigkeit“, entschuldigte er seine Bitte.

Dann fokussierte er mich mit strengem Blick: „Hast du Bilbo davon abgehalten, Frodos Schwert neu zu schmieden?“

 

Ich hatte es gewußt! Gleich würde ich erneut einen echt istarischen Wutausbruch über mich ergehen lassen müssen! Die Strenge seiner Frage, ließ da kaum einen Zweifel zu. Wieder einmal hatte ich Mist gebaut!

 

„Hast du das?“ drängte Radagast, als ich nichts sagte, sondern nur meinen Kopf tiefer zwischen die Schultern zog.

 

„Ja“, nuschelte ich.

 

„Sooo, hast du das?! Und ihn dazu überedet, Frodo Stich zu geben?“

 

„Naja... nein, hab ich nicht.“

 

„Nicht?“ Drohend baute Radagast sich vor mir auf.

 

„Also, nein. Wirklich nicht. Die Idee mit Stich hatte Bilbo selbst. Weil doch sonst kein Schwert da war...“

 

„Und das Mithrilhemd?“

 

„Hat er ihm auch mitgegeben. Aber das war nicht meine Schuld! Wirklich nicht! Ich wollte doch nur wissen, was in dieser Kiste drin ist, die er unter seinem Bett hatte.“

 

„Du warst nur neugierig, wie?! Wolltest nur wissen, was drin ist?! Und hast den alten Hobbit tatsächlich davon abgehalten, das Schwert zum Schmied zu bringen?!“

 

Ich nickte schuldbewußt.

 

Die drohende Gewitterwolke lichtete sich.

„Das ist gut. Das ist sehr gut!“ stellte Radagast unerwartet versöhnlich fest.

 

Wie?

 

Ich mußte mich verhört haben! Radagast lobte es, daß ich meine Nase in die Geschichte Mittelerdes gesteckt hatte? Das war unerhört!

 

Doch Radagasts Reaktion ließ keinen Zweifel übrig. Der alte Istar lachte. Er lachte so innig, wie ich ihn nie zuvor hatte lachen hören. Dabei bebte es unter seiner braunen Kutte so gewaltig, daß Aiwendil sich nicht auf seiner Schulter halten konnte und protestierend auf einem naheliegenden Ast Zuflucht suchte.

 

„Wenn das so wichtig war, warum hast du mir dann nicht einfach befohlen, ihn davon abzuhalten?“ Ich verstand die Welt - äh, Mittelerde - nicht mehr.

 

„Das...“ Radagast mußte nach Luft schnappen, „das wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit daneben gegangen“, prustete er.

Dann wurde er wieder ernsthaft. „Außerdem durfte ich das nicht.“

 

Aha. Das mußte ich jetzt nicht verstehen, oder? Hatte vermutlich was mit den Valar zu tun. Oder so. Ich fragte nicht nach. Etwas anderes interessierte mich.

 

„Das mit Galvorn und mir... Du hast es gewußt! Du hast es von Anfang an gewußt!“

 

Radagast neigte bestätigend den Kopf.

 

„Warum hast du nichts davon erzählt? Nein - warte. Ich weiß schon: >Du durftest es nicht<!“

 

„Nein.“

„Nein - ja?“

„Nein - nein. Ich wollte es nicht. Außerdem hattest du selbst mir strengstens verboten, mich in deine Liebesangelegenheit einzumischen.“

 

Ich grummelte mürrisch. Da hatte er allerdings recht. Aber natürlich hatte er auch vorher keine Anstalten gemacht, mich aufzuklären!

 

„Du hast mich hereingelegt! Und zwar in jeder Beziehung!“ klagte ich ihn an.

Radagast erwägte den Vorwurf kurz.

„Ja.“ Ein gewisser Triumph lag in diesem einen Wort.

 

Ich öffnete den Mund und schnappte nach Luft wie ein Fisch nach Wasser. Dann mußte auch ich lachen.

 

Galvorn hatte noch immer kein Wort gesagt. Sein Blick ging zwischen mir und Radagast hin und her, dann folgten seine Augen dem Weg, den der „alte“ Radagast gegangen war, und kehrten zu mir zurück. Verwirrung und Unglauben schwanden, und das Verstehen gewann an Stärke.

 

Der „neue“ Radagast verabschiedete sich mit ähnlichen Worten wie seine ältere Variante. Dann verschwand er zwischen den gleichen Bäumen, gefolgt von einem quietschfidelen Aiwendil.

 

Wir standen eine Weile regungslos da, sahen uns stumm an und warteten darauf, wer wohl als nächstes erscheinen würde. Doch es blieb alles still. Ein leiser Lufthauch fuhr mir durch die Haare und wehte sie mir ins Gesicht. Ich strich sie mit beiden Händen zurück hinter die Ohren.

 

Was sagt man, wenn eigentlich alles gesagt ist?

>Ich hatte es dir doch gesagt?<

 

„Warum hast du nicht...“ Galvorn brach mitten im Satz ab.

„Hab ich...“

 

Er lächelte. „Und ich dachte...“

„Ich weiß.“

 

„Und? Hast du mir sonst noch was zu sagen?“ Galvorn war bei jedem Satz ein bißchen näher an mich heran getreten. Jetzt berührten wir uns beinahe und sahen uns tief in die Augen. Wie schon einige Male zuvor hatte ich das Gefühl, darin ertrinken zu können. Sein Geist näherte sich dem meinen - doch diesmal bekam ich ihn irgendwie zu greifen und hielt ihn zurück.

„Das habe ich tatsächlich“, wehrte ich ab.

 

Er stutzte und hob tadelnd eine Augenbraue, als hätte ich etwas völlig Unerhörtes gesagt oder getan.

 

„Ich möchte keine Geheimnisse vor dir haben“, stammelte ich bereits wesentlich unsicherer unter dem forschenden Blick.

 

Die Augenbraue wanderte noch etwas höher, und Galvorn legte die Hände schwer auf meine Schultern, als wolle er verhindern, daß ich ihm jetzt noch mit einer Ausrede entweichen könnte.

 

„Also... zumindest möchte ich keine Geheimnisse vor meinem... Ehemann?... haben“, druckste ich herum.

 

Lächelte er? Oder war es ein süffisantes Grinsen?

Ich konnte es in der Dunkelheit trotz der Nähe nicht mit Sicherheit sagen.

Aber ich wagte es auch nicht, ihn direkt anzusehen.

 

„Naja, ich... was ich sagen will... Also...“ Ich holte ganz tief Luft, mit dem Erfolg, daß es eben keinen hatte. Das Weiterreden fiel mir ebenso schwer wie zuvor. Ich hatte nur ein wenig - erbärmlich wenig - Zeit gewonnen.

 

„Ich darf dir noch nicht alles sagen.“

 

Jetzt rutschte die zweite Augenbraue in die Höhe, um der ersten Gesellschaft zu leisten.

Galvorn schwieg beharrlich.

 

„ER ist schuld!“ Anklagend richtete ich den Zeigefinger auf die Büsche.

 

„Der eine? Oder der andere?“ Er klang amüsiert.

 

Das ärgerte mich!

 

„Alle beide!“ schimpfte ich gereizt.

 

„Und was gedenkst du dagegen zu unternehmen?“ Galvorn war noch näher getreten und hatte damit den letzten Spalt zwischen unseren Körpern überwunden. Warm floß sein Atem über meine Haut. Seine Augen waren den meinen so nahe, daß ich trotz des Lichtmangels die tiefe smaragdgrüne Färbung erkennen konnte.

 

„Ich will, daß wir im Frühjahr heiraten!“ forderte ich prompt. Es war mir egal, ob das schicklich, üblich oder total unpassend war. Ich verspürte nicht die geringste Lust, eine für elbisches Zeitgefühl angemessene Frist zu warten. Wahrscheinlich würden wir dann in tausend Jahren noch händchenhaltend durch die Gärten Bruchtals zu wandern...!

 

Galvorn lachte. Er umarmte mich, zog mich an sich und lachte hemmungslos glücklich.

 

„Das löst dein Problem, ja?!“

„Ja, weil ich dir dann nämlich ALLES sagen kann“, freute ich mich.

 

„War das ein >ja<?“

„Ja, das war ein >ja<!“

 

Impulsiv schlang ich meine Arme um seinen Hals. Ich wollte aufjauchzen vor Glück! Doch der Freudenlaut wurde mir jäh erstickt von einem so leidenschaftlichen Kuß, daß mir Hören und Sehen vergehen wollte. Auch auf geistiger Ebene suchte Galvorn nun fordernd meine Nähe. Ich klammerte mich haltsuchend an ihn und ließ mich einfach treiben. Der letzte vielleicht noch vorhandene Zweifel wurde fortgespühlt. In diesem Moment empfanden wir beide, daß und wie sehr wir für einander bestimmt waren!

 

Es war spät, als ich endlich in mein Zimmer zurückkehrte, um meine Notizen zu vollenden. Traulich flackerte das Licht der Öllampe und leise kratzte die Feder über das Papier. Ich war froh darüber, daß ich heute bereits gute Arbeit geleistet hatte und nur die letzten Stunden dieses Tages ergänzen mußte.

 

Dennoch brauchte es seine Zeit, bis ich alles Erlebte verarbeitet hatte und in die richtigen Worte fassen konnte.

 

Gleich würde der erste Lichtstrahl des Tages über die Berge ins Tal hinab scheinen.

 

>Noch vor dem Aufgang der Sonne<, hatte der „alte“ Radagast gesagt. Ich gähnte. Eigentlich könnte ich doch wach bleiben und mich von ihm verabschieden. Aber wozu sollte ich das? Wo ich ihn doch gleich wiedersehen würde. Mein altes Ich...

 

Bevor mir die Augen vor Müdigkeit zufallen konnten, mußte ich meine Geschichte beenden. Dann würde ich die Feder beiseite legen und das Bündel auf meinen Nachttisch, und danach die Lampe löschen.

 

Ich würde sofort einschlafen, sobald ich mich hingelegt hatte. Davon war ich überzeugt.

 

Wenn ich wieder aufwachen würde, würde meine Geschichte verschwunden sein. Genauso wie der „alte“ Radagast.

 

Für immer.

 

 

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* siehe „Der Ring geht nach Süden“ – Die Gefährten (wörtl. aus der Carroux-Übersetzung)

 

 

ENDE

 

 

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