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Drei Tage waren vergangen, in denen sich nichts wirklich Erzählenswertes zugetragen hatte. Ich hatte ein Schwätzchen mit Legolas gehalten, Bilbo ein paar weitere Buchstaben erklärt und Celthor bei der Restaurierung eines beschädigten Buches geholfen. Der stille Düsterwaldelb hatte ein Händchen für diese Arbeit und Freude daran. Er und Erestor konnten sich stundenlang über diverse Techniken, Materialien und die passenden Werkzeuge dafür unterhalten. Die beiden verstanden sich nach ihren anfänglichen Meinungsverschiedenheiten prächtig. Einmal begegnete ich Erestor auf dem Weg in den Park – ein Buch unterm Arm! Vor Erstaunen vergaß ich ganz, daß ich bei dem Elrond'schen Bibliothekar in Ungnade gefallen war, und bevor es mir wieder einfallen konnte, nickte er freundlich grüßend im Vorübergehen.

 

Gestern Nachmittag war Frodo aufgewacht. Als Bilbo es mir erzählt hatte, hatte ich mir vorgenommen, den Speisesaal für die nächste Zeit zu meiden. Besonders dann, wenn Frodo das erste Mal zum Abendessen erscheinen würde. Das war nämlich die Begebenheit, von der ausführlich im „Herr der Ringe“ erzählt wurde – und da wollte ich auf keinen Fall das Risiko eingehen, irgendwo bei den Festgästen erwähnt zu werden.

 

Es war mir leichter gefallen, als erwartet. Genau genommen war es letztendlich nicht einmal meine Entscheidung gewesen. Oder zumindest hatten Galvorns Einladungen zu einem abendlichen Picknick gestern und dem heutigen Morgenausritt mir die Wahl erleichtert.

 

Irgendwann in der Nacht mußte Boromir eingetroffen sein. Ich sah seinen Braunen bei den übrigen Pferden auf der Koppel stehen. Das arme Tier war ziemlich erschöpft. Deshalb war es mir gleich aufgefallen, als ich Brasfaloth von der Weide geholt hatte. Galvorn bestätigte mir dann, daß es einem mutigen Krieger aus dem Süden gehörte. Da war klar, wer gemeint war

 

Das Mittagessen war bereits vorbei, als Galvorn und ich von einem wundervollen Ausritt zurückkamen. Wir hatten uns für nachher an „unserem“ Teich verabredet und Galvorn hatte versprochen, etwas Eßbares aufzutreiben, während ich mich umkleiden und ein entspannendes Bad genießen wollte. Vergnügt trällerte ich irgendeine zusammenhanglose Melodie vor mich hin - mit einem Text, der sehr viele „Tralali-lala“ und wenig vollständige Sätze enthielt.

 

Beim Treppenaufstieg kam mir ein nachdenklicher Bilbo Beutlin entgegen. Er trug etwas Längliches, Flaches, das er in ein wollenes Tuch gewickelt hatte.

 

„Hallo Bilbo!“ sang ich. „Wohin des Wegs?“

 

„Ah, Elli! Lange nicht mehr gesehen...“ Er wirkte abwesend, und ich hielt abrupt mit meinem Singsang inne.

 

„Was hast du denn da?“ Ich deutete auf das Bündel in seinen Händen.

 

„Das? Oh... das ist Frodos Schwert. Ich will es gerade zum Schmied bringen. Der gute Junge wird es bald brauchen.“

 

„Ach so. Na dann...“ Ich zuckte die Achseln. Demnach hatte heute Vormittag der Rat getagt, überlegte ich, und wollte weitergehen.

 

Ähm. Hallo? Moment! Da stimmte doch etwas nicht!

 

Ich hielt mitten im Schritt inne. Ein Fuß verweilte zögernd in der Luft.

 

„Sagtest du soeben >Frodos Schwert<?“

 

„Ja. Ich sagte, ich will es zum Schmied bringen“, bestätigte Bilbo.

 

„Was... äh... ist das denn für ein Schwert? Ich meine... was ist denn damit?“

 

„Es ist zerbrochen.“ Bilbo wickelte das Tuch auseinander und zeigte mir die Bruchstücke.

 

Irritiert starrte ich die Waffe in seiner Hand an. Was auch immer das da für ein Ding war, eines war es mit Sicherheit nicht: Das da war kein Mithrilschwert! Es war nicht Stich!

 

Aber hatte Frodo nicht Stich mitgenommen? Was zum Nazgûl... Was sollte er denn mit dem da?

 

Nun gut Elli, reg dich nicht auf! redete ich mir ein. Es gibt sicher eine ganz simple Erklärung dafür. Zum Beispiel die: Bilbo hat Frodos altes Schwert heil machen lassen und später eingesehen, daß Stich die bessere Waffe für ihn ist.

 

Oder: Das alte Schwert war so kaputt, daß es nicht mehr geflickt werden konnte.

 

Oder...

 

Während Bilbo die Waffe wieder in das Tuch einschlug, versuchte ich, eine Lösung für das scheinbare Problem zu finden.

 

>Ach was! Laß es sein, Elli! Du weißt doch, daß du dich nicht einmischen sollst! Die Geschichte wird schon den richtigen Weg nehmen<, ermahnte mich meine innere Stimme. Ausnahmsweise klang sie weder höhnisch noch tadelnd. Sie war... unsicher.

 

Wieder wandte ich mich zum Gehen. Wieder hielt ich inne.

 

Ach, was soll’s! Es wird die Geschichte schon nicht gleich aus den Fugen bringen, wenn ich...

 

„Bilbo?“ rief ich den alten Hobbit zurück. „Mir ist da noch etwas für mein Buch eingefallen. Aber ich weiß nicht genau, wie es beschreiben soll. Hilfst du mir dabei?“

 

„Gerne!“ Bilbo war sofort Feuer und Flamme. Großartig! „Warte nur eine kleine Weile. Ich bringe noch eben das Schwert zum Schmied.“

 

„Ach. Das hat doch sicher noch Zeit. Das kannst du immer noch.“ Ich war auf ihn zugegangen und versuchte, ihn am Weitergehen zu hindern. „Du weißt doch wie das mit schriftstellerischer Inspiration ist. Wenn man ihr nicht auf der Stelle nachgibt, dann verfliegt sie wieder.“

 

„Es ist gar nicht weit. Ich bin sogleich zurück.“ Er huschte mit ein paar flinken Schritten an mir vorbei und war schon fast am Tor.

 

Oh nein! Das war gar nicht so leicht wie gedacht!

 

„Aber... aber Bilbo!“ klagte ich. „Dann hab ich womöglich wieder vergessen...“

 

„Schreib es schon mal auf!“ riet er. „In Stichworten. Dann helfe ich dir nachher, es zu formulieren.“

 

Mist. So ging das nicht. Was nun?

 

„Ich habe meine Schreibfeder verlegt“, jammerte ich herzerweichend.

 

Bilbo ließ den Türgriff fahren und wandte sich um. Ich atmete vorsichtig aus.

 

„Oh! Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Verlege niemals deine Feder! Wo hast du dein Buch? In deinem Zimmer? Laß es uns gleich holen und dann gehen wir zu mir. Ich habe noch einen halben Apfelkuchen und...“ Mehr hörte ich nicht mehr, weil er bereits vorausgegangen war und mehr zu sich selbst als zu jemand anderem sprach.

 

Das war knapp! Sehnsüchtig blickte ich zurück zum Tor. Das heiße Bad würde warten müssen. Und Galvorn auch...

 

Abgesehen davon verlief der frühe Nachmittag prächtig. Die Inspiration kam von selbst, als ich mein Buch auf der letzten beschriebenen Seite aufschlug und ein paar Sätze laut vorlas. Dieses Buch hatte mir Bilbo geschenkt, weil ich mit meinen vielen Notizzetteln nicht mehr zurechtgekommen war und sie ständig durcheinander geworfen hatte.

 

„Die richtige Reihenfolge“, sagte er dann, „auf die kommt es an. Eine Geschichte sollte so erzählt werden, daß man ihr folgen kann. In einem festen Einband kann dir nichts mehr durcheinander geraten. Da bleibt alles schön, wo es hingehört!“ Mit diesen Worten hatte er mir das Buch überreicht. Ich war außer mir vor Freude!

 

Es war ein schickes Buch. Mit einem roten Ledereinband. Ganz ähnlich dem, in welches Bilbo seine Geschichte schrieb. Das erfüllte mich mit Stolz.

 

Aber seit einiger Zeit schrieb ich nicht mehr nur noch in dieses Buch. Ich hatte damit begonnen, die komplette Geschichte noch einmal zu schreiben. Auf einzelne Blätter. Und auf Deutsch!

 

Bilbo schaute zunächst ein wenig pikiert drein, als ich meine Loseblattsammlung hervornahm. Dann erkannte er die Schrift und sah interessiert genauer hin.

 

„Was ist denn das für eine Sprache?“ fragte er erstaunt, als er versuchte, die ersten Wörter zu entziffern. „D-E-R U-NG-E-B-E-T-E-N-E B-E-S-U-CH....“

 

„Das ist meine Muttersprache.”

„Für wen schreibst du es?“

„Für meine Mutter...“

 

Traurig ließ ich die Feder sinken und zog den Brief aus dem Beutel, den ich an einem Lederriemen um den Hals ständig bei mir trug. Nach meinem unfreiwilligen Bad hatte ich ihn neu schreiben müssen. Die ganze Tinte war verlaufen und die einzelnen Wörter kaum zu lesen gewesen. Dabei waren die Erinnerungen und das Heimweh wieder hochgekommen.

 

„Liest du mir etwas davon vor?“ riß Bilbo mich aus meinen Gedanken. „Ich möchte gerne hören wie es klingt.“

 

Ich nickte, zog die Nase hoch und unterdrücke so die aufkommenden Tränen. Dann las ich vor:

 

„Seufzend schloß ich die Haustür hinter mir und schaltete die Lampe ein. Draußen strahlte die Sonne noch hell vom wolkenlosen Himmel, doch hier im Gang war es dunkel. Keine Fenster. Nicht einmal ein Spion in der Tür, durch den ein wenig Licht hätte hereindringen können.“

 

Ach, diese Tür... Ich erinnerte mich noch gut. Eine dunkle Brettertür. Besser geeignet für einen Geräteschuppen als für ein Wohnhaus. Ich hatte mir eine neue kaufen wollen. Eine weiße. Eine, die viel Licht durchlassen würde. Dazu würde ich nun nicht mehr kommen.

 

Ich blinzelte ein paar Tränen weg.

 

In der elbischen Version meiner Geschichte hatte ich die ersten Seiten natürlich vor Bilbo geheim halten müssen. Auch bei den übrigen Kapiteln mußte ich genau darauf achten, was ich ihm zeigen durfte und was nicht. Irgendwann einmal, würde ich es ihn lesen lassen.

 

Bilbo hatte sich sein Pfeifchen gestopft, blies Rauchkringel in die Luft und blickte ihnen versonnen nach, während er aufmerksam meiner Stimme lauschte.

 

Nach dem dritten Absatz hielt ich inne.

 

„Es klingt ein wenig abgehakt“, resümierte er, „nicht so fließend wie die elbischen Sprachen.“

 

„Das liegt zum Teil an meiner Art des Vorlesens. Ich bin nicht so vertraut mit der reinen Ausdrucksweise und sie geht mir nur schwer über die Lippen.“ Ich war beim Vorlesen mehrfach über meine Zunge gestolpert und hatte für das Wort >Spion< gar drei Anläufe gebraucht. „In gesprochener Form kommt sie ohnehin eher selten vor. In den meisten Gegenden sprechen wir Dialekte.“

 

„Und in denen werden viele harte Laute dann verwischt und Wörter aneinandergebunden?“ vermutete Bilbo wißbegierig.

 

Ich überlegte. „Ja, ich glaube schon... Zumindest in meinem Heimatdialekt ist es so. Aber mit all den anderen kenne ich mich zu wenig aus, um das bestätigen zu können.“

 

Bilbo war richtig gefesselt von dem Thema. Er beugte sich herüber und tippte mit dem Zeigefinger auf den Anfang meiner deutschen Notizen.

„Wie würde sich das in deinem Dialekt anhören? Liest du es noch einmal für mich? Bitte!“ bettelte er.

 

Ich lachte amüsiert. Dann las ich ihm die gleiche Stelle noch einmal vor. Auf Mosel-Fränkisch! Das klang selbst für den alten Hobbit so ulkig, daß er bald in mein Kichern einstimmte. Diese Version war eindeutig flüssiger, bestätigte er mir gut gelaunt.

 

Die Hälfte des halben Apfelkuchens hatte bereits den Weg in unsere Mägen genommen. Dazu hatte Bilbo noch einen würzigen Käse und etwas Weißbrot auf den Tisch gepackt. Ein hartgekochtes Ei, ein paar Scheiben Schinken, ein Töpfchen zähflüssigen Honig, einen Rest Marmelade, ein paar Walnüsse, Haselnüsse, einen schrumpeligen Apfel, kalten Fisch vom Vorabend und frisch aufgebrühten Kräutertee.

 

Der Apfel amüsierte mich besonders. Ich hielt ihn am Stiel zwischen zwei Fingern und Bilbo vor die Nase. „Was ist das denn?“ kicherte ich.

Bilbo zog die Augenbrauen hoch und antwortete todernst: „Ein Apfel!“ Was für eine dumme Frage aber auch!

Ich bog mich vor Lachen. „Und wie konnte der lange genug bei einem Hobbit überleben, um zu schrumpeln?!“

Bilbo zuckte die Achseln. „Ich habe ihn gerade eben unterm Bett gefunden.“

 

Ah ja!

 

Ich hatte mich noch nicht wieder gefaßt, da bemerkte ich irritiert, daß ich seine Gegenwart spüren konnte, noch ehe sein Gewand mich leicht im Rücken streifte. Er schlängelte sich zwischen mir und dem Gartenzaun hindurch, strebte den freien Stuhl zu meiner Linken an und setzte sich schweigend.

 

„Galvorn, ich...“ Mein schlechtes Gewissen erstickte jedes weitere Wort. Hier saß ich nun schlemmend und lachend mit dem Hobbit, während mein Liebster auf mich gewartet hatte!

 

Aber ich suchte vergebens nach Anzeichen eines Vorwurfs in seinem Gesicht. Mit einem Blick über den mit Essensvorräten, Büchern, losen Blättern und Schreibwerkzeugen übersäten Tisch hatte er die Situation erfaßt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem nachsichtigen Lächeln zurück.

 

„Du hast noch deine Reitkleidung an“, bemerkte er süffisant.

 

„Elli hatte einen Einfall für ihr Buch!“ erklärte Bilbo bereitwillig, bevor ich etwas sagen konnte. Ich lächelte unbeholfen.

 

„Das sehe ich.“ Galvorn nahm mir den Apfel aus der Hand, betrachtete ihn kritisch und biß hinein.

 

Mit einer Bewegung, die unauffällig sein sollte, bedeckte ich die erste Seite meines Buches mit dem Ärmel. Es lag in Galvorns Richtung und bei seinem Elbenblick...

 

„Du möchtest nicht, daß ich es lese?“ Er klang ein wenig gekränkt. Zurecht.

 

„Später einmal. Nicht jetzt. Es... wäre mir peinlich.“

 

„Warum könnte es das wohl sein?“

 

„Weil...“ Nun, zum Beispiel darum, weil in diesem Buch genau stand, wie ich über ihn dachte, was ich in seiner Nähe empfand und wie meine Hormone gleich bei unserer ersten Begegnung verrückt gespielt hatten!

 

Galvorn beugte sich zu mir herüber und hauchte mir ins Ohr: „Genau deshalb möchte ich es gerne lesen!“

 

Mir wurde heiß. Meine Wangen glühten. Hatte ich etwa laut gedacht?

 

„Du solltest lernen, deine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Solange du dich mir gegenüber öffnest, kann ich es gar nicht überhören.“

 

Oh Mist! Lag das etwa an diesem Osanwe-kenta? Hatte ich seit seiner Berührung im Nähzimmer sozusagen vergessen, die Tür zu schließen?

 

Galvorn nickte, und ich versank beinahe im Boden!

 

„Aber wie...?“ stammelte ich.

 

„Versuch es!“ forderte er mich auf. „Du mußt es nur wollen.“

 

Hatte ich tatsächlich gewollt, daß er mich hört? Ich überlegte kurz und gestand mir ein: ja! Ich fühlte mich so sehr zu ihm hingezogen, daß ich nur noch für ihn und in seiner Gegenwart leben wollte.

 

„Wieso funktioniert das bei mir überhaupt?“ versuchte ich abzulenken. „Ich meine, ich bin ein Mensch, nicht wahr?!“ Ich schloß jetzt bewußt den Gedanken daran, daß das nur zur Hälfte stimmte, in meinem Kopf ein. Daß ich dabei die Augen unschön verdrehte und bestimmt ziemlich dämlich aussah, ignorierte ich.

 

„Ich weiß es nicht“, gestand Galvorn. „Vielleicht willst du es mir erklären?“ Sein Blick hatte etwas Lauerndes. Hatte Liriel geplappert?

 

In diesem Moment klopfte es an Bilbos Tür und Merry und Pippin erschienen im Zimmer. Sie grüßten freundlich und sahen sich nach Gandalf um.

„Frodo und Sam werden gleich hier sein“, informierten sie uns.

 

Das sah mir gewaltig nach einer Besprechung aus! Mein Fluchtinstinkt meldete sich und ich raffte nervös meine Blätter zusammen. Auch Galvorn beabsichtigte nicht, eine Verabredung der Freunde zu stören – wenn auch aus anderen Gründen als ich. Rücksichtsvoll entschuldigte er uns: „Wir werden uns zurückziehen.“

 

Mit einer Verbeugung zu den Hobbits stand er auf und bot mir den Arm. Tolpatschig wie ich war, verstand ich natürlich nicht sogleich, was ich damit sollte, und rappelte mich – Papier und Buch ungeordnet in beiden Händen – umständlich alleine auf.

 

„Hast du noch Hunger?“ Galvorn half mir, den Blätterwust zu ordnen, als wir ein paar Schritte gegangen waren.

 

„Ich habe nur ein kleines Stückchen Kuchen gegessen!“ verteidigte ich mich. „Den Apfel hast du mir geklaut, und weiter bin ich nicht gekommen!“

 

Galvorn schwieg, und mir kam der Gedanke, daß ich möglicherweise überreagiert hatte.

„Du hast etwas zu essen besorgt?“ fragte ich kleinlaut.

„Das hatte ich dir doch versprochen.“

War er wirklich nicht das geringste Bißchen beleidigt? Ich betrachtete ihn zweifelnd von unten herauf.

„Ich wollte dich nicht hängen lassen...“, versuchte ich sicherheitshalber ihn zu besänftigen – und sorgte mit meiner unmittelirdischen Ausdrucksweise für Heiterkeit.

 

Wir blödelten ein bißchen herum, aber natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Galvorn unser unterbrochenes Gespräch wieder aufgriff.

 

„Liriel hat etwas angedeutet“, begann er. „Sie meinte, du solltest es mir selbst sagen.“

„Was... ähm... was hat sie denn angedeutet?“

„Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat es etwas mit deiner Frage zu tun.“

„Ah? – Welcher Frage?“ stellte ich mich unwissend.

„Wieso es bei dir funktioniert.“

 

Irgendwie redeten wir beide um den heißen Brei herum. Unter anderen Umständen hätte mich das vielleicht amüsiert. Jetzt aber fühlte ich mich unwohl. Dabei wäre das eigentlich die Gelegenheit, ihm alles zu beichten! Der Moment war wie geschaffen für ein solches Geständnis. Galvorn hatte gerade bewiesen, wie nachsichtig er mit mir war, wir gingen Hand in Hand über eine weiche Wiese – meine jetzt geordneten Notizen hatten samt Buch unter meinem anderen Arm Platz gefunden – die Sonne schien freundlich vom Himmel, die Vöglein sangen und ausnahmsweise tauchte Aiwendil nicht auf, um mir irgendwelche guten Ratschläge zu erteilen.

 

Dennoch zögerte ich. Ich weiß nicht wieso. Aber plötzlich hatte ich das dringende Gefühl, ich dürfte Galvorn nichts von meiner Unsterblichkeit erzählen. Nicht, bevor die Gefährten nicht aufgebrochen waren. Völlig irrationalerweise glaubte ich eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen zu spüren. So, als würde mit dem Aufbruch der Gemeinschaft für uns eine Wende eintreten.

 

Wahrscheinlicher hatte ich einfach Angst davor, mich zu offenbaren und suchte durch eine unsinnige Ausrede, diesen Moment so weit wie möglich von mir zu schieben.

 

Also beschloß ich, ein weiteres Mal Zuflucht zu Radagasts Verbot zu nehmen.

 

Als die Stille zwischen uns drückender wurde, als ich es ertragen konnte, flüsterte ich, denn meine Stimme versagte mir den Dienst: „Ich darf es dir nicht sagen. Radagast hat es mir verboten.“

 

Galvorn schnaufte aus. Jetzt hatte ich es doch noch geschafft, ihn wütend zu machen!

 

„Aber Liriel hast du es erzählt!“

„Nicht alles...“ verteidigte ich mich kleinlaut.

„Und Adar!“

„Das war vor Radagasts Verbot.“

 

Galvorn wandte sich ab und ließ meine Hand dabei los.

 

„Galvorn ich...“ Ehe ich weitersprechen konnte, drehte er sich schwungvoll zu mir um. Seine Augen funkelten.

 

„Woher wußtest du von Gollums Flucht?“ wechselte er unerwartet das Thema.

 

Mein Unterkiefer senkte sich, doch ich gab keinen Laut von mir. Was hätte ich sagen sollten? Ich sah ihn nur hilflos flehend an. >Vertrau mir!< bat ich stumm.

 

„Das würde ich gerne.“

 

Der Schmerz in Galvorns Stimme stach mir mitten ins Herz. Ich ließ den Kopf hängen und schloß die Augen. Ich zögerte nicht länger und nahm all meinen Mut zusammen:

 

„Galvorn, ich bin nicht sterblich!“ gestand ich endlich und spürte, wie eine Last von mir genommen wurde.

Galvorn hob mein Kinn sanft und als ich die Augen öffnete, traf mich sein zärtlicher Blick.

„Tu das nicht!“ tadelte er gutmütig.

„Was?“

„Mein Herz gehört dir bereits. Du brauchst nicht so etwas Unsinniges zu sagen.“

„Aber es ist die Wahrheit!“

„Die gleiche Wahrheit, die du Liriel und Adar erzählt hast?“

„Ja. Aber...“

„Es ist gut.“

 

Wie? Aber Gollums Flucht!

 

Ich starrte Galvorn an und konnte nicht fassen, daß er nicht weiter in mich drang, um das zu erfahren, was er für wahr halten konnte. Denn daß er mir die Unsterblichkeit nicht abnahm, war klar aus seinem Tonfall herauszuhören gewesen.

 

Aber wenn er mir die schon nicht glaubte, würde er den Rest der Geschichte für eine noch größere Lüge halten!

 

„Übrigens wußte Gandalf ebenfalls von Gollums Flucht.“ Galvorn reichte mir seinen Arm und wir nahmen den unterbrochenen Spaziergang wieder auf. „Er hat es von Gwaihir erfahren.“

 

Jetzt ging mir ein kleiner Kronleuchter auf! Glaubte Galvorn plötzlich an Aiwendils Geschichte? Vermutete er meine Andersartigkeit alleine in meiner Begabung für ausgefallene Sprachen?

 

„Wer ist Gwaihir?“ fiel mir noch gerade rechtzeitig zu fragen ein.

„Der >Herr der Winde< ist einer der großen Adler des Nebelgebirges.“

Aha. Ich lächelte und schmiegte mich an Galvorn, der mir fürs Erste alles vergeben hatte. Im Plauderton erzählte er von der Ratsversammlung am Vormittag – selbstverständlich nur von den Teilen, die mir als Außenstehende zu wissen zustand.

 

„Tatsächlich schien Aragorn der einzige von allen zu sein, der noch nicht von Gollums Flucht erfahren hatte. Man stelle sich das vor! Seit fünf Tagen weilt er in Bruchtal und offensichtlich hat es niemand für nötig befunden, ihn darüber zu unterrichten!“ amüsierte er sich.

 

Ich grinste spöttelnd: „Vielleicht hat sich auch niemand getraut ihm zu erzählen, daß das Wesen, das er mit solcher Mühe aufgespürt, gefangen und unter Entbehrungen nach Düsterwald gebracht hat, geflohen ist.“

 

Galvorn lachte laut auf. „Hättest du dich das getraut?!“

- „Nein!“ stimmte ich ins Lachen ein. Ich rief mir das strenge Gesicht des wortkargen Waldläufers ins Gedächtnis. „Nein, lieber nicht!“

 

 

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