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Dies war der Tag, an dem die Ernte ihren Abschluß fand. Wir verschoben also das Ränkeschmieden auf den nächsten Morgen.

 

Ein Morgen, an dem sich klein Elli – sehr zur Verwunderung der Großmagd – ohne Säumen oder Gezeter vom Schlaflager erhob.

 

Heute sollte ein Tag der Ruhe und Erholung sein. Die Feldfrüchte waren eingebracht und ein jeder bekam die Möglichkeit, etwas auszuspannen, bevor die „Winterarbeiten“ begannen. Welche Arbeiten dies im einzelnen waren, interessierte mich momentan jedoch überhaupt nicht.

 

Viel interessanter war die Ankunft Gildor Inglorions und seiner Gefolgschaft am frühen Vormittag.

 

Die Kinder hatten nun wieder die Aufgabe des Eiersammelns übernommen, mir war es endlich geglückt, die Blesse zu melken, die Knechte hatten die Ställe ausgemistet und die Mägde bereiteten in der Milchkammer die Verarbeitung der vielseitigen, nahrhaften Flüssigkeit vor. Ich selbst führte gerade mit der ’Neth eine Diskussion über den Wohlgeschmack von Schafskäse und Ivoreth zerstreute unterdessen Mirwens letzte Bedenken.

 

Die Elben traten leise zum Tor herein, grüßten die Anwesenden mit einigen freundlichen Worten, und während ihre Pferde von einem Knecht in Empfang genommen wurden, suchten sie das Haupthaus auf – da ihnen mitgeteilt wurde, der Hausherr befinde sich dort.

 

Sofort fingen alle meine Gehirnzellen gleichzeitig an zu arbeiten. Eine recht motivierende Angelegenheit für jemanden, der dergleichen nicht gewohnt ist. Die Großmagd loszuwerden, war ein geringes Problem. Sie war ohnehin schon halb auf dem Weg in die Milchkammer. Ivoreth und Mirwen in ihrer Unterhaltung zu unterbrechen, unterließ ich nach kurzem Überlegen.

 

Schnell verschaffte ich mir einen Überblick, wo sich die restlichen Bewohner gerade aufhielten. Alle Männer bis auf vier – Tirgam nicht mitgerechnet - waren ausgeritten. Die Kinder tobten sich in der Nähe des Misthaufens aus, der am anderen Ende des Hofes lag. Die Frauen waren bis auf die beiden Mädchen im Wirtschaftstrakt verschwunden, welcher sich ebenfalls auf der gegenüberliegenden Seite der Festung befand. Der Gang zwischen Wohnhaus und Vorratsbau aber war so schmal, daß er nur von jemandem, der sich direkt dorthin begab, eingesehen werden konnte. Nicht einmal der Wachtmann konnte ihn von seinem Turm aus überblicken.

 

Dies war meine Gelegenheit! Das fühlte ich deutlich. Noch einen wachsamen Blick in alle Richtungen geschickt und schon war ich zwischen den beiden Gebäuden verschwunden. Vor dem ersten Fenster duckte ich mich nieder, damit mich niemand sehen sollte und huschte lautlos weiter. Wenn ich hören wollte, was im Inneren gesprochen wurde, so mußte ich versuchen, an die Tür zu gelangen und diese unbemerkt einen Spalt weit zu öffnen. Denn durch die dicken Wände des Gebäudes drang kein Laut heraus.

 

Wie aber öffnet man eine schwere Balkentür, ohne von empfindlichen Elbenohren ertappt zu werden? Forschend betrachtete ich die imposante Einrichtung aus etwa zehn Zentimeter starken nebeneinander gebundenen Stämmen. Die Schließvorrichtung war aus Holz, was ein lautloses Öffnen erhoffen ließ. Nicht so die Türangeln. Sie waren aus Metall geschmiedet und von außen nicht klar zu erkennen. Bisher hatte ich mich aber weder mit der Technik selbiger befaßt, noch darauf geachtet, ob oder wie leise sich die Türe öffnen ließ.

 

Öffnen aber mußte ich sie. Zumindest wenn ich nicht innerhalb der nächsten Sekunden zur Vollblut-Mary-Sue mutieren würde. Also hob ich mutig die Hand zum Türöffner... - und zuckte nach einer kurzen Berührung alarmiert zurück. Ich hatte ja nicht gewußt, daß Holz auf Holz so laut reiben kann! Natürlich war es außerdem mein schlechtes Gewissen, das meine Sinneswahrnehmung schärfte. Dennoch spürte ich in diesem Moment überdeutlich, wie die im Raum Anwesenden ihr Gespräch unterbrachen und die Tür anstarrten.

 

Ich versank noch tiefer in meine hockende Stellung und kniff die Augen fest zusammen, als könnte dies mich vor der Entdeckung bewahren. Die Tür war noch immer geschlossen. Trotzdem bildete ich mir ein, sich nähernde Schritte zu vernehmen.

 

Dann wurde die Türklinke gedrückt. Kratzend, schrappend schob sich der Riegel zurück, seine ganze Bewegung eine einzige drohende Geräuschfolge.

 

Endlich erwachte ich aus meiner Starre, zischte ein ordinäres Kraftwort und wollte aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz die Flucht ergreifen.

 

„Einen schönen guten Morgen!“

 

Die Stimme ließ mich zusammenfahren. Das war doch...! Verblüfft hob ich den Kopf, blickte unmittelbar in Mirwens dümmlich grinsendes Gesicht und sah gerade noch, wie Ivoreth durch die Tür verschwand.

 

„Ihr? Was macht denn ihr beide hier?“ hauchte ich, noch ganz unter dem Eindruck der abgewandten Gefahr. Das war wirklich arg knapp gewesen und ich mußte erst ein paarmal tief durchatmen, bevor ich vor Dankbarkeit zerfließen konnte.

 

Mirwen grinste noch breiter und nickte zustimmend. Dann legte sie bezeichnend den Zeigefinger über die Lippen und kauerte sich neben mir nieder.

 

Nicht lange, so trat Ivoreth wieder heraus, schloß die Tür energisch und zog den Hebel fast zur gleichen Zeit leise wieder zurück, wodurch beide Geräusche wie eines klangen.

 

Dann hingen wir alle drei mit einem Ohr am Türspalt. Es dauerte ein Weilchen bis das unterbrochene Gespräch fortgeführt wurde. Sie sprachen sehr leise. Fast verstohlen. Selbst bei angelehnter Tür waren die meisten Worte nur schwer zu verstehen und manche gar nicht.

 

Der Einfachheit halber will ich aber die fehlenden Satzteile ergänzen, wie sie sich zu einem Ganzen vereint haben mochten.

 

„Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Orks unser Versteck entdeckt haben. Sie umlungern den Wald wie die Katze ein Mauseloch“, berichtete Tirgam soeben, „Sie ahnen, daß wir hier sind! Ich spüre es deutlich! Es wird immer schwieriger, den Zugang verborgen zu halten, weil sie selbst am Tage stets in der Nähe sind – in Erdlöchern, die sie selbst gegraben haben, um den verhaßten Strahlen der Sonne zu entgehen. Ich fürchte um die Sicherheit der Meinen! Was, wenn sie des Wartens überdrüssig werden und Feuer an den Dornwald legen?“

 

Wir hörten Tirgams schwere Schritte auf und ab gehen.

 

„Unsere Festung ist zwar stark, doch der Männer sind nur wenige! Und wollen oder können wir überhaupt fliehen im Angesicht der Gefahr?“

 

„Diese Gefahr ist weit größer als Ihr bisher ahnt, Tirgam Hadron.“ Gildor machte eine Pause, in der ich sicher war, nicht als einzige die Luft anzuhalten.

„Dies sind keine gewöhnlichen Unruhen, wie wir bisher angenommen hatten.“ Seine Stimme war noch schlechter zu vernehmen als Tirgams. So vermutete ich, daß er mit dem Rücken zur Tür saß. Ich schloß die Augen; konzentrierte mich voll und ganz auf mein Gehör, um nichts zu verpassen.

 

„Finstere Menschen rotten sich zusammen. Menschen, die das Tageslicht ebenso sehr scheuen wie die schwarzen Kreaturen Morgoths. Sie, die sonst im Verborgenen leben, durchstreifen das Land, unruhig und rastlos, von einer fremden Macht getrieben.

Die Orks des Gebirges wagen sich immer weiter in die Ebenen hinab, begleitet von den großen Wölfen, die auf der anderen Seite der Hithaeglír beheimatet sind.

Ein allgemeiner Aufbruch ist zu bemerken. Eine Vereinigung aller bösartigen Kräfte dieser Welt.“

 

„Doch wer eint sie? Schon lange haben sie keinen Führer mehr und kämpfen in kleinen Rotten, jeder nur zu seinem eigenen Vorteil. Was hat das zu bedeuten?“ Tirgam sprach seine Frage leise und ohne jenen Nachdruck aus, den es nach einer Antwort verlangt.

 

Ob er sie bereits erahnte? War er tatsächlich so gebildet und zugleich schnell im Kombinieren, daß er vermuten konnte, wer hinter diesen beängstigenden Vorgängen steckte?

Ich weiß es nicht.

 

Doch irgendwo mußte es eine geheime Verständigung zwischen den beiden Männern geben. Gildor sprach die unerwünschte Antwort nicht aus.

 

„Die Welt ist im Wandel“, sinnierte der Elb vor sich hin und erst viel später fiel mir auf, daß dies die selben Worte waren, die auch Baumbart einst gebrauchen sollte. Von seinen Lippen aber klangen sie völlig anders als ich sie bisher gehört oder gelesen hatte.

 

„Meinen Spähern zufolge ziehen sie Erkundigungen ein.“ Tirgam hatte seinen Gang durch den Raum wieder aufgenommen. „Es ist eingetroffen, was Mithrandir immer befürchtet hatte. Sie suchen nach dem Auenland. Er tat recht daran, uns seinen Schutz anzuempfehlen.“

 

Auenland! Ich ruckte hoch. Beutlin! Es ist soweit! begann ich zu triumphieren. Doch nur, weil mir der Ernst der Lage noch nicht in seinem vollem Umfang bewußt wurde. Und wieder war es meine kleine innere Stimme, die mich daran erinnerte, daß ich überhaupt keinen Grund dazu hatte, mich über die – ordnungsgemäße – Entwicklung der Geschichte zu freuen.

 

>Du bist hier nicht nur Leser oder unbeteiligter Zuschauer!< ermahnte sie mich. >Du steckst da mittendrin!<

 

Wie sehr ich wirklich zwischen die Fronten geraten sollte, verriet mir der weitere Verlauf des Gespräches.

 

„Wer ist diese Elanor?“ fragte Gildor plötzlich und beim Klang seiner Stimme lief es mir heiß und kalt den Rücken herunter. „Ich spüre die Fremdartigkeit ihrer Fea. Seid Ihr Euch sicher, daß...“

 

„Radagast hat sie zu uns gebracht“, fiel Tirgam ihm ins Wort, bevor er einen ungeheuerlichen Verdacht aussprechen konnte. „Sie wohnt in einem fernen Land. Dies dürfte Euer Empfinden zur Genüge erklären.“

 

Einer der anderen Elben wollte widersprechen. Gildor bat ihn zu schweigen. Einige Augenblicke herrschte Uneinigkeit im Raum, ohne daß es deshalb zu einem Streit gekommen wäre.

 

Ich getraute mich nicht, die Augen zu öffnen und Ivoreth oder Mirwen anzusehen. Keiner von uns regte sich.

 

Endlich wurde ein Stuhl zurückgezogen und Tirgam setzte sich zu den anderen an den Tisch.

 

„Radagast sprach davon, daß die Schergen des Dunklen möglicherweise auf der Suche nach ihr sind und sie auf gar keinen Fall finden dürfen.“

 

Vor meinem geistigen Auge konnte ich bildlich sehen, welch bedeutungsvolle Blicke die Elben sich nun zuwarfen. Hoffentlich würden sie nicht auf die gleiche Idee kommen, die mir gerade vorschwebte, wie sie sich ganz leicht von mir und der Gefahr, von erwähnten Schergen gefunden zu werden, befreien konnten...

 

„Ich habe ihm versprochen, gut auf sie achten“, setzte Tirgam hinzu und mir wurde leichter ums Herz.

 

„Dann solltet Ihr Euch Gedanken darüber machen, sie fort zu bringen. Hier ist sie nicht länger sicher.“ Zu meiner Freude vernahm ich die versöhnte Färbung seiner Stimme. Wie hatte ich von einem Erstgeborenen auch so schlecht denken können?!

 

Aber fortbringen? Und wohin? Ich war mir sicher, daß dies nicht in Radagasts Sinne sein würde. Er hätte doch gewußt, wenn mir hier eine Gefahr drohte, oder nicht? Wenn er nicht gewollt hätte, daß ich hier bleibe, hätte er mich gleich wo anders untergebracht. Nicht wahr?!

 

Tirgam antwortete nicht sogleich. Ein tönerner Becher wurde vom Tisch aufgehoben und nach einiger Zeit energisch wieder abgesetzt.

„Ihr habt recht. Wahrscheinlich wäre sie in Bruchtal sicherer.“

 

Vom anderen Ende des Hofes rief die ’Neth nach uns und wir mußten schnell unseren Lauscherposten verlassen.

 

Als ich den beiden Mädchen folgte, kam ich mir ein bißchen vor wie Old Shatterhand, der es auch immer zuwege gebracht hatte, jemanden genau dann zu beschleichen, wenn gerade etwas Wichtiges gesagt wurde.

 

Nur schade, daß ich nicht hatte erfahren können, ob Tirgam an seiner Eingebung festhielt.

 

Nach Bruchtal! Mein Herz machte einen Freudenhüpfer. Dann würde ich Lindor endlich wiedersehen und Liriel und Bilbo! Ich betete still, daß Tirgam seine Meinung nicht wieder ändern würde.

 

Und dann grinste ich breit.

 

Es wäre seine Entscheidung. Nicht meine. Ich würde mich nicht erfolgreich dagegen auflehnen können. Nein, ich durfte völlig beruhigt sein und brauchte mir keine Vorwürfe zu machen, wenn er sich dafür entschied, mich nach Bruchtal zu bringen.

 

Nach Bruchtal!

 

Radagast würde toben...

 

~*~

 

 

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