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Einige Tage später saß ich von zwei weichen Kissen im Rücken gestützt halb aufrecht im Bett. Durch die schmalen, schießschartenähnlichen Fenster, die in ungefähr zehn Meter Höhe in die schräge Decke eingelassen waren, fielen goldene Sonnenstrahlen, fast wie durch die Kuppel eines Domes. Auf eine mir unerklärliche Weise hatten die Elben es bewerkstelligt, daß das Licht auf seinem Weg zum Boden von den gegenüberliegenden Wänden hin und wieder zurückgeworfen wurde, bis es schließlich von unzähligen Malen reflektiert und intensiviert den unteren Bereich des Raumes taghell erleuchtete.

 

Die Möblierung war einfach und zweckmäßig. Ein Bett, ein Nachttisch, eine Truhe anstelle des Schrankes und kein geheimer Durchgang zu einem exklusiven Bad. Die Wasch- und Toilettenanlagen des Waldelbenreiches befanden sich am Ende des langen Flures. Dennoch waren die Sindar keineswegs unzivilisiert, wie Radagast nicht müde wurde, mir zu versichern. Obwohl völlig verschieden von ihren Verwandten in Bruchtal, könnten auch diese Elben mit einigen Raffinessen aufwarten. Die herrliche Beleuchtung durch Sonnenlicht in einer Festung, die fast ausschließlich unter Tage lag, wäre nur eine davon. Leider hatte sich bisher noch nicht die Gelegenheit für mich ergeben, die anderen Wunder Düsterwalds in Augenschein zu nehmen.

 

Vorsichtig schlürfte ich die warme Brühe, die Radagast mir gebracht hatte und war froh, daß meine Geschmacksnerven endlich wieder ihren Dienst aufnahmen.

 

„Du bist heute sehr schweigsam“, stellte ich fest und betrachtete den Istar skeptisch, während ich den Löffel zum Mund führte und vorher kurz gedankenlos über die Suppe pustete.

 

„Nun, ich bin kein Mann großer Worte“, protestierte er milde. Er seufzte, schmunzelte wehmütig und bestätigte so meinen Eindruck. „Wie fühlst du dich?“

 

Wie ich mich fühlte? Ich hielt inne, um mich einer gründlichen Selbstkontrolle zu unterziehen. Meine Erkältung war leidlich abgeklungen. Zwar fühlte ich mich noch alles anderes als gesund, aber alle Symptome deuteten darauf hin, daß ich mich auf dem Wege der Genesung befand. Um genau zu sein, ich war mir seit heute fast sicher, nicht sterben zu müssen.

 

„Gut“, krächzte ich in wegwerfendem Tonfall. „Wieso? Hast du schlechte Nachrichten?“

 

Radagast stöhnte gequält. „Du sollst nicht denken, daß es mir Freude bereitet, dir weh zu tun.“

 

Ich leerte den Teller und hielt ihn dem Zauberer entgegen, damit er ihn auf den Nachttisch stellen konnte. Das war bequemer, als wenn ich mich ganz zur Seite hätten strecken müssen. Dann verschränkte ich die Hände hinter dem Kopf und sah ihn neugierig an.

„Müssen wir schon wieder abreisen?“ Ich versuchte, scherzend zu klingen, was mir aber völlig mißlang. Ich hatte so gehofft wenigstens etwas länger hier bleiben zu können, um Galvorn-

 

„Galvorn ist nicht hier“, unterbrach Radagast meine Überlegungen.

Wortlos starrte ich den Istar an, als die Bedeutung seiner Worte langsam in mein Bewußtsein durchsickerte. Nachdrücklich schloß ich die Augen.

„Er ist nach Bruchtal gereist.“

 

„Nein, oder? Das ist jetzt nicht wahr!“ platzte ich heraus und war kurz davor, Radagast ins Gesicht zu springen. Wenn ich nur nicht so schwach gewesen wäre...

Stöhnend lehnte ich den Kopf nach hinten gegen die Wand und blickte zur Decke. Das mußte ein Alptraum sein. Irgend eine Fieberhalluzination. Das schlimmste daran war, daß ich viel zu erschöpft war, um mich wirklich darüber aufzuregen.

 

In den nächsten Minuten erwägte ich erstaunlich sachlich meine Situation. „Es wäre auch sehr schwierig gewesen, Galvorn gegenüber zwei Jahre lang zu verschweigen wer ich bin, nicht wahr.“ Ich lächelte traurig. „Und sehr ermüdend, wenn ich so lange darum kämpfen müßte, sein Herz zu erobern“, überlegte ich weiter.

Eine Wolke schob sich über die Sonne und der hereinfallende Lichtstrahl brach ab. Es wurde düster im Raum.

 

Ich setzte mich im Bett zurecht, zog die Knie an die Brust und umfaßte sie mit beiden Armen.

„Weißt du, Radagast, jetzt wo du mich da hast, wo du mich haben wolltest, halte ich es für angebracht, mir reinen Wein einzuschenken. Galvorn weiß gar nichts von mir, oder?“

 

Radagast machte eine verwunderte Geste und sah mich mißtrauisch an.

„Wie kommst du darauf?“ Seine Stimme hatte wieder diesen tiefen, überirdischen Klang angenommen und seine dunklen Augen strahlten einen phosphoreszierenden Glanz ab. Ich schluckte beklommen und war meiner Sache nicht mehr so sicher. Ich hätte besser den Mund halten sollen!

 

Jetzt konnte ich jedoch nicht mehr zurück. Ich atmete tief durch, um ein wenig Zeit zu gewinnen und vielleicht doch noch eine Ausrede zu finden.

„Naja...“, dehnte ich und brach ab. Resigniert ließ ich die Schultern hängen. Zu tief hatte ich mich schon in die Sache hineingeritten und sie mit jeder Ausrede nur verschlimmert. Ich überdachte meine Chancen. Eigentlich standen die gar nicht so schlecht. Radagast würde mich nicht gleich umbringen, nach all der Mühe, die er sich mit mir gemacht hatte. Oder doch?

 

Ein schneller Seitenblick belehrte mich, daß mein Leben im Moment keinen Pfifferling wert war, wenn ich dem Istar nicht augenblicklich eine Erklärung gab. Eine Erklärung, die der Wahrheit entsprach. Ich war mir fast sicher, daß er mir alles andere sofort anmerken würde. Im Lügen war ich nämlich noch nie besonders geschickt gewesen.

 

Noch einmal atmete ich tief durch und murmelte zwischen zusammengepreßten Zähnen: „Lindor hat mit ihm gesprochen.“

 

„Du hast Lindor von dir erzählt?“ Die Worte schlugen wie Hammerschläge auf mich herab. Radagasts Gestalt schien zu wachsen und erhob sich wie ein drohender Schatten über mir. Aber vielleicht narrte mich auch das Zwielicht. Die Sonne strahlte erneut auf und der Schatten war verschwunden.

Nicht so das Gewitter, das sich in Radagasts Miene zusammenbraute.

 

„Hey, ich meine, was hast du von mir erwartet?“ schrie ich ihn in meiner Not fast an. „Ich war allein. Du warst ja nicht da. Keiner war da, der mir irgend etwas sagen konnte. Der irgend etwas wußte. Ich wußte nicht einmal, ob jemand etwas wußte oder wer!“ Tränen standen in meinen Augen und ich schob störrig die leicht zitternde Unterlippe vor.

 

Radagast seufzte. „Erzähl mir alles“, forderte er mich gezwungen ruhig auf.

 

Ich zögerte. Nicht aus Trotz, sondern weil ich Probleme damit hatte, mich an die einzelnen Gespräche zu erinnern. Schließlich bekam ich sie aber dennoch halbwegs zusammen. Hoffte ich zumindest.

 

Als ich geendet hatte, herrschte lange Zeit Stille.

 

„Dann hast du mich also den weiten Weg völlig umsonst machen lassen!“ Radagast klang nicht so erbost, wie ich befürchtet hatte. Eher resigniert. Fast so, als hätte er damit gerechnet.

„Und du kannst mir nicht sagen, womit Lindor seinen Sohn dazu bewegt hat, der Aufforderung nicht nachzukommen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Das war eine absolut abhörsichere Leitung“, verteidigte ich mich.

 

Radagast schmunzelte. Was war so witzig?

„Wußtest du, daß Galvorn nach Bruchtal ist?“

„Natürlich. Ich habe ihn selbst dorthin geschickt, damit er erst einmal außerhalb der Reichweite von Galadriels Boten ist.“

 

„Du hast ihn nach Bruchtal geschickt? Ich denke, es darf keine Verbindung zu mir geschaffen werden?“

Radagast zuckte die Schultern. „Es ist nichts Ungewöhnliches daran, wenn Galvorn seine Familie besucht. Außerdem bist du jetzt nicht mehr in Bruchtal.“

 

„Das hättest du mir früher sagen können.“

„Du hattest nicht gefragt.“

 

Hm. Wo er recht hatte...

 

„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet“, bestand ich auf meinem Recht. Obwohl ich mir bereits sicher war, wollte ich endlich eine Bestätigung haben. Ich wollte, daß Radagast wußte was in mir vorging, und ich wollte einen Grund haben, mich elend zu fühlen.

 

Der Zauberer war aufgestanden und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. „Wir können nur hoffen, daß Lindor sich an sein Versprechen hält. Ich möchte ihn wirklich ungerne zum Schweigen bringen“, murmelte er mehr zu sich selbst.

„Ich vertraue Lindor“, mischte ich mich in seine Überlegungen ein und erstarrte. „Was meinst du mit >zum Schweigen bringen<? Du denkst doch nicht etwa daran...“ Ich ließ meine erschütternde Schlußfolgerung unausgesprochen.

 

Mit einer Beweglichkeit, die ich dem alten Mann nicht zugetraut hätte, schnellte Radagast zu mir herum. „Begreifst du nun endlich, welche Folgen dein unbedachtes Handeln haben kann? Das Schicksal Mittelerdes steht auf dem Spiel, und du denkst nur an deine eigenen, unbedeutenden Probleme!“

 

Betroffen zog ich den Kopf zwischen die Schultern. „Aber... aber Eru würde es niemals gutheißen, wenn...“, warf ich zaghaft ein und scheiterte wiederum an der Ausformulierung des Ungeheuerlichen.

 

Radagast kämpfte sichtlich mit seinem Zorn, richtete sich schließlich auf und drückte die Schultern durch. „Nein, das würde er nicht.“ Ergeben strich er die wirren, grauen Locken aus seinem Gesicht und sein Lächeln kehrte dorthin zurück. „Du hast recht. Wir müssen Lindor vertrauen.“

 

Ein helles Tschilpen erklang am Fensterschlitz. Kurz darauf flatterte Aiwendil herein und setzte sich auf die Schulter des Zauberers.

 

„Radagast?“

„Hm?“

„Galvorn...“

 

Der Istar griff in seine Manteltasche und brachte ein paar Körner zum Vorschein, die er dem kleinen Vogel auf der flachen Hand anbot.

„Du dummes Menschlein“, neckte er gutmütig. „Natürlich weiß Galvorn von dir. Das heißt... Ich habe mit ihm gesprochen bevor ich dich hierher gebracht habe und dies wiederum bedeutet, daß unser Gespräch vom jetzigen Zeitpunkt aus in der Zukunft liegt...“ Er brach ab. „Es ist tatsächlich alles ein wenig kompliziert“, gestand er.

 

„Deshalb konnte er mit Lindors Information nichts anfangen. Aber ohne seine Zustimmung hätten wir uns niemals in euer Geschick eingemischt. Ebenso, wie wir dir die Entscheidung überlassen haben.“

 

Ich nickte verstehend. Dann stutzte ich. Hatte ich mich tatsächlich entschieden hierher zu kommen? Eigentlich nicht. Ich hatte gedacht, das klappt eh nicht!

Ich beschloß, Radagast nicht näher danach zu fragen, wie Galvorn überzeugt worden war...

 

Radagast erhob sich und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

 

„Warte! Wie geht es jetzt weiter? Mit mir, meine ich.“

„Fürs erste bleiben wir hier. Später werden wir weitersehen.“

 

Mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

 

~*~

 

 

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