Hamfast der Abenteurer

 

 

 

Hamfast hatte das angebotene Fleisch dankend abgelehnt und beobachtete mit Grauen, wie der Mensch begierig die mageren Knochen abnagte. Keiner von beiden sprach ein Wort, bis der Fremde abschließend seinen Ärmel über Mund und Bart strich, und damit sein Mahl beendete. Hamfast hielt noch immer einen Rest seines Brotes in der Hand, unfähig, weiterzuessen, als ihm einfiel, daß in seinem Rucksack noch die ein oder andere Leckerei darauf wartete, entdeckt zu werden.

 

Er räusperte sich vorsichtig, um die Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu erlangen, bevor er es wagte, sein Gepäck vom Rücken zu nehmen, da eine hastige Bewegung leicht als Fluchtversuch hätte gedeutet werden können.

 

Aufmerksam beobachtete der Mensch aus den Augenwinkeln, wie Hamfast nun in seinem Pack zu wühlen begann.

 

„Ah!“ freute dieser sich und zog mit triumphierender Miene einen knackigen Apfel hervor und gleich darauf einen zweiten. „Darf ich wohl Eure freundliche Einladung erwidern?“ Strahlend hielt er dem Mann das Obst entgegen.

 

Ein herzliches Lachen, vielleicht etwas lauter, als beabsichtigt, antwortete ihm, und zum ersten Mal wandte der Mann sein Gesicht dem Hobbit ganz zu, gleichwohl dieser ihn im Schein des Feuers nun ausführlich betrachten konnte.

 

Zu dem verworrenen Vollbart gesellten sich regelmäßige, ausgezehrte Züge, und ein paar trotz der augenblicklichen Erheiterung traurige Augen vervollständigten das Gesicht, das alles in allem auf Hamfast einen recht sympathischen Eindruck machte. Sein Barthaar war von wenigen silbernen Fäden durchzogen, und wenn Menschen ebenso alterten wie Hobbits, überlegte der Kleine, konnte man ihn recht gut für einen Mittvierziger halten.

 

Der Mann nahm den Apfel dankend an, und Hamfast bemerkte erfreut, wie gut er ihn sich schmecken ließ.

 

„Laßt mich nach Euren Wunden sehen“, forderte ihn der Mensch danach auf. „Ihr müßt bei der Rutschpartie ein paar schlimme Blessuren erlitten haben!“

 

Als hätte es nur dieser Erinnerung bedurft, begannen seine Glieder ihn erneut zu schmerzen. Hamfast stöhnte leise, als der Mann sich daran machte, seine Verletzungen zu begutachten.

 

„Nur oberflächliche Hautabschürfungen“, stellte er schließlich befriedigt fest. „Nichts, woran Ihr sterben werdet.“ Er zog einen Tiegel aus seiner Manteltasche und begann behutsam, einige besonders üble Stellen mit einer zähen, streng riechenden Paste zu bestreichen. „Ein Rezept meiner Großmutter“, erklärte er dem, aufgrund dieser Fürsorglichkeit leicht verwirrten kleinen Kerl. „Riecht scheußlich, aber wirkt wahre Wunder.“

 

Hamfast brummte nur einen Laut des Verstehens und ließ den anderen gewähren.

 

Aus der Ferne schallte noch immer der Lärm des Kampfes, doch allmählich schien die Heftigkeit nachzulassen. Hamfast seufzte und wandte den Kopf hinüber obwohl er wußte, daß er von hier aus nicht sehen konnte, was dort geschah. Und schlimmer noch. Er konnte nichts tun, um seinen Freunden beizustehen. Er seufzte noch lauter.

 

„Sorgt Euch nicht um Eure Freunde!“ beruhigte der Fremde ihn, verschloß sorgfältig den Tiegel und steckte ihn zurück in seine Tasche. „Als ich das letzte Mal die Lage erkundet habe, haben sie ganz ordentlich unter den Spinnenviechern aufgeräumt.“ Er kicherte leise. Zufrieden.

 

Hamfasts Kopf ruckte hoch, und er sah ihn mit großen Augen verwundert an.

 

Der Mann machte eine wegwerfende Bewegung, nicht willens, eine Erklärung folgen zu lassen.

 

„Ihr seid ein seltsamer Zwerg!“ wechselte er das Thema.

 

„Ich bin kein Zwerg“, widersprach Hamfast und schüttelte bekräftigend den Kopf. „Ich bin ein Hobbit!“

 

„Ein was?“

 

„Ein Hobbit!“

 

„Ah...“ Der Mann beschloß, es dabei zu belassen und wandte sich ab, um nach dem Feuer zu sehen.

 

„Was habt Ihr jetzt vor? Bleiben wir hier? Wollt Ihr das Ende des Kampfes abwarten? Was ist, wenn die Elben und Zwerge gewinnen?“ Was Hamfast natürlich innig erhoffte. „Dann werdet Ihr doch sicher so schnell wie möglich fliehen wollen?! Ein Gefangener, noch dazu einer, der unmöglich mit Euren langen Schritten Tempo halten kann, wäre Euch dann doch nur hinderlich...“

 

Wieder lachte der Fremde. Diese Argumentation war so herrlich naiv und dabei in einem solch ernsthaften Tonfall vorgetragen, daß er sich eine Weile seiner Erheiterung hingab, bevor er antwortete.

 

„Ich habe nicht die Absicht zu fliehen. Und Ihr seid nicht mein Gefangener.“

 

Hamfast blinzelte verwirrt. „Bin ich nicht?“

 

„Seid Ihr vielleicht gefesselt?“ lautete die Gegenfrage.

 

„Naja, jetzt nicht...“

 

„Seht Ihr.“

 

„Aber das war ich!“ mockierte sich der Kleine.

 

„Zu Eurem eigenen Schutz.“

 

„Ö-hm...“ stotterte Hamfast und schwieg.

 

Schmunzelnd erläuterte der Fremde ihm: „Ihr wart mittendrin in ihrem Nest. Was glaubt Ihr hätte sie mit Euch angestellt, hätte sie Euch dort erwischt!“

 

Hamfast starrte wortlos.

 

„Ich glaube, wenn sie merkt, daß ihre Kinder unterliegen, wird sie sich zurückziehen. Sie bedeuten ihr nicht soviel, daß sie für sie ihr eigenes Leben in Gefahr bringen würde.“ Der Mann schnaufte verächtlich aus. „Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber so ist sie. Ein Dämon, sagen die Elben, aber glaubt mir, eigentlich ist sie nicht viel mehr als ein Tier. Groß und furcheinflößend, ja. Aber eben doch ein Tier. Gewaltätig, gefräßig, hinterhältig und im Grunde ihres Herzens feige!“ Er spuckte angewidert aus.

 

Um diese Informationen zu verarbeiten, benötigte Hamfast eine Weile. Er schob sie von einer Ecke seines Gehirns in die andere und konnte doch nicht recht begreifen, wie das alles zusammenpaßte.

 

„Aber...“, begann er schließlich stockend, „in der Höhle würde sie doch erst recht in der Falle sitzen. Wieso sollte sie sich dorthin zurückziehen?“

 

„Weil die Höhle einen Hinterausgang hat, und weil sie die Schätze nicht dort zurücklassen würde. Nicht, daß sie ihr etwas bedeuten...“ Seine Finger spielten mit einem dürren Zweig, drehten ihn ein paarmal um die eigene Achse, bis er schließlich mit einem leisen Knacken zerbrach.

 

„Ich denke, sie wird sie zu Verhandlungszwecken nutzen wollen“, murmelte er mehr zu sich selbst, räusperte sich und fuhr wieder an Hamfast gewand fort: „Außerdem kennt sie die Irrgänge des Tunnels wie kein anderer, und es würde ihr dadurch gelingen, jeden möglichen Verfolger mit Leichtigkeit abzuhängen.“

 

„Aber wieso sollten die Elben oder Zwerge sie durch die Gänge verfolgen, wenn sie doch ebensogut am Ausgang auf sie warten können?“ wunderte sich der Kleine.

 

Der Mann lachte resigniert auf. „Hat man Euch schon einmal gesagt, daß Ihr jemanden mit Eurer Fragerei regelrecht zur Verzweiflung bringen könnt?“

 

Hamfast nickte ernsthaft, und der Fremde seuftze ergeben.

 

„Dazu müssen sie ja erst wissen, daß es einen Ausgang gibt, und wo der sich befindet...“

 

„Ach so.“ Hamfast kramte einen weiteren Apfel aus seinem Rucksack, als wäre die Sache damit für ihn geklärt. Er biß beherzt hinein, begleitet von den ungläubigen Blicken seines neuen Bekannten.

 

„Wäre nicht so gut gewesen, wenn sie mich dann dort vorgefunden hätte“, bekräftigte er kauend.

 

„Nein, wäre es nicht...“ Wenn noch irgend etwas gefehlt hatte, den Menschen vollständig zu verwirren, dann das. Da saß dieser seltsame Zwerg, oder Hobbit, oder was auch immer, und ließ sich den zweiten Apfel munden, als wäre für ihn alles wieder in der allerschönsten Ordnung.

 

Hamfast bemerkte die neugierigen Blicke nicht, verputzte sein Obst, leckte den Saft von den Fingern und schmierte den Rest an seine Hose.

 

Seine Aufmerksamkeit wurde von dem Menschen eingefangen, als dieser den Kopf ruckartig in den Nacken hob und auf etwas horchte.

 

Hamfast tat es ihm gleich und begriff sofort, worum es ging: Der Kampf war beendet. Atemlos lauschte er in die Stille.

 

„Eure Freunde haben gesiegt“, beruhigte der Mann ihn, und auf Hamfasts fragenden Laut deutete er mit dem ausgestreckten Zeigefinger hinüber. „Seht Ihr? Dieser helle Schimmer, der zwischen dem Buschwerk hindurchdringt? Das ist das Sternenglas. Es leuchtet sogar noch heller als zuvor. Das würde es nicht, würde es nicht von der Hand eines Elben gehalten.“

 

„Das wißt Ihr? Woher?“

 

„Kommt, laßt uns hinübergehen!“ forderte der Mann ihn auf.

 

„Hinüber?“

 

„Aber ja doch. Sagte ich nicht, daß ich nicht fliehen will?“

 

„Aber...“

 

„Glaubt Ihr, ich hätte eine realistische Chance, zu entkommen? Selbst wenn ich das wollte?“ Der Mann klang vergnügt.

 

Hamfast schüttelte den Kopf. Er mußte ihn heute schon zu oft geschüttelt haben, denn die Informationen, die sich darin herumbewegten, ergaben überhaupt keinen Sinn.

 

Der Mann trat das Feuer aus und machte sich auf den Weg. „Kommt Ihr, oder was?“ fragte er schon ihm Gehen. Und Hamfast, unfähig zu antworten, erhob sich umständlich und folgte ihm mit eiligen Schritten.

 

Das Sternenglas leuchtete in der Tat heller als zuvor. Die beiden fanden in seinem Schein problemlos ihren Weg durch das Unterholz, welches hier so üppig stand, daß Hamfast sich wunderte, wie sie zuvor in der Dunkelheit so unbehelligt zu ihrem Lagerplatz gelangt waren.

 

Je näher sie kamen, desto deutlicher hörten sie die Geschäftigkeit der Elben und Zwerge. Diese waren teils damit beschäftigt, einigen schwerverwundeten Spinnen den Gnadenstoß zu verpassen - wenn man es denn so nennen konnte - teils kümmerten sie sich um ihre Verletzten oder sahen nach den Gefallenen. Es versetzte Hamfast einen derben Stich ins Herz, als er die leblosen Körper einiger Elben und Zwerge entdeckte. Ängstlich suchten seine Augen den Platz nach seinen Freunden ab.

 

Dort war Celebrimbor, das Sternenglas erhoben. Gleich in seiner Nähe stand Celeborn wie ein Fels in der Brandung, im Glanz der Phiole und doch von einem inneren Strahlen erhellt, wie es schien. Sein Gesicht war unbewegt. Mit kühler Sachlichkeit gab er Befehle. Einige seiner Krieger formierten sich unter seinen Anweisungen zu mehreren Grüppchen, gerade als Hamfast und sein Begleiter den Platz erreichten.

 

Als wäre ein Blitz in sie hineingefahren, hielten alle Elben und Zwerge inne mit dem, was sie gerade taten und blickten zu ihnen herüber. Für einen Atemzug herrschte absolute Stille. Dann kehrten die meisten nach und nach zu ihrer Arbeit zurück, ohne sich um die Ankömmlinge zu kümmern.

 

Hamfast!“ schrie, nein brüllten zwei überglückliche Stimmen zur gleichen Zeit, und ehe der Angesprochene sich versah, fand er sich in einer festen Umarmung wieder, von der er nicht sagen konnte, welcher der ihn umschlingenden Glieder, zu welchem seiner beiden Freunde gehörte.

 

Taurfaron! Galadhion!“ würgte der fast Erdrückte fröhlich, woraufhin diese schließlich einsahen, daß er ein wenig mehr Luft zum Atmen benötigte.

 

„Geht es dir gut? Wo bist du gewesen?“ fragten die Elben ihn durcheinander.

 

„Ich war gefangen, wißt ihr. Ich steckte in so einem scheußlichen Netz, hoch oben zwischen den Bäumen!“ Hamfast ruderte mit beiden Armen in die Höhe, um seine Worte zu untermalen. Dabei klang er so fröhlich, als hätte er ein ganz wundervolles Abenteuer erlebt.

 

Gerade wollte er fortfahren, von seinen Erlebnissen zu erzählen, als er brüsk unterbrochen wurde.

 

Bis hierher hatte kaum jemand Notiz von dem Menschen genommen, der in Hamfasts Begleitung gekommen war. Sowohl Elben als auch Zwerge hatten gerade Wichtigeres zu tun und keine Zeit, sich mit einem Zweitgeborenen zu befassen, der allem Anschein nach in gutem Einvernehmen mit dem Hobbit stand - wo auch immer er in diesem trostlosen Teil des Waldes auf einmal hergekommen sein mochte.

 

Hamfast schob sich soeben den Hut ein wenig in den Nacken, um besser zu seinen Freunden aufsehen zu können, da drängte sich jemand mit langen Schritten zwischen beiden hindurch und fegte Hamfast mit einem kräftigen Arm zur Seite, geradewegs auf den fremden Menschen zuhaltend.

 

„Ihr?!“ schnaubte Thranduil aufgebracht. „Ihr!“

 

Erneut wurde die allgemeine Aufmerksamkeit eingefangen. Dieses Mal von einem wutschnaubenden Waldelbenkönig und einem unscheinbaren Menschen, der sich im Angesicht der drohenden Gefahr so gelassen gab, als hätte er nichts zu befürchten. Unverbindlich lächelnd streifte er die Kapuze von seinem Kopf, als wäre es noch nötig, sich seinem Gegenüber zu offenbaren.

 

Hamfast hielt den Atem an. Thranduil wirkte, als würde er sich jeden Moment auf den Mann stürzen, so wie er dastand, den Oberkörper leicht nach vorne gelehnt, die Hände zu Fäusten geballt. Wie eine Raubkatze, bereit, sich auf das Opfer zu stürzen.

 

Dieses gab sich nach wie vor unbeeindruckt. Der Mensch verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf ein wenig schief. Hob gar herausfordernd das Kinn. Oder war es Trotz?

 

„Bevor Ihr mich in der Luft zerreißt, oh ehrwürdiger König des nördlichen Düsterwaldes“, begann er spöttelnd, „seid Ihr vielleicht an einer Information interessiert, die...“

 

„Mich interessiert überhaupt nichts, was Ihr zu sagen habt! Ihr...!“ Thranduil trat noch einen Schritt näher auf den Mann zu. Dieser wich keinen Zentimeter und lächelte noch immer.

 

„Nun, dann findet sich unter den übrigen Anwesenden vielleicht jemand, der...“

 

„Schweigt! Und seht Euch um! Das ist Euer Werk, oder etwa nicht? Wollt Ihr es etwa leugnen?“ Mit einem Griff so schnell, daß keiner der Anwesenden ihn hatte kommen sehen, packte der Waldelbenkönig den Menschen an der Gurgel und hob ihn mit Leichtigkeit in die Höhe, daß seine Füße den Boden verließen, und er einen erstickten Laut von sich gab. Dennoch, und zu Hamfasts größter Verwunderung, wehrte er sich nicht.

 

Dann begriff der Hobbit plötzlich.

 

Wie hatte der Mensch gesagt? „Dazu müssen sie ja erst wissen, daß es einen Ausgang gibt, und wo der sich befindet...“

 

Erst jetzt fiel Hamfast die Formulierung auf.

 

„Die Höhle hat einen Hinterausgang!“, piepste er aufgeregt und zupfte dabei, Aufmerksamkeit heischend, an des Waldelbenkönigs Ärmel. An dem, dessen Hand den Menschen unnachgiebig festhielt. „Und ich glaube, er weiß, wo sich dieser befindet. Ich denke, das ist es, was er Euch mitteilen wollte.“

 

Und an den Mann gewandt fügte er, in beinahe bettelndem Tonfall hinzu: „Das wißt Ihr doch, nicht wahr?!“

 

 

~*~

 

 

 

zurück     weiter

 

 

Hauptseite

 

---