Hamfast der Abenteurer

 

 

 

Die Julfeiertage waren vorüber, und der tiefe Schnee war geschmolzen. Das kleine Bächlein hinter der Sommerhalde war für kurze Zeit zu einem stattlichen Bach angeschwollen, und der Fluß am Unteren Hain war über die Ufer getreten. Er hatte nicht nur das Schmelzwasser des Schnees, sondern auch die zusätzlichen Massen des sonst so unscheinbaren Rinnsals auffangen müssen. Überall im Dorf hatten große Pfützen gestanden. Man hatte gar nicht mehr trockenen Fußes vor die Tür gehen können, bis sich das Wasser nach und nach seinen Weg den Fluß hinab und in den aufgetauten Boden gesucht hatte.

 

In die Natur kam allmählich wieder Leben. Es war eine Freude, dem jungen Grün beim Wachsen zuzusehen! Manche Pflänzchen schauten zwar erst noch zaghaft mit ihren Spitzen durch den schlammigen Boden, und die Tulpen streckten erst ihre geschlossenen Knospen zwischen den Blättern hindurch. Doch Schneekäppchen und Krokusse waren bereits am Verblühen. Die Goldglocken strahlten in kräftigem Gelb, und hin und wieder sproß ein Unkräutchen auf dem Weg vor den Türen, wo es nun gar nicht hingehörte, aber als Bote des Frühlings dennoch freudig begrüßt wurde.

 

Ja, der Frühling hatte Einzug gehalten. Auch wenn die Nächte noch sehr kalt waren, und der häufige Frost die Dorfbewohner bereits früh an den kurzen Abenden in ihre Wohnhöhlen trieb. Dann konnte man wenig später die Schornsteine munter rauchen sehen und durfte sicher sein, daß zumindest bei einem Hobbit das Pfeifchen ebenso munter mitrauchte.

 

Mira räkelte sich auf ihrem Kissen neben dem Kamin. Das letzte Stück Kohle war verglüht, und sie empfand es als unangenehm kühl. Mißmutig rümpfte sie das kleine schwarze Näschen und schnupperte an der Feuerstelle. Immer näher reckte sie sich, als müßte sich dort noch etwas Wärme finden. Aber es fand sich nur Asche. Und diese fand ihren Weg in die vorwitzige Nase. Mira nieste und wendete sich mit einem piepsigen Knurren ab.

 

Hätte sie nicht ohnehin genau gewußt, wo sie ihr Herrchen zu dieser verfrühten Morgenstunde suchen mußte, so hätte sie nur den lauten, wohligen Schnarchtönen folgen brauchen. Hamfast war ein Frühaufsteher. Wenn die übrigen Bewohner des Dorfes noch schlummerten, so war er bereits auf den Beinen, versorgte sein Pony, buk einen Kuchen oder ein Brot und stopfte sich nach einem sehr frühen Frühstück sein erstes Pfeifchen.

 

Mira hatte ihn gelehrt, daß er nicht der frühste aller Frühaufsteher war. Wenn die kleine Hundedame wach wurde, war von der lieben Sonne weit und breit noch nicht der geringste Schimmer zu sehen. Aber wenn Mira wach war, so erwartete sie, daß alle um sie herum es ihr gleich taten. Sie wollte ihr Freßchen, und sie wollte spielen. Mira haßte Langeweile! Und sie hatte entdeckt, daß es ihr Herrchen nicht lange im Bett aushielt, wenn sie ihn nur nachdrücklich zum Aufstehen ermunterte.

 

Ihr erster Angriff galt wie immer der dicken wollenen Decke. Sie hing einladend über den Bettrand und befand sich nur wenige Zentimeter über ihrer Schnauze. Beherzt biß sie zu und zog daran mit aller Kraft. Doch Hamfast hatte diesen Überfall kommen sehen und sich so fest in seine Decke gewickelt, daß Mira nur vier kleine Löcher hineinriß und ansonsten nichts ausrichtete. Aufgeregt wedelte sie mit dem Schwänzchen. Wenn sie erst größer war, dann würde die Decke nachgeben! Sehnsüchtig blickte sie an ihr hinauf.

 

Hamfast hatte sein Schnarchen unterbrochen, drehte sich auf die andere Seite und zog dabei bewußt das überhängende Deckenstück ganz hinauf.

„Geh wieder schlafen, Mira! Ist noch viel zu früh!“ nuschelte er müde, gähnte lautstark und kuschelte sich grummelnd in sein Kissen.

 

Mira kläffte dreimal kurz. Das mochte ihr Herrchen überhaupt nicht, und auf sein tadelndes Murren hütete sie sich sehr, ihr Stimmchen erneut zu erheben. Sie wollte ihn zum Aufstehen bringen, nicht ihn verärgern.

 

Suchend blickte Mira sich um. Sie wollte auf das Bett. War ihr dies erst gelungen, hatte sie so gut wie gewonnen. Sie würde ihm so lange die Nase lecken, bis sie ganz feucht war, und Hamfast mit einem ergebenen Lachen nachgab. Aber es war gar nicht so einfach, da hinauf zu kommen. Zum Hochspringen war sie noch zu klein und alles, was dem Hündchen als Aufstieghilfe hätte dienen können, hatte Hamfast sorgfältig weggeräumt.

 

Da, am Fußende des Bettes erblickte sie ein unförmiges klobiges Etwas auf dem Boden. Mira hopste aufgeregt in die Luft. Ihre flauschigen Schlappohren hüpften dabei auf und nieder und untermalten ihre Freude. Mit einem kleinen Anlauf landete das Hündchen oben, mitten auf dem Etwas, jaulte triumphierend und winselte gleich darauf unglücklich, als das Etwas unter ihr nachgab und sie im nächsten Moment, und ziemlich unsanft, wieder auf gleicher Höhe mit dem Fußboden zu sitzen kam. Verärgert verbiß sie sich in das Ding, das sie so enttäuscht hatte, schüttelte den Kopf nach rechts und links und riß ein Stück Stoff heraus.

 

Später würde Hamfast seinem alten Hut einen neuen Flicken aufnähen müssen. Es machte nicht wirklich einen Unterschied.

 

Schnüffelnd suchte Mira den Boden ab. Lag denn heute morgen gar nichts herum? Überhaupt nichts? Frustriert fing sie an zu jaulen. Ein klägliches, helles, zerbrechliches Tönchen.

 

„Ruhe Mira!“ stöhnte Hamfast gähnend. Mira hörte, wie er sich das Kissen über den Kopf stülpte.

 

Eine Weile war es still im Raum. So still, daß man Hamfasts gleichmäßiges Atmen unter dem Federkissen hervor hören konnte und das leise Patschen von Miras Pfoten auf den blanken Holzdielen.

 

Als es energisch gegen die Haustür pochte, fuhren beide gleichermaßen erschrocken zusammen.

 

„Hamfast Gerstenbräu, mach sofort die Tür auf!“ polterte es verhalten von draußen, und da es dem frühen Gast nicht schnell genug ging, half er sich einfach selbst herein. Schließlich sperrte hier niemand die Türen zu, auch wenn viele zu diesem Zweck einen Riegel hatten. Es galt als äußerst unhöflich, sich selbst herein zu bitten. Aber das kümmerte diesen Besucher überhaupt nicht.

 

„Na? Macht hier vielleicht mal jemand Licht? Es ist so dunkel hier drin wie in einem Mauseloch!“

 

„Berelia?“ Hamfast hatte sich wieder gefaßt. Er klang sehr müde und gähnte hörbar. „Warte. Bleib wo du bist, sonst stolperst du noch über den Tisch oder einen Stuhl.“

 

Hurtig kletterte er aus seinem Bett, huschte hinüber in die Wohnstube und fand zielsicher die Laterne auf dem Eßtisch. Es dauerte einige Sekunden bis er sie mit seiner Zunderbüchse angesteckt hatte, und ein schwaches Licht erhellte den Raum, so schwach, als wäre das Feuer noch genauso verschlafen wie der, der es zu so früher Stunde gerufen hatte.

 

„Na endlich!“ Berelia bückte sich und setzte ein aufgeregt zappelndes Bündel ab. Kaum spürte der kleine Huan Boden unter den Füßen, schoß er davon und begrüßte überschwenglich sein Schwesterlein. Kurz darauf tobten die beiden Hündchen ausgelassen durch die Wohnhöhle.

 

Berelia beobachtete sie eine Weile lächelnd, dann setzte sie ein strenges Gesicht auf.

„Willst du den ganzen Tag verschlafen?“ fragte sie vorwurfsvoll.

 

Hamfast gähnte. „Welchen Tag? Es ist noch nicht einmal Morgen...“

 

„Ach, papperlapapp! Ich koche uns jetzt erst einmal einen Tee!“ verkündete Berelia geschäftig und machte sich sogleich an die Arbeit.

 

Hamfast kratzte sich hinterm Ohr und runzelte die Stirn. Das war doch eigentlich seine Aufgabe. Schließlich war er hier zuhause. Doch Berelia war bereits dabei, Holzscheite im Ofen aufzusetzen, und der Hausherr war noch viel zu verschlafen, um die passenden Worte zu finden, sie davon abzuhalten. Er gähnte erneut und setzte sich an den Eßtisch.

 

„Der kleine Huan hat gestern schon wieder meine Hühner gejagt!“ erzählte Berelia mit schnarrender Stimme aber einem vergnügten Funkeln in den Augen. Sie sah sich nach dem Teekessel um. Er stand noch vom Vorabend auf dem Tisch. Berelia hob den Deckel an, schnupperte ungnädig an dem abgestandenen Rest, goß ihn in einen Blumenstock und hielt den leeren Kessel Hamfast unter die Nase.

 

„Wasser!“ kommandierte sie mit einer scheuchenden Handbewegung.

 

„Ist draußen im Brunnen“, erklärte Hamfast, räkelte sich wohlig und machte keine Anstalten, sich zu erheben.

 

Berelia zog drohend die Augenbrauen zusammen. Dabei tippte sie ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden.

 

„Schon gut, schon gut!“ Hamfast hob kapitulierend die Hände. „Ich bin wach!“ erklärte er mit einer Stimme, die ihn Lügen strafte, und schlurfte mit dem Teekessel hinaus in die Dunkelheit.

 

„Wurde auch langsam Zeit!“ murmelte Berelia abwesend und sah sich nach dem passenden Geschirr um.

 

Bald darauf saßen die beiden sich gegenüber an dem robusten Eichentisch. So richtig wach war der junge Mann noch immer nicht. Obwohl es nicht seine Art war, brauchte er heute morgen doch ungewöhnlich lange, um richtig zu sich zu kommen. Möglicherweise war die rüde Unterbrechung seines Schlummers daran schuld.

 

„Du willst also heute aufbrechen, ja?“ Berelia schob Hamfast die dampfende Tasse hin und griff nach einem Keks. „Hältst an diesem verrückten Vorhaben fest, wie?!“ Mißbilligend schürzte sie die Lippen.

 

„Was ist verrückt daran, wenn ich meine Freunde besuchen will? Es ist Frühling, der Paß ist frei vom Schnee...“

 

„Ach was!“ fiel Berelia ihm unwirsch ins Wort. „Natürlich ist es Verrücktheit! Und gefährlich noch dazu!“

 

Hamfast versteckte ein Gähnen hinter der erhobenen Tasse. „Aber ich habe es doch versprochen“, verteidigte er sich.

 

„Dann mußt du eben vorher denken, bevor du etwas versprichst! So ein Leichtsinn! Reitet dieser Kerl mutterseelenallein in eine Gegend, in der es von Kobolden nur so wimmelt! Weißt du was man sollte? Man sollte dich übers Knie legen! Jawohl!“ Berelia fuchtelte mit ihrem Zeigefinger unter Hamfasts Nase.

 

Hamfast war noch zu müde zum Streiten. Kraftlos stellte er die Teetasse ab und gähnte ein beifälliges „Jawohl!“

 

Berelia zog eine Augenbraue hoch. „Wie? Keine Widerrede?“ erkundigte sie sich skeptisch.

 

„Keine Widerrede!“ gähnte Hamfast noch herzhafter.

 

Es war der alten Dame deutlich anzusehen, daß >keine Widerrede< gar nicht nach ihrem Geschmack war. Sie schnaufte entrüstet durch die weit geöffneten Nasenlöcher, etwa wie ein feuriges Rennpferd, daß sich auf einen Blitzstart vorbereitet hat und jetzt zurück in den Stall geschickt wird.

 

Um ihre Gedanken neu zu sortieren schlürfte sie lautstark ihren Tee und funkelte den kleinen Mann dabei über den Tassenrand lauernd an.

 

Aus dem Nebenzimmer ertönte das spielerische Knurren der beiden Hündchen. Sie hatten sich in die Bettdecke verbissen und zerrten in entgegengesetzten Richtungen daran.

 

„Du wirst sie doch nicht etwa mitnehmen wollen?“ fragte Berelia angriffslustig, überzeugt, einen Anlaß zum Streiten gefunden zu haben.

 

„Wie? Nein, natürlich nicht. Sie wird bei Orgulas bleiben. Er kommt nachher vorbei.“

 

„Aha!“ rief Berelia triumphierend aus.

 

Hamfast hob irritiert die Augenbrauen. „Aha?“

 

„Dachte ich es mir doch! Du bringst den Hund also zu Orgulas! Auf die Idee, mich zu fragen“, bei diesen Worten beugte sie den Oberkörper über dem Tisch ihm zu und tippte mit dem Zeigefinger heftig gegen ihre Brust, „Jawohl, mich! Zu fragen, ob ich ihn nehme, kommst du natürlich nicht!“

 

„Dich?“ staunte Hamfast mit offenem Mund.

 

„Hör gefälligst auf, wie mein Echo zu klingen! Natürlich mich. Wen denn sonst? Die beiden kleinen Kerlchen stecken den ganzen Tag zusammen und machen das Dorf unsicher. Da wäre es doch das Naheliegendste gewesen, die kleine Mira zu mir zu geben! Aber so weit denkt der Herr natürlich nicht! Oder gibt es vielleicht einen anderen Grund, weshalb du mir das Hündchen nicht anvertrauen willst?“ erkundigte sie sich gereizt.

 

Während dieser kurzen Ansprache hatte die resolute Hobbitdame sich Stück für Stück von ihrem Platz erhoben. Jetzt setzte sie sich mit Nachdruck zurück auf den Stuhl, verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte den armen Hamfast mit drohendem Blick.

 

„Natürlich. Ich meine... natürlich nicht!“ verbesserte er schnell seinen Versprecher, als sich ihm gegenüber ein paar dunkle Gewitterwolken zusammenzogen. „Was ich meine ist: Ich wollte dir einfach nicht... zumuten, noch einen zweiten Welpen aufzunehmen“, brachte er die Sache etwas unsicher zuende.

 

„Ach, papperlapapp!“ Berelia schwenkte mit der Rechten einen imaginären Gehstock durch die Luft, weil sie den echten aus unerklärlichen Gründen zuhause vergessen hatte. „Als du mir zum letzten Jul den kleinen Huan geschenkt hast, hattest du weniger Skrupel!“

 

Hamfast lächelte. Er hatte nicht damit gerechnet, wie sehr Berelia das Hündchen in ihr Herz schließen würde.

 

Nebenan schepperte etwas.

 

„Das war nur der Nachttopf“ erkannte Berelia mit Kennermiene und winkte ihm, sitzen zu bleiben. „Also?“ hakte sie nach.

 

„Hm...“ Hamfast zuckte die Achseln. „Wenn du es durchaus so willst, dann mußt du das mit Orgulas abmachen.“

 

„Ich will es so, also ist es abgemacht!“ Zufrieden mit dem Ergebnis dieses Streitpunkts widmete Berelia sich wieder ihrem Tee.

 

Doch lange konnte die kauzige Alte den Frieden nicht ertragen. „Dann wird es dieses Jahr also wieder nichts mit deinem Kräutergarten!“ knurrte sie und bemühte sich erst gar nicht, den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme zu mildern.

 

Hamfast zuckte vergnügt die Achseln. „Wozu brauche ich Kräuter, wenn ich nicht hier bin, um sie zu genießen?“ strahlte er sie an, worauf Berelia nur mißvergnügt brummte.

 

„Und was ist mit der Ernte? Du weißt, daß dabei jede Hand gebraucht wird!“

 

„Genau“, stimmte Hamfast ihr zu und machte damit auch diesen Angriff kurzerhand zunichte. „Genau deshalb breche ich heute schon auf, weil ich pünktlich zur Ernte zurück sein will.“

 

„Genau deshalb bricht der Herr heute auf...“ Berelia vermißte schmerzhaft ihren Gehstock, mit dem sie gerne ihre Entrüstung untermalt hätte, und rang verzweifelt die leeren Hände. Und als hätte die Erkenntnis des Mangels an diesem Werkzeug der Bekräftigung ihre Kreativität zerstört, ließ sie von weiteren Versuchen den morgendlichen Frieden zu stören ab.

 

Hamfast sorgte nun zunächst für ein reichhaltiges Frühstück, dem sie sich beide hingebungsvoll widmeten, und sie plauderten während dieser angenehmsten aller Beschäftigungen in seltener Einträchtigkeit bis der Morgen graute.

 

Als die Sonne über den Hügeln aufging, hatte Hamfast die Wohnung aufgeräumt und seinen Rucksack gepackt. Sein treues Pony Bôr war gefüttert und getränkt, gestriegelt und gesattelt, die beiden Hündchen hatten ihre erste Mahlzeit erhalten und eine Brieftaube war auf dem Weg nach Osten. Seine drei dicken Freunde waren auf einen kurzen Abschiedsimbiß vorbeigekommen, und Orgulas hatte es besser gewußt, als sich mit Berelia über den Verbleib der kleinen Mira zu streiten. Jetzt stand er mit Doderic und Hildifons am Gartenzaun, und sie winkten dem jungen Abenteurer mit ihren Taschentüchern hinterher. Menegilda war aus der gegenüberliegenden Wohnhöhle getreten und rief ihm eine >Gute Reise< zu. Von der geschäftigen Stimmung angelockt, kamen überall Hobbits aus ihren Löchern um dem Fortreitenden ihre besten Wünsche mit auf den Weg zu geben. Hamfast winkte und grüßte artig nach allen Seiten und schwenkte seinen großen Hut mit dem neuen Flicken durch die Luft. Dann war er aus dem Dorf hinaus und die Rufe verklangen hinter ihm wie ein Flüstern im Wind.

 

 

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